Sophus Bauditz
Wildmoorprinzeß
Sophus Bauditz

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9

Hjortholm erwacht. Aus den Wogen des Kattegatts hat sich die Sonne strahlend erhoben und scheint auf die braungrauen Flächen des Wildmoors herab, bald ist sie über die schwarzen Nonnenhügel gestiegen, hat die grauweißen Morgennebel vom See heruntergefegt, hat die Lindenalleen des Schloßparks erhellt und will nun scheinbar die kupferne Spitze des Turmes in flammendes Gold verwandeln. Der Hahn kräht, und die Enten schnattern, in der Meierei rasseln die Eimer, und aus den Ställen erschallt das Geklapper der hölzernen Schuhe. Von der Pumpe her ertönt das Kreischen des Brunnenschwengels, regelmäßig wie der Gang des Stempels in einer Dampfmaschine: die Fenster und Türen werden geöffnet, Tante Rosa macht ihre Morgenrunde. Sie ist überall, und nachdem die Knechte und Mägde ihre regelmäßige Portion Schelte erhalten haben, geht sie über den Damm auf der östlichen Seite in den Garten hinein.

Das Gras steht steif und dicht auf den Rasenplätzen, das Unkraut breitet sich in den Gängen aus. Einen Schwarm gieriger Stare scheucht sie von einem Kirschbaum auf; die Vögel fliegen in die alten Weiden und warten dort den Augenblick ab, wo sie wieder zurückkehren können. Die große Lindenallee schreitet sie hinab, von einer Terrasse zur andern, zwischen den Buchsbaumhecken, wo sich eine Natternfamilie auf dem steifen Laub zwischen den Sandsteinoasen und den halbverwitterten Postamenten sonnt.

Am See, wo der Gang in verschlissenen Marmorstufen endet, die in das Wasser hinabreichen, setzt sie sich auf die Bank, nimmt das Strickzeug zur Hand und schaut zuweilen auf.

Leichte, springende Schritte werden von oben her hörbar, zwischen den Lindenstämmen schimmert etwas Weißes – Fanny kommt gelaufen.

Guten Morgen, Tante Rosa!

Aber, mein Kind – schon so früh auf!

Ja, ich konnte nicht länger schlafen, es ist auch herrlich, so früh aufzustehen – in Zukunft will ich immer um diese Zeit aufstehen – immer.

Und was willst du dann anfangen?

Ich will zum Baden reiten – das ist wahr, Tante Rosa, wann glaubst du wohl, daß Fritz den Sattel aus Kopenhagen schicken wird? Der Bruder schrieb im letzten Briefe gar nichts davon.

Tante Rosas Stricknadeln arbeiten schneller, und sie sieht nicht auf, während sie antwortet: Er hat es gewiß vergessen!

Vergessen! Wie kann er dies nur vergessen! Und du hast ihm doch das Geld dafür geschickt – nicht wahr?

Ja, aber er muß es doch wohl vergessen haben.

Fanny sieht sehr niedergeschlagen aus, und nach einer Weile sagt sie: Mein alter Sattel ist ganz fürchterlich, Tante Rosa – ich schämte mich neulich geradezu, als ich Graf Christian im Walde begegnete.

Du sollst einen neuen Sattel haben, Kind, erklärt Tante Rosa. Morgen am Tage bestelle ich dir einen in der Stadt.

Ach, liebe Tante Rosa! ruft Fanny aus, wirft sich der Alten um den Hals und drückt und küßt sie, so daß sie das Strickzeug fallen läßt.

Donnerstag sind wir zum Diner in Skovsgaard, sagt Tante Rosa, nachdem sie sich sanft aus Fannys Umarmung gelöst hat. Dann wirst du also mit Graf Christian zusammen sein.

Ja, das werde ich wohl!

Stoß ihn nicht von dir, Fanny! Du weißt, er ist –

Linkisch und borniert.

Er ist ein Ehrenmann wie sein Vater.

Brav ist er, ja – er macht sich brillant zu Pferde!

Nun, das gibst du doch zu!

Ja, wir sind doch keine Zentauren und können doch nicht zu Pferde getraut werden!

Verschone mich, bitte, mit deinen unpassenden Redensarten! ruft Tante Rosa. – Denk' und rede doch endlich einmal ernsthaft – welcher Zukunft gehst du entgegen, wenn du dich nicht verheiratest! Dir blüht das Los einer armen, alten Jungfer. Und Graf Christian ist in dich verliebt, der alte Graf hat nichts gegen die Partie – sonst würde Graf Christian es sich niemals erlaubt haben, sich in dich zu verlieben –, und als seiner Gattin harrt deiner ein standesgemäßes Leben und ein sorgenloses Glück.

Glück, wiederholt Fanny ironisch. Erstens habe ich gar kein Talent zur Liebe, Tante Rosa – und zweitens sind alle Ehen unglücklich. Waren mein Vater und meine Mutter etwa glücklich?

Nein, aber deswegen –

Da kannst du selber sehen! Ihr verheimlicht mir alle etwas! Alle Menschen gehen umher und haben etwas zu verheimlichen – ich habe nicht einmal ein Bild von meiner Mutter! Und weshalb hat mich der Vater nichts gelehrt, solange er lebte?

Er hat dich doch reiten gelehrt!

Ja, das ist wahr, das hat er getan! – Ach, wie brillant der Vater zu Pferde aussah, das weiß ich noch ganz deutlich. Aber der Mutter entsinne ich mich gar nicht mehr – ich sehe ihr ja ähnlich?

Ja, sehr!

Ach, ihr verheimlicht mir alle etwas. Sogar Onkel Heinrich ist darauf abgerichtet, nichts mehr zu wissen! Es ist, als ob die Mutter niemals existiert habe. Du fürchtest dich geradezu, sie zu nennen – ja, das tust du, Tante Rosa! Du bist beinahe ebenso bange vor der Mutter wie vor Bro! Der ist nun übrigens der einzige Mensch, vor dem ich bange bin, obwohl er immer so katzenfreundlich gegen mich ist – pfui!

Und Fanny schüttelte sich beim Gedanken an Bro, wie man es nach einem kalten Bade tut, und dann verfällt sie in ein tiefes Sinnen und starrt träumend auf den See hinaus. Fannys Rede macht Tante Rosa stets bekümmert, was sie auch sagen mag, wenn Fanny aber in Gedanken versinkt, von denen niemand weiß, wohin sie schweifen, da wird Tante Rosa ganz ängstlich, und mit einem: Woran denkst du? ruft sie sie zur Wirklichkeit zurück. Tante Rosa aber ist beruhigt, als Fanny, ohne sich zu besinnen, antwortet:

Siehst du die Stufen, die sich in dem klaren, blaugrünen Wasser verlieren! Jetzt zieht ein Schwarm kleiner Fische über die unterste! Oft, wenn ich hier sitze, denke ich, daß ich in einem venezianischen Palast sei; der See ist der Canal grande, und von der Landzunge her kommt eine Gondel mit sammetgekleideten Nobili herübergerudert und landet an der Marmortreppe. Ach, weshalb ist auch das Leben so arm und leer! – Ach, wie geht es nur zu, Tante Rosa, daß es in alten Zeiten so viel leichter war, zu sterben? Damals versammelte die Hausfrau Mann und Kinder und Gesinde um ihr Bett, nahm Abschied von allen, sang ein geistliches Lied mit dem Pfarrer, wandte dann den Kopf der Wand zu und verschied. Hatte denn das Leben damals weniger Wert als jetzt, Tante Rosa?

Nein, aber man war von Kindesbeinen mit dem Gedanken aufgewachsen, daß das Leben weder das einzige noch das höchste Gut sei, daß es etwas gebe, was man abliefern müsse, wenn unser Herr und König es verlange. Man hatte, mit einem Wort, mehr Glauben, mein Kind!

Weshalb hast du nicht dafür gesorgt, mir mehr Glauben zu geben, Tante Rosa?

Mein Gott, liebste Fanny, ich hab' wohl selber nicht mehr gehabt, als ich für meinen kleinen Haushalt bedurfte; da hatte ich denn nichts abzugeben.

Es war doch etwas Schönes mit diesen alten Zeiten, Tante Rosa! Hätte ich damals gelebt, so wär' ich jetzt Nonne drüben im Kloster, trüge ein schwarzes Kleid und weißes Leinen – so weiß, so weiß – und kniete auf den harten, kalten Kirchenfliesen und schaute durch das vergitterte Turmfenster nach dem Wildmoor und dem Meer hinüber!

Den Teufel auch! Du eine Nonne! ruft Tante Rosa mit der Kraft der Überzeugung. Du wärst mit einem edeln Ritter verheiratet gewesen und Mutter von vier, fünf Kindern, die du alle selber nährtest!

Pfui, Kinder! Viele Kinder – das ist so unschön, so brutal!

Unsinn!

Und Fanny ist wieder im Begriff, in Gedanken zu versinken, diesmal aber unterbricht sie sich selber, und sie sagt: Bist du ganz sicher, Tante Rosa, daß ich nicht einstmals da drüben im Kloster Nonne gewesen bin? Es liegt stets etwas, was man nicht sieht, hinter dem, was man sieht, hinter dem See liegen die Nonnenhügel, und hinter den Nonnenhügeln liegt das Wildmoor; dann kommt das Meer, und dahinter liegt wieder etwas – man kann bis ins Endlose zurückgehen – oder vorwärts – es gibt niemals eine Grenze, die die letzte ist. Ist es dir nicht oft, als erinnertest du dich eines gewissen Etwas, das du nie erlebt hast, das vor dem Gedanken flieht, das aber doch –

Unsinn!

Nein, es ist kein Unsinn! Die größten Geister der Jetztzeit, Männer und Frauen, haben sich zur Theosophie bekannt, huldigen der Lehre von einer Präexistenz und –

Ich halte mich an Luthers Kleinen Katechismus – darauf bin ich konfirmiert. Du aber solltest noch einmal konfirmiert werden und wieder von vorn anfangen!

Ja, von vorn anfangen! wiederholt Fanny ernsthaft. Wenn man das könnte – eine andre werden und doch man selber bleiben – das Gewand abstreifen, wie es die Prinzessinnen tun, sich frei machen von dem, was du Wildmoorblut nennst, und das Leben von vorn wieder beginnen mit neuem Glauben und neuer Hoffnung – aber das kann man nicht, Tante Rosa, das kann man nicht!

Trink du einen ganzen Monat hindurch jeden Abend vorm Zubettgehen zwei Tassen starken Fliedertee, dann wirst du schon eine gute Portion von deiner Gottlosigkeit und von deinem Aberglauben ausschwitzen! antwortet Tante Rosa, und damit geht sie.


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