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VII.

Wir wollen Hugo auf seiner Reise über Chur nach München nicht begleiten; denn was ihm auf derselben begegnete, möchte den sehr verehrten Leser wenig interessiren. Auch wollen wir uns nicht mit ihm in München aufhalten, denn was sich dort während der wenigen Tage seines Verweilens zutrug, brauchen wir dem einsichtsvollen Leser nicht zu sagen. Dieser erräth ohnehin leicht, zu welchen gegenseitigen Aufklärungen und gemeinsamen Entschlüssen die Gespräche zwischen Hugo einerseits und Werner, Ida und Madame Altmann anderseits führen müssen.

Eilen wir lieber dem Doctor und seinem Bruder Martin nach, die ohne den mindesten Zeitverlust die weite Strecke vom Engadin nach Hamburg zurückgelegt haben. Der sehr gütige Leser, der uns bis hierher treu geblieben ist, wird uns auch diese letzte Bitte gern gewähren.

Das Verhältniß zwischen dem Doctor und seinem Bruder war, wie wir wissen, nie ein sehr zärtliches, und ihr letztes großes Unternehmen, der an Hugo begangene Betrug, hatte sie einander nicht näher gebracht; im Gegentheil, er hatte ihnen reichlichen Anlaß zu gegenseitigen Reibungen und Zänkereien geboten und ihren tiefwurzelnden Haß noch gesteigert. Man hätte sie mit zwei heißhungerigen Raubthieren vergleichen können, welche die Krallen in eine gemeinschaftlich erjagte Beute tief eingeschlagen haben und über diese hin sich knurrend und zähnefletschend mit grimmigen Blicken messen; jedes für sich fest entschlossen, sich den Antheil des Löwen anzueignen.

Der Doctor hatte nicht gesäumt, den Betrag des Wechsels zu erheben, den ihm Hugo eingehändigt hatte, und eben so wenig hatte Martin gesäumt, nicht nur die Auszahlung der ihm zukommenden Hälfte zu beanspruchen, sondern auch noch einige andere, verjährte Forderungen an seinen Bruder auf's Neue in Anschlag zu bringen. Aber der Doctor hatte, wie wir gleichfalls wissen, die Liquidation an eine Bedingung geknüpft und drang aus zwei Gründen mit eiserner Beharrlichkeit auf die Erfüllung derselben; er wollte sich dadurch des Bruders Beihülfe in einer anderen Angelegenheit sichern und zugleich Zeit gewinnen, um sich wo möglich der Verpflichtung gegen Martin völlig zu entziehen.

Martin durchschaute ihn indeß und war auf seiner Hut. Er wußte, daß der Doctor in andere Händel verwickelt war, und daß einige derselben eine schlimme Wendung zu nehmen drohten. Er wußte, daß dieser alle Ursache habe, gewisse Katastrophen zu fürchten, die ihn mit der Polizei in bedenkliche Conflicte verwickeln und sein längeres Verbleiben in Hamburg in hohem Grade gefahrvoll machen konnten. Ueber Nacht konnte der Doctor seinen Ranzen packen und sich aus dem Staube machen, auch wohl in der Eile vergessen, mit ihm abzurechnen. Dem aufmerksamen Martin waren gewisse Umstände nicht entgangen, die auf derartige Pläne des Doctors schließen ließen. Dieser hatte seit ihrer Rückkehr nach Hamburg eine ungewöhnliche Thätigkeit entfaltet. Sein Haus in Eimsbüttel hatte er plötzlich unter der Hand verkauft, und zwar ohne dem Bruder ein Wort darüber zu sagen. Auch hatte er seine rückständigen Forderungen eingetrieben und alle geschäftlichen Verbindungen aufgehoben, und in den letzten Tagen hatte sich zum öfteren ein Mobilienhändler bei ihm sehen lassen, was vermuthen ließ, daß er sich auch seiner fahrenden Habe zu entäußern strebte.

Martin ließ seinen Bruder nicht ahnen, daß er dies Alles ausgekundschaftet und Verdacht geschöpft habe; denn er wußte, wie vergeblich es sein würde, diesen über seine wahren Absichten auszufragen, oder gar ihn wegen seines geheimen Treibens zur Rede zu stellen. Er war vielmehr darauf bedacht, sich möglichst unwissend zu stellen, um jenen sicher zu machen, das einzige Mittel, auch ferner seine geheimsten Schritte zu erforschen.

Zugleich aber verdoppelte er seine Wachsamkeit, ließ den Doctor so wenig wie möglich aus den Augen, patrouillirte Tag und Nacht in der Nähe seiner Wohnung umher und war namentlich um die Abgangszeit der Bahnzüge und Dampfschiffe auf der Vigilanz. Manchmal wandelte ihm auch wohl die Lust an, kurzen Proceß zu machen und mit Gewalt dem Doctor zu entreißen, was ihm dieser nicht gutwillig geben wollte; aber er bedachte, daß er es mit einem entschlossenen und gefährlichen Gegner zu thun habe, der es lieber zum Aeußersten kommen lassen, als sich einer gewaltsamen Maßregel fügen würde. So entschloß sich denn Martin nach reiflicher Ueberlegung, die seinerseits eingegangenen Bedingungen genau zu erfüllen, dann aber auch keine Stunde länger Geduld zu haben, sondern auf die sofortige Theilung zu bestehen.

Wir wissen, welcher Art diese conditio sine qua non war, und mit welchem schrecklichen Unheil dieselbe die nichts Böses ahnende Louise bedrohte. Den schändlichen Plan hatten die Brüder auf's Genaueste verabredet, und sie waren völlig überzeugt, daß er nicht mißlingen werde. Jetzt war auch der Augenblick herangekommen, da er ausgeführt werden mußte. Schon vier Tage waren seit der Rückkehr der Brüder verflossen. Es war Sonnabend Nachmittag. Aber jeden Sonnabend Nachmittag – das hatte Martin schon längst herausgebracht – pflegte Louise bei ihren Kunden in Hamburg die Arbeit abzuliefern, die sie während der Woche beendigt hatte. Gegen Abend, ziemlich genau zur selben Stunde, kehrte sie dann wieder nach Eimsbüttel zurück. Diesen Umstand wollten sich die beiden Schurken zu Nutze machen. Wir werden sehr bald ihren Plan im Einzelnen kennen lernen; doch die Begebenheiten, die wir noch zu berichten haben, drängen sich in wenig Stunden zusammen, und es ist nothwendig, die getraue Zeitfolge im Auge zu behalten. Daher müssen wir zuvörderst auf einige Minuten unsichtbare Zeugen dessen sein, was sich in der Wohnung des Doctors zuträgt.

Wir finden ihn gerade jetzt sehr beschäftigt. Er ist so eben von einem kurzen Besuch bei seinem in dem unteren Stockwerke wohnenden Hauswirthe, dem er die Miethe für das laufende halbe Jahr bezahlt hat, in sein Zimmer zurückgekehrt. Hier sieht es ein wenig wüst und unordentlich aus. Zwei Koffer stehen auf Stühlen mitten im Zimmer, und daneben liegt ein Nachtsack. In den letzteren steckt der Doctor noch einige in Papier gewickelte Kleinigkeiten; dann verschließt er ihn, schnallt die Koffer zu und verschließt auch diese.

Zwei Kofferträger warten schon auf der Vordiele. Sie werden jetzt von dem Doctor gerufen, jeder von ihnen wirft mit einem kräftigen Ruck einen der Koffer auf den breiten Rücken, der eine nimmt den Reisesack, der andere eine Hutschachtel und einen Regenschirm; beide empfangen von dem Doctor noch eine kurze Weisung und verlassen das Zimmer.

Mittlerweile hat sich der obenerwähnte Mobilienhändler eingefunden. Er mustert die im Wohn- und Schlafzimmer befindlichen Meubeln, zahlt dem Doctor die Summe, über welche sie schon einig sind, und geht ebenfalls, nachdem er zu erkennen gegeben, daß er gegen Abend die Sachen abholen will, und der Doctor ihm bedeutet hat, sich von dem Wirth den Schlüssel geben zu lassen.

Der Doctor ist jetzt allein. Er öffnet den Schreibpult, nimmt daraus eine große Brieftasche, prüft deren Inhalt und steckt sie in die mit einer Klappe zum Zuknöpfen versehene Brusttasche. Dann zieht er aus einer anderen Schublade ein doppelläufiges Terzerol. Es ist geladen; denn der Doctor untersucht das Pulver in den Pistons und versieht diese mit frischen Zündhütchen, worauf er die Waffe gleichfalls in die Tasche schiebt. Wir sehen, daß Martin nicht Unrecht gehabt hat, wenn er einen plötzlichen Aufbruch des Doctors als nahe bevorstehend argwöhnte; wir sehen auch, daß sich der Doctor auf alle Eventualitäten gefaßt gemacht hat.

Ein letzter Blick in alle Schubladen und Fächer des Schreibpults und der Commode überzeugt ihn, daß er nichts vergessen hat; er ergreift Hut und Stock, verläßt das Zimmer und verschließt es. Wir eilen ihm voraus, um uns ein wenig auf dem Schauplatze zu orientiren, auf welchem die folgenden Scenen spielen.

Ungefähr in der Mitte zwischen den oft erwähnten Ortschaften Eimsbüttel und Ottensen liegen zu beiden Seiten eines schmalen Feldweges einzelne, zerstreute Landhäuser. Die Bewohner derselben, stille friedliebende Leute, meist Wittwen und pensionirte Beamte, die sich von dem Getümmel der Welt zurückgezogen haben, können sich rühmen, ihr Leben in einer wahrhaft ländlichen Ruhe und Abgeschiedenheit zu verbringen; denn der Erdenwinkel, den sie sich auserkoren haben, wird nur selten von anderen menschlichen Wesen besucht. Nur Bauerweiber, die Eier und Gemüse zur Stadt tragen, oder einzelne der Gegend unkundige Spaziergänger, die sich hierher verirrt haben, wo die Natur wenig Ersprießliches bietet, sieht man hin und wieder des Weges kommen.

Wenn wir übrigens sagten, daß die Bewohner dieser Landhäuser stille, friedliebende Leute sind, so gilt doch auch hier der Ausspruch: keine Regel ohne Ausnahme; denn eines derselben, und zwar bei weitem das größte und schönste von allen, das um einige hundert Schritte abwärts vom Wege in Mitten eines weitläufigen, prächtigen Gartens liegt, wird von einer Frau bewohnt, die sich nur in der Absicht hierher zurückgezogen zu haben scheint, ihr sehr abenteuerliches und geräuschvolles Treiben den Blicken aller Neugierigen zu entziehen. Madame Dorville, so nennt sich die Wittwe – denn für eine solche giebt sie sich aus – täuscht sich indeß, wenn sie glaubt, diesen Zweck ganz erreicht zu haben. Ihre Nachbarn sind gerade so neugierig und geneigt, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen, wie alle anderen Menschenkinder, und die gute Frau ist der Gegenstand ihrer Besprechungen, Vermuthungen und Schmähreden, so oft sich unter ihnen die Gelegenheit zu einem kleinen »Tratsch« bietet.

Der Neid der guten Nachbarn spielt hierbei eine große Rolle; denn Madame Dorville entfaltet, wie diese betheuern, in ihrem Hause einen wahrhaft märchenhaften Luxus, und sie können sich nicht genug erzählen von den großen Trümeaux und prachtvollen Lüstres, den herrlichen Gemälden und kostbaren Uhren, den Brüsseler Teppichen und seidendamastnen Vorhängen, dem chinesischen und japanischen Porcellan, kurz all' den reichen Prunkgegenständen, womit die Zimmer so verschwenderisch ausgestattet sind.

Besonders hat die nächste Nachbarin, die Mietherin eines dem erwähnten schräg gegenüber, jenseits des Weges gelegenen Häuschens, gar viel über das geheimnißvolle, nächtliche Treiben bei der Dorville zu erzählen; und in der That, wenn man nur die Hälfte von dem glauben darf, was Madame Jordan hierüber berichtet, so muß sich allerdings gar Sonderbares dort zutragen. Elegante Equipagen, so erzählt die mittheilsame Madame Jordan, sieht sie nicht selten Abends nach Dunkelwerden ankommen und vor dem Gartenthore halten. Herren und reich gekleidete Damen steigen aus und begeben sich in das Haus, während goldgalonirte Bedienten sich in den Gartenanlagen umhertreiben. Ein verworrenes Getöse von Musik, Gesang und Gelächter dringt, trotz des beträchtlichen Abstandes, durch die Stille der Nacht bis zu ihr hinüber. Halbe und ganze Nächte hindurch geht das so fort und stört den Schlaf der würdigen Madame Jordan. Gegen Morgen aber, manchmal auch erst am hellen Vormittag sieht sie einzelne der nächtlichen Schwärmer durch den Garten und das Hinterpförtchen schleichen und den Fußsteig einschlagen, der weiter unten auf die Straße führt.

Namentlich wenn Madame Pietschmann, die Freundin der Madame Jordan, was nicht selten geschieht, Nachmittags auf einen kleinen »Plausch« und eine Tasse Kaffee kommt, muß meistens Madame Dorville den Unterhaltungsstoff abgeben. Die beiden Frauen nehmen dann am Fenster Platz, von wo sie Alles, besonders das erwähnte Hinterpförtchen, beobachten können, und die französische Abenteurerin, wie die Dorville stets von ihnen genannt wird, würde keine Ursache haben, sich geschmeichelt zu fühlen, wenn sie die Orgien besprechen hörte, die, wie ihre Nachbarin behauptet, fast allnächtlich in ihrem Hause gefeiert werden.

Zu diesem übel berüchtigten Hause begab sich, wie der Leser gewiß schon errathen haben wird, der Doctor, nachdem er seiner eigenen Behausung auf immer Lebewohl gesagt hatte. Er hatte übrigens eine sehr weite Strecke zurückzulegen gehabt, und es war schon ziemlich spät am Nachmittag, als er sein Ziel erreichte.

Er blieb nicht lange bei der Madame Dorville; schon nach wenigen Minuten entfernte er sich, wie er gekommen, durch das Hinterpförtchen des Gartens, bis wohin ihn die Wittwe begleitete. Sie war eine Frau in den dreißiger Jahren, von zarter, eleganter Figur, leicht und graziös in allen ihren Bewegungen. Sie hatte volles, schwarzes Haar, große, lebhafte Augen und regelmäßige, ja, schöne Züge. Ihr Anzug war reich, doch ohne Ueberladung, zwar etwas ausfallend, aber geschmackvoll; und ebenso verrieth ihr Benehmen zwar Eitelkeit und Gefallsucht, zugleich aber auch den feinen, sicheren Takt ihrer Landsmänninnen; mit einem Wort, Madame Dorville war der echte Typus einer einnehmenden coquetten Pariserin.

Behorchen wir das Gespräch dieses Paares, während es durch die dunklen Laubgänge des Gartens geht.

»Wir sind also vollkommen einig, Madame,« sagte der Doctor in französischer Sprache und mit einem Anflug von bitterer Ironie, »Sie nehmen das junge Mädchen unter Ihre liebevolle Obhut, bis ich komme.«

»Ich muß wohl, da Sie so hartnäckig darauf bestehen, Herr Doctor,« erwiederte Madame Dorville achselzuckend und in einem halb unwilligen Tone; dann fuhr sie in einem mehr verbindlichen fort: »und weil ich wünsche, mich Ihnen für so viele gute Dienste erkenntlich zu zeigen.«

»Und weil Sie auf fernere noch größere rechnen, hätten Sie hinzufügen können.«

»Die Sie, Herr Doctor, mit Beiseitesetzung aller Galanterie von meiner Mitwirkung bei diesem Liebeshandel abhängig machen,« sagte die Französin piquirt.

»O, was die Galanterie betrifft, Madame,« entgegnete spöttisch der Doctor, »die haben wir, wie mir scheint, schon längst aus dem Spiel gelassen.«

»Das ist ja nun einmal die Art Ihrer Landsleute.«

»Allerdings, wenn wir uns in gewissen Beziehungen getäuscht finden, Madame – –«

»Der alte Vorwurf.«

»Aber trösten Sie sich, Madame Dorville, jetzt verbindet uns etwas Solideres und Dauerhafteres als die Galanterie, der gegenseitige Vortheil. Sie haben wahrlich nie Ursache gehabt, mit der späteren Gestaltung unseres Verhältnisses unzufrieden zu sein.«

»Bis auf diesen Augenblick, wo ich gezwungen werde, mich einer Grille zu fügen, die mir bei einem Manne von Ihrer Klugheit – nehmen Sie es mir nicht übel – als eine unerklärliche Extravaganz erscheint. Doch streiten wir uns nicht; was ich versprochen, werde ich halten.«

»Dafür bürgt mir Ihre Klugheit.«

»Doch die unangenehmen Folgen, wenn solche etwa daraus entstehen sollten – – –«

»Nehme ich ganz auf mich, Sie wissen es.«

»Ich wünsche in der That auch nicht, mit Ihrer brutalen Polizei in weitere Conflicte zu gerathen. Die letzte Affaire hat einen zu großen Eclat gemacht und kann noch ernste Verwicklungen herbeiführen.«

»Denen ich aber bei Zeiten aus dem Wege gehe,« murmelte der Doctor halblaut in den Bart.

»Sie sagten?«

»Daß glücklicherweise allzu angesehene Personen an dieser Sache betheiligt sind, als daß man nicht jede Untersuchung niederschlagen sollte. Und nun Adieu, Madame Dorville, und befolgen Sie genau die Vorschriften, die ich Ihnen in Betreff der jungen Dame gegeben habe.«

»Diesmal soll die stolze Spröde mir nicht entrinnen,« sagte er frohlockend im Fortgehen bei sich. »Ich werde über ihren Widerstand den Sieg davontragen, und daß ich meinen Triumph in diesem Hause feiere, ist eine doppelte Rache!«

Madame Dorville sah dem Doctor nach, bis er hinter dem Gartenzaune verschwunden war. »Daß dieser Mensch es wagen darf, in einem so befehlshaberischen Tone mit mir zu sprechen,« murmelte sie unwillig vor sich hin. »Ich will mich von seinem lästigen Einfluß befreien, koste es was es wolle!«

Ehe noch der Doctor Schönfeld mit der Wittwe Dorville in den Garten trat, trippelte eine dicke kleine Frau mit stark geröthetem Gesicht dem Hause der Madame Jordan zu. Sie stand öfters stille, um Athem zu schöpfen und sich mit ihrem Taschentuch Kühlung zuzufächeln; dann setzte sie mit großer Eile ihren Gang fort. Endlich erreichte sie den vor dem Häuschen gelegenen Garten, huschte behende zwischen den Blumenbeeten hindurch und sah nickend und grüßend durch das offene Fenster des Erdgeschosses, indem sie sich, wie gänzlich erschöpft, mit beiden Armen auf die Brüstung stützte.

»Sehen Sie, daß ich Wort gehalten habe, liebe Madame Jordan?« rief sie. »Aber halb todt bin ich – puh! ist das 'ne Hitze.«

»So kommen Sie doch herein, Madame Pietschmann,« erwiederte eine lachende Stimme aus dem Hause, und gleich darauf zeigte sich die Bewohnerin desselben, eine ältliche, aber noch sehr lebhafte Frau, am Fenster. »So kommen Sie doch herein, Närrin,« wiederholte sie, »was wollen Sie sich noch draußen in der Sonne braten lassen!«

»Komme schon, komme schon,« stöhnte die Collectrice, »lassen Sie mich nur erst ein wenig verschnaufen. Hier hab' ich auch etwas für Sie mitgebracht, Leckermäulchen.« Sie legte bei diesen Worten ein kleines Paquet auf die Fensterbank.

»O ich errathe, eine Torte zum Kaffee! herrlich, herrlich! Wie Sie doch immer voller Aufmerksamkeiten sind, Sie liebe, gute Madame Pietschmann!«

Madame Pietschmann hatte sich jetzt verschnauft. Sie hüpfte ins Haus, und wenige Minuten später saßen die beiden Frauen, eifrig plaudernd, bei dem dampfenden Kaffee am Fenster.

»Apropos, was macht Ihre Nachbarin, die französische Abenteurerin?« fragte neugierig die Collectrice, nachdem sie den ganzen Vorrath ihrer Stadtneuigkeiten ausgekramt hatte.

»O, von der ließe sich gewiß manches sagen,« entgegnete Madame Jordan, indem sie sich ein mächtiges Stück von der Torte abschnitt, »wenn sie's nicht so meisterlich verstünde, ihr Thun und Treiben in einen undurchdringlichen Schleier zu hüllen.«

»Wo die nur ihren Reichthum her hat, das möcht' ich wahrhaftig wissen. Durch löbliche Mittel ist sie gewiß nicht dazu gekommen. Wer sich ehrlich will ernähren, muß viel flicken und wenig zehren.«

»Es ist wohl überhaupt die Frage, ob sie wirklich so reich ist.«

»Nun freilich, es ist nicht Alles Gold, was glänzt. Aber sie soll ja doch so elegant eingerichtet sein.«

»Ja, was das betrifft! ihre Gemächer sind mit fürstlicher Pracht hergerichtet. Und wie sie sich nun gar selbst herausputzt! Gestern bin ich ihr doch endlich einmal begegnet. Ich war ihr so nahe, wie jetzt Ihnen. Und denken Sie sich nur: ein Kleid von ceriserothem Moirée antique, einen Shawl von weißem Crêpe de Chine, dazu einen weißen Crêpehut mit Federn und Rosenbouquets, goldene Kette, Braceletten, eine französisch aufgedonnerte Frisur – hei, hast du nich gesehen!«

»Na, das gestehe ich; das hohe Spiel, das da jeden Abend getrieben wird, muß doch was Erkleckliches abwerfen.«

»Besonders, wenn es kein ehrliches Spiel ist.«

»Sie denkt wohl: wer gewinnt, der spielt am besten.«

»Ein steinreicher russischer Fürst soll da jeden Abend Bank auflegen.«

»Ei potz Wetter und alle Hagel, ein Fürst?«

»Und die vornehmsten Herren und Damen nehmen daran Theil.«

»Auch Damen?«

»Na, die am allereifrigsten; und wenn sie weiter nichts als das thäten.«

»Nun, was denn sonst noch?«

»O, man munkelt gar manches von gewissen Rendezvous, die sich die vornehme Welt in ihrem Hause giebt.«

»Na, immer besser.«

»Und stellen Sie sich nur vor – – –« Madame Jordan sah sich nach allen Seiten um, als fürchte sie behorcht zu werden, beugte sich zu der Collectrice hinüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Ei du meine Güte!« rief diese, indem sie mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens die Hände über dem Kopf zusammenschlug, »die Senatorin – –«

»Pst!« sagte Madame Jordan und legte ihr die Hand auf den Mund.

»Man sollte die Polizei davon in Kenntniß setzen.«

»O, die weiß Alles, drückt aber ein Auge zu.«

»Ja, weil es die Vornehmen sind, die – – aber – wer kommt denn da aus ihrem Hause?« unterbrach sich die Collectrice und sprang plötzlich von ihrem Stuhl in die Höhe, um sich zum Fenster hinauszulehnen. »Ei, potz Blitz – ist das nicht – o du Allerweltsspitzbube, du! – komm' ich dir endlich auf die Fährte, mein lieber Doctor!«

»Doctor? Welcher Doctor?« fragte eifrig Madame Jordan, die ihren Kopf neben den der Collectrice durch das enge Fenster gezwängt hatte.

»Na, Sie sehen doch den Herrn, der dort drüben den Fußsteig hinabgeht.«

»Und das ist ein Doctor? Den seh' ich ja fast alle Tage hier.«

»So? Nun, ich glaub's; gleich gesinnt macht gute Freunde.«

Der Doctor verfolgte nur auf eine kurze Strecke den Fußsteig und bog dann seitwärts ab, um längs einer hohen, dichten Hecke einem kleinen, nicht fernen Walde zuzuschreiten. Dies war ein Umstand, der in dem ruhelosen Geiste der Collectrice ein maßloses Erstaunen hervorrief; denn was in aller Welt konnte der Doctor drüben im Walde zu suchen haben? Das mußte ausgekundschaftet werden! Im Nu hatte sie einen kleinen Operngucker ergriffen, der auf dem Nippestische der Madame Jordan stand, und sah ihm nach, wie er am Saume des Waldes hin und her ging, bald im Schatten desselben verschwand, bald wieder zum Vorschein kam, hin und wieder stillstand und dann seinen Gang von Neuem begann.

Während Madame Pietschmann in dieser Weise beschäftigt ist und ihrer Freundin wiederholt betheuert, daß sie nicht Susanne Pietschmann heißen wolle, wenn hier nicht etwas ganz Apartes und höchst Merkwürdiges vorgeht, und daß sie gern ihren kleinen Finger darum gebe, wenn sie herausbringen könnte, was der abscheuliche Doctor wohl eigentlich vorhabe – eine Schändlichkeit sei es jedenfalls – während, sagen wir, die Collectrice sich in Muthmaßungen und Schmähreden gegen den Doctor ergeht und hundert Mal in jeder Minute durch den Operngucker sieht, wollen wir uns an einen andern Ort begeben, wo sich gerade jetzt etwas zuträgt, was die Neugierde der Pietschmann in noch weit höherem Grade erregt haben würde, wenn sie es hätte beobachten können.

Der Leser wird sich entsinnen, daß von der großen Fahrstraße, die von Hamburg nach Eimsbüttel führt, ein schmaler Feldweg nach dem Hause abbiegt, in welchem die Familie Lüders wohnt. Gerade an diesem Punkte hielt seit einer halben Stunde eine Droschke.

Der Kutscher auf dem Bock war, überwältigt von der Schwüle des Abends, fest eingeschlafen, und auch das Pferd ließ den Kopf tief herabhangen, als suche es für einen Moment im Schlafe Vergessenheit aller der Mühe und Drangsal, zu der ein Droschkenpferd verdammt ist. Neben dem Wagen aber ging ein Mann auf und ab, der mit großer Ungeduld Jemand zu erwarten schien; denn er hob alle Augenblicke, zum Schutz gegen die schrägfallenden Sonnenstrahlen die Hand über die Augen und übersah in der Richtung nach Hamburg zu die breite, schnurgerade Chaussee.

Der gute Martin – denn Martin war es – schien der Flasche etwas stark zugesprochen zu haben, das bezeugte sein stark geröthetes Gesicht und die grotesken Gesten, die sein halblautes Selbstgespräch begleiteten.

»Ich laure auf ein edles Wild,« declamirte er, »aber verdammt lange läßt es auf sich warten, und ich kann nicht einmal mit Tell sagen:

Auf diese Bank von Stein will ich mich setzen,
Dem Wanderer zur kurzen Ruh' bereitet;

denn es ist hier nichts als der flache Weg, mit seinem reichlichen Staub und Schmutz. – – Sollt' ich mich in den Wagen setzen? – Nein, ich könnte einschlafen, wie die beiden Thiere da, und dann – –« Martin schüttelte den Kopf und streckte mit einer abwehrenden Geberde die Hand gegen den Wagen aus, wie um eine Versuchung von sich fern zu halten.

»Eine erbärmliche Rolle ist's doch,« fuhr er fort, »die ich hier übernommen habe.

Zu meiner Sicherheit, aus Nothwehr thu' ich
Den harten Schritt, den mein Bewußtsein tadelt,

und dabei muß ich noch befürchten, daß der contractbrüchige Director dieser Komödie durchbrennt und mich um Gage und Spielhonorar betrügt. Doch das soll dir nicht gelingen, schnöder Schotte! Weiß ich doch, daß du heute Nachmittag deinen Ranzen gepackt hast, um mir, ehe der nächste Morgen graut, vom Ocean aus zuzurufen: Mylord, fahrt wohl! Auf Wiedersehen in einer anderen Welt! Aber zu kurz wär' der Abschied für die lange Freundschaft! vorerst ein Wort mit Euch, Graf Isolani! und wenn du mir dann nicht hübsch gefügig bist, wehe dir,

                                          die Zeiten
    Der Liebe sind vorbei, der zarten Schonung,
    Und Haß und Reihe kommen an die Reihe!
Doch halt! Seh ich sie da nicht kommen? Ja, ja, sie ist's!
    Welch' edler Anstand, welch' ein holdes Wesen,
    Wie einfach jeder Zug und doch wie auserlesen!
    Unschuld und Grazie gehen ihr zur Seite,
    Und keine Tugend fehlt in dem Geleite!

Und jetzt nimm dich zusammen, erprobter Mime; der Vorhang geht auf, das Stück beginnt.«

Martin hatte sich nicht getäuscht; die Herankommende war in der That Louise. Er ging ihr schnell entgegen, grüßte sie ehrerbietig und fragte sie in einem von seinem gewöhnlichen völlig verschiedenen Tone, in dem er möglichst viel zartes Mitgefühl zu legen suchte, ob er nicht die Ehre habe, mit Fräulein Lüders zu sprechen. Louise schien nicht wenig betroffen über diese Anrede eines ihr fremden Mannes von so auffallendem Aeußern und Benehmen. Sie warf ihm einen ängstlichen Blick zu und wich ihm scheu aus, indem sie seine Frage mit einem kaum hörbaren Ja beantwortete.

»Es thut mir herzlich leid, mein gnädiges Fräulein,« fuhr Martin fort, »Ihnen eine betrübende Botschaft überbringen zu müssen. Ihr Herr Vater ....« er hielt inne, als scheue er sich, das inhaltschwere Wort zu sprechen; Louise aber erblaßte. So viele harte Schicksalsschläge hatten sie in der letzten Zeit betroffen, daß sie, so oft sie eine neue Unglückskunde vernahm, von einer nervösen Schwäche befallen wurde, die sie kaum zu überwinden vermochte.

»Mein Vater?« sagte sie, bebend vor Angst, »o reden Sie, mein Herr, was ist's mit meinem Vater?«

»Erschrecken Sie nur nicht, mein bestes Fräulein, die Gefahr wird wohl nicht so groß sein.«

»Welche Gefahr, mein Herr, was ist geschehen?«

»Nun, Ihr Herr Vater hat den Fuß verrenkt oder gebrochen, so genau weiß ich es selbst nicht – und läßt Sie bitten, sogleich zu ihm zu kommen.«

»O mein Gott!« stammelte Louise und preßte die Hand gegen das Herz. Einen Augenblick wankte sie und schien eine Stütze zu suchen, sich daran zu lehnen; aber sie sammelte sich schnell, als sie sah, daß der Fremde ihr zu Hülfe kommen wollte, und mit den Worten: »Ich danke Ihnen, mein Herr,« wollte sie an ihm vorübereilen. Er aber vertrat ihr den Weg.

»Ihr Herr Vater ist nicht zu Hause, Fräulein,« sagte er, »das Unglück ist ihm auf einem Spaziergange zugestoßen – nicht weit von hier – –«

»Wo, wo? Ich will augenblicklich zu ihm!«

»Wenn Sie sich des Wagens bedienen wollen, mein Fräulein, den Ihr Vater Ihnen schickt, so können Sie in weniger als zehn Minuten in dem Hause sein, in welchem er vorläufig untergebracht ist. Auch Ihre Frau Mutter erwartet Sie dort. Ich werde Sie, wenn Sie's erlauben, dorthin begleiten.«

»Sie sind sehr gütig, mein Herr; nur schnell, ich bitte Sie.«

Sie eilte auf den Wagen zu. Martin hob sie hinein und setzte sich selbst auf den Bock neben den Kutscher.

»Ist denn schon für ärztliche Hülfe gesorgt?« fragte Louise, als der aus dem Schlaf gerüttelte Kutscher sich anschickte, das Pferd anzutreiben.

»Ein Arzt wurde gleich geholt,« war die Antwort.

»Dann nur schnell, mein Herr,« bat Louise, und der Wagen rollte so hurtig, wie das Pferd laufen konnte, dem Hause der Wittwe Dorville zu.

Unterdeß hatte Madame Pietschmann nicht aufgehört, mit dem Opernglase den Doctor Schönfeld zu beobachten, der noch immer in kurzen Zwischenräumen am Saume des Waldes sichtbar war; und die gute Frau war in ihren Muthmaßungen über dieses erstaunliche Phänomen so weit gegangen, wie ihre lebhafte Phantasie reichte, das heißt, bis weit über die Grenzen jeder Möglichkeit hinaus, als ein Ausruf der Madame Jordan ihren Gedanken plötzlich eine andere Richtung gab.

»Da höre ich eine Droschke kommen,« rief nämlich diese, »die wird wohl des Doctors erwartete Schöne bringen.«

Schnell war das Opernglas auf die heranrollende Droschke gerichtet. Diese hielt vor dem Gartenthore der Madame Dorville. Ein Mann sprang vom Bock, öffnete die Wagenthür und half einer jungen Dame beim Aussteigen. Er sprach ein Paar Worte mit ihr und zeigte auf das Haus. Dann eilte er den Weg hinab, während die Dame durch den Garten dem Hause zuschritt.

»Ei du allgütiger Himmel!« rief Madame Pietschmann, »das ist ja – – o du gottloser Schurke, die also willst du in deine schändlichen Netze locken? – Na, warte, Bösewicht!« Und die Collectrice sprang so schnell in die Höhe, daß der kleine Tisch umfiel, und Tassen, Kaffeekanne und Rahmguß in dem Schooße der Madame Jordan verschwanden.

»Aber, mein Gott, was thun Sie doch, Madame Pietschmann!« rief diese erschrocken und halb erzürnt, »Sie überschütten mich ja mit – –«

»Verzeihen Sie, Madame Jordan,« fiel ihr die Collectrice ins Wort, »ist etwas zerbrochen oder verdorben, so bezahle ich's; aber fort muß ich – gleich – wo hab' ich nur meinen Hut? – O du herzliebes, blitzblaues Herrgöttchen von Biberach! – der Schändliche! – Und meine Mantille – o das arme Mädchen – der niederträchtige Verführer – der Skandal – die unglücklichen Eltern!«

»Aber was ist Ihnen denn, Madame Pietschmann?«

»Ich kann es Ihnen jetzt nicht sagen – ein ander Mal – morgen – mein Sonnenschirm – wo ist doch nur mein Sonnenschirm – na, ich nehme den Ihrigen – so – Adieu!«

Mit diesen Worten stürzte Madame Pietschmann aus dem Zimmer und lief, so schnell ihre Füße sie tragen wollten, der Droschke nach, die sich langsam wieder nach Hamburg zu in Bewegung gesetzt hatte. Bald hatte sie dieselbe eingeholt; der noch halb schlaftrunkne Kutscher hielt auf ihre Bitte und ließ sie einsteigen. Sie bezeichnete ihm das Haus des Herrn Lüders und versprach ihm ein reichliches Trinkgeld, wenn er sie in möglichster Eile dorthin bringen wolle. Dieses Versprechen bewirkte, daß der Kutscher seinerseits einige nicht weniger kräftige Ueberredungsmittel anwandte, um sein Pferd zu einer Art von Galopp zu vermögen, der das billige Erstaunen eines jeden Hippologen erregt haben würde, und dahin rollte die im tiefsten Innern empörte und Rache dürstende Collectrice.



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