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III.

Die Bewohner der Villa waren zwei volle Tage in das Haus gebannt gewesen; denn der Gott Pluvius, der launenhafteste der ganzen olympischen Schaar, hatte – nach dem Dafürhalten seines Hausarztes, des Aeskulap, in einem Anfall von Hydromanie – alle Schleusen des Himmels sperrangelweit geöffnet und durch sein gröbstes Sieb herabströmen lassen, was nur immer durch konnte, bis droben im Himmel ein fühlbarer Wassermangel entstand, und Pluvius, dem Gebote der Vernunft und Moral, sowie den ernstlichen Ermahnungen seiner Collegen Gehör gebend, die Schleusen, Siele und Abzugscanäle wieder schloß. Hierbei hätte es der gute Pluvius füglich sollen bewenden lassen, doch hatte er nun einmal seine tückische Laune und hing, dem Helios zum Possen, mit dem er überhaupt nicht auf dem besten Fuße stand, das Himmelssieb zum Trocknen an das große Sonnenthor, wo es am nächsten Morgen Aurora zu ihrem Entsetzen entdeckte und mit den äußersten Spitzen zweier ihrer Rosenfinger herabhob und bei Seite warf. »Pfui Teufel!« rief Helios und spuckte dabei verächtlich aus, »was ist denn das für ein garstiges Hausgeräth?« »Das Sieb des Pluvius,« lispelte Aurora. »Des Plu – – –!« schnaubte der heißköpfige Helios, »na, warte, dem sollen doch gleich die rothglühenden, Schmelzofenhitze und Blitze sprühenden Sonnenstrahlen sein wässeriges Gehirn zu Asche verbrennen!« Und er war schon im Begriff aus dem Sonnenwagen zu springen, als – – – doch, hilf Himmel! – auf welche homerische Abwege verirren wir uns da! Was hier auf Erden geschieht, macht uns in der That genug zu schaffen, und wir brauchen uns wahrlich nicht noch obendrein um das nicht immer feine Treiben der Olympischen zu kümmern. Lassen wir, verehrter Leser, in Gottes Namen die Götter schalten und walten, wie es ihnen gut dünkt, und begeben wir uns lieber in den Gartensalon der Villa, wo wir die gräfliche Familie und ihre beiden Gäste, Hugo und den jungen Baron von Berkheim, bei dem ersten Frühstück treffen.

»Dem Gott Pluvius,« sagte der Graf, als alle um den großen runden Tisch Platz genommen hatten, »dem Gott Pluvius scheint doch endlich das Wasser ausgegangen zu sein, und der Tag verspricht schön zu werden. Ich möchte deshalb einen Vorschlag thun.«

»Ach ja, Papa,« rief Amalie erfreut und stellte die so eben zur Hand genommene Kaffeekanne wieder hin, »einen Vorschlag, aber einen recht großartigen, einem der uns nach dem langen Stubenhocken eine rechte Abwechslung verschafft.«

»Nun, ich hoffe, der meinige wird sich Deiner Beistimmung zu erfreuen haben, carina mia,« entgegnete lachend der Graf. »Der Gottlieb sagt mir nämlich so eben, daß der Wasserfall droben am Kreuzberge eine so ungewöhnlich große Wassermenge führe, wie er es selten oder nie gesehen habe. Wie wäre es, wenn wir einen Ausflug dahin machten?«

»O herrlich, herrlich!« rief Amalie, »dafür soll der Papa auch eine ganz prachtvolle Tasse Kaffee haben.«

Und sie kredenzte mit einem tiefen Knixe dem Grafen eine solche auf einem kleinen silbernen Präsentirteller.

»Mama, was sagst Du dazu,« fuhr sie fort, indem sie sich an die Gräfin wandte, die in einem weichen Fauteuil zurückgelehnt, die Hand vor die Stirn hielt und ungewöhnlich blaß aussah.

»Ich finde den Vorschlag vortrefflich, mein Kind,« sagte mit einer etwas matten Stimme die Gräfin, »nur wird man mich entschuldigen müssen, daß ich an dem Ausfluge keinen Theil nehme.«

»Und warum denn nicht, Mama?«

»Weil ich die Nacht nicht gut geschlafen und deshalb ein wenig Kopfschmerz habe.«

»O, der Kopfschmerz kommt nur von der dumpfigen Stubenluft; draußen im Freien wird er wieder vorübergehen.«

»Nein, liebes Kind, laß mich zu Hause bleiben und der Ruhe pflegen, das wird für mich besser sein.«

»Dann bleib' ich aber bei Dir, Mamachen,« sagte Amalie, indem sie sich liebevoll an die Mutter schmiegte und ihr mit der kleinen weichen Hand über die Stirn strich.

»Nein, meine liebe Amalie,« erwiederte die Gräfin, »das darfst Du nicht. Warum sollte ich Dich einer Freude berauben? Ich habe ja die Resi, mich zu pflegen.«

»Dann wollen wir aber auch die Tour zu Pferde machen und nicht in dem langweiligen Wagen,« sagte das lebhafte Mädchen, durch die Hinweisung auf Resi leicht beruhigt.

»Ei, ei, das wollen wir?« lachte der Graf.

»Das heißt,« verbesserte sich Amalie schnell, »wenn der gnädige Herr Papa und die hohen Gäste es genehmigen.«

»Der gnädige Herr Papa hätte nichts dagegen,« antwortete der Graf, »wenn nur Dein Pony nicht immer noch lahm wäre.«

»Ach, wie ärgerlich,« sagte Amalie und ließ das Lockenköpfchen hangen, »die Lucie hätte doch wahrlich auch was Gescheiteres thun können, als sich den Nagel in den Huf zu treten. Könnten wir ihr nicht etwas unter dem Fuß binden, daß sie recht weich auftritt?«

»Zum Beispiel ein Kopfkissen,« meinte der Graf lachend.

»Oder, weißt Du was, Papa?« rief Amalie. »Ich reite die Lady; ja, ja, so wird's gehen!«

»Die Lady ist aber ein wenig wild, und an den Damensattel nicht gewöhnt,« warf der Graf kopfschüttelnd ein.

»O, die Lady ist meine sehr gute Freundin und wird es sich gewiß als eine besondere Ehre anrechnen, mich zu tragen, und sich fein artig dabei benehmen. Ich habe sie ja auch schon früher geritten, entsinnst Du ich noch, Papa, als wir einmal nach Casaccia hinauf ritten, und dann nach einmal später, als der Onkel Moritz hier war. O herzlieber, allergnädigster Herr Papa,« fuhr sie fort, indem sie dem Vater liebkosend die Wange streichelte, »sei heute einmal recht artig und fügsam. Nicht wahr, es bleibt dabei, ich reite die Lady.«

»Und welches Pferd bestimmst Du denn mir, Schmeichelkätzchen?« sagte der zum Nachgeben schon geneigte Graf. »Den schwarzen Hengst etwa, der so unbändig und hartmäulig ist, daß ich noch in allen Gliedern die traurigen Folgen meines letzten Rittes auf diesem Teufel von Pferd fühle?«

»Du bekommst den Schimmel, Papachen,« entgegnete Amalie, die für Alles Rath wußte, »der Vetter nimmt das eine Wagenpferd, und den Schwarzen soll Herr Falkner haben.«

»Herr Falkner wird Dir für Deine Freundlichkeit Dank wissen.«

Amalie wandte sich mit einem bittenden Blick an Hugo.

»Geben Sie mir nur den Schwarzen, Comtesse Stallmeisterin,« sagte dieser lächelnd, »und wenn seine Seele auch noch schwärzer wäre, als sein Fell. Ihnen zu Gefallen will ich gern jede beliebige vierbeinige Creatur reiten, wenn es nur kein Hippogryph ist, denn bei diesem hört meine Reitkunst auf.«

»Hörst Du, Papa?« rief Amalie. »Herr Falkner macht sich anheischig, jedes in die Naturgeschichte als Vierfüßler bezeichnete Geschöpf, ja, selbst wilde, blutgierige Löwen und bengalische Tiger zu besteigen, wenn es sein müßte. Darf ich klingeln?« fügte sie hinzu, indem sie nach der Thür hüpfte, die Glockenschnur ergriff und, ohne die Antwort abzuwarten, zog. Fast in demselben Augenblick trat der Bediente in's Zimmer und empfing von dem Grafen die nöthigen Befehle.

Eine halbe Stunde später sprengte die kleine Cavalcade über den gepflasterten Hofplatz, die Gräfin aber stand auf der zu beiden Seiten mit herrlichen in Kübeln gepflanzten Staudengewächsen ausgestatteten Freitreppe und winkte unter freundlichem Kopfnicken den oft Zurückgrüßenden mit ihrem Taschentuche. Ihr Blick weilte dabei mit innigem Wohlbehagen auf der schlanken Gestalt der Tochter, die im langen flatternden Reitkleide und dem schwarzen Filzhute, der so keck auf ihren vollen braunen Locken saß, einen gar lieblichen Anblick darbot, einen Anblick, der wohl jedes Mutterauge erfreut haben würde. Wie fest und sicher saß sie nicht im Sattel, wie geschickt wußte sie nicht das graciös courbettirende Pferd zu lenken, wie frisch waren nicht die Rosen ihrer Wangen und wie feurig der Glanz ihrer vor Freude strahlenden Augen!

Das mochten aber auch noch Andere finden, denn der contemplative Haushofmeister vergaß, während er seiner jungen Herrin nachsah, die Prise zur Nase zu führen, die er schon zwischen den Fingern hielt, und auch seine jüngeren Collegen von der Livrée konnten lange nicht ihre Augen von ihr abwenden; dann aber, gleich als ob eine tröstende Stimme in ihrem Innern ihnen zugeflüstert hätte, daß auch sie nicht aller Reize entblößt wären, drehte der Kammerdiener mit einem süßlichen Lächeln seinen gewichsten Schnurrbart in die zierlichsten Pfropfenzieher, die man nur sehen konnte, und Christian ließ seine Finger mit einer affectirt-schwärmerischen Augenverdrehung durch die Locken gleiten und zupfte seine Vatermörder in die Höhe, indem er sich zugleich stolz in die Brust warf. Mamsell Babette aber, das Stubenmädchen, die Küchenmagd und die Hausmagd fuhren, als sie das Stampfen der Hufe auf dem Steinpflaster hörten, mit ihren vier Köpfen so genau a tempo zum schmalen Küchenfenster hinaus, daß ihre Schädel merklich zusammenkrachten, was sie jedoch nicht abhielt, der Comtesse – vielleicht auch den jungen Männern – so lange nachzublicken, als sie dieselben sehen konnten.

Auf keinem der vielen Gesichter jedoch zeigte sich ein so plastischer Ausdruck der ungeheuersten Seelenfreude, wie auf dem bärtigen, wettergebräunten unseres Freundes Jacob. Dieser hatte sich unten am Hofthore postirt und konnte sich, indem er seinen blanken Hut schwenkte, kaum eines lauten »Allohoi!« enthalten, als die junge Reiterin an ihm vorbeigaloppirte und ihm freundlich zunickte.

»Braten lassen will ich mich wie einen Flunder,« murmelte er, ihr nachsehend, vor sich hin, »das heißt erst auf der Steuerbord- und dann auf der Backbordseite, wenn das nicht das flotteste kleine Jüngferchen ist, das meine zwei Augen je gesehen haben. Die und der Capitain – oha! – und dazu ein tüchtiger Dreimaster! – Ei, Delphinen und Meerkatzen! das könnte noch 'ne lustige Segelfahrt durch's Leben werden. – Und dann – später – haha, du alte Theerjacke, könntest du noch – hop, he, hop, hei! – ne, das wär' doch zu possirlich!«

Jacob lachte recht inbrünstiglich in sich hinein und schnalzte mit der Zunge, während er zum grenzenlosen Erstaunen zweier Stallknechte und des Gärtners auf dem linken Fuße umherhüpfte, und mit den Armen gesticulirend, das rechte Knie in die Höhe hob, als stelle er sich im Geiste vor, wie er ein paar kleine Falkner darauf reiten lasse.

Der Morgen war herrlich, Gräser und Sträucher, von dem reichlichen Regen erquickt, prangten im saftigsten Grün, und ein lustiger Chor kleiner, gefiederter Sänger begrüßte mit seinem tausendstimmigen Jubelliede den wiederkehrenden Sonnenschein, als die vier Reiter durch den kräftig duftenden Föhrenwald ritten, der sich längs dem Berghange hinzog. Und nicht nur um sie her war Alles frische, regsame Lebensfülle, nein, auch in ihren Herzen war heute Lust und Freude eingezogen, ja, selbst die muthigen Thiere, die sie trugen, schienen den belebenden Einfluß der Natur zu empfinden; denn sie sogen mit weitgeöffneten Nüstern die frische Morgenluft ein und wieherten freudig in den grünen Wald hinein.

Unter heiteren Gesprächen und Scherzen hatten unsere Freunde eine Stelle im Walde erreicht, wo sich der Weg theilte, indem einer, der breitere Fahrweg, sich in der bisherigen Richtung am Fuße des Berges fortsetzte, während ein schmaler, steiniger und steiler Pfad sich in vielen kurzen Windungen den Berg hinaufschlängelte. Dieser letztere war aber der nächste zum Wasserfall, und schon hatten die Reiter eine kurze Strecke auf demselben zurückgelegt, indem sie auf dem äußerst unebenen und jetzt auch nach von den heftigen Regengüssen tief durchfurchten Pfade nur langsam vorwärts ritten, als ihnen ein alter Mann in der Tracht eines Jägers und mit über der Schulter hangendem Stutzen entgegenkam. Der Mann – es war der Forsthüter des Grafen – trat, als die Reiter sich ihm näherten, zur Seite und zog grüßend seinen breitrandigen, mit einem Gemsbart und zwei Adlerfedern geschmückten Hut.

»Guten Morgen, Liebold, woher des Weges?« rief ihm der Graf, der für seine Untergebenen, so oft er mit ihnen zusammentraf, ein freundliches Wort hatte, entgegen, indem er zugleich sein Pferd parirte.

Der alte Jäger klopfte an seine Jagdtasche, aus welcher die Schwungfedern und gewaltigen Fänge eines Steinadlers hervorragten, und entgegnete mit einem selbstgefälligen Lächeln: »Hab' ihm doch endlich eines aufgebrannt, Herr Graf.«

»Nun, das ist brav, Liebold,« sagte der Graf, » der wenigstens wird uns keine Rebhühner mehr wegholen. Wo hast Du ihn erwischt, Alter?«

»Droben bei der Teufelskanzel,« war die Antwort.

»Alle Wetter, da bist Du heute schon was Tüchtiges herumgeklettert. Nun, grüß Dich Gott, Liebold, und das hätt' ich fast vergessen – komm heute Abend zur Villa hinüber, ich habe mit Dir zu sprechen.«

Der Graf wollte dem Pferde wieder die Sporen geben.

»Mit Verlaub,« sagte aber der Jäger und trat einen Schritt näher an den Grafen heran, »Sie wollen, denk' ich, hinauf zum Rauschefall?«

»Allerdings ist das unsere Absicht, Liebold.«

»Da müssen Sie aber schon den anderen Weg reiten, über den Kaisersberg hinauf; denn auf diesem geht es nimmer.«

»Und warum denn nicht?«

»Weil der Gießbach droben von dem schrecklich vielen Regen so angeschwollen gewesen ist, daß er die Brücke unterhalb des Wasserfalls fortgeschwemmt hat.«

Es wurde nun eine kurze Berathung gepflogen, und da der Weg über den Kaisersberg nicht um sehr vieles weiter war, als der, auf welchem man sich jetzt befand, so beschloß man, umzukehren und jenen einzuschlagen. Aber das Umkehren auf dem sehr schmalen Pfade, der auf der einen Seite von einer tiefen Schlucht, auf der anderen von einer steilen Felswand begrenzt war, hatte seine Schwierigkeiten; und die Pferde, namentlich der schwarze Hengst, den Hugo ritt, und die Lady, hatte die gezwungene Ruhe ungeduldig und unlenksam gemacht.

»Faß doch das Pferd meiner Tochter am Zügel, Liebold,« rief diesem der Graf zu, »es ist heute ein wenig übermüthig.«

Liebold wollte dem Befehle Folge leisten; aber das Pferd wich scheu zur Seite, und bei dem Bestreben, dennoch den Zügel zu erfassen, glitt der alte Mann auf dem lehmigen, vom Regen schlüpfrigen Boden aus und fiel. Unglücklicherweise aber gerieth dadurch das Schloß seines Stutzen mit den an der Felswand wuchernden Brombeersträuchen in Berührung, eine Ranke legte sich um den Hahn und zog ihn auf; aber sie glitt wieder ab, der Hahn schlug auf das Zündhütchen nieder, und in dem Augenblick, als der Jäger dicht neben Amaliens Pferd hinstürzte, krachte der Schuß. Die Kugel schlug gegen die Felswand, prallte zurück und pfiff über die Köpfe der Reiter hin. Die Pferde wurden scheu und sprangen schnaubend rechts und links durcheinander; Lady aber bäumte sich hoch auf, machte einen gewaltigen Satz und sprengte in voller Carriere den Gebirgspfad hinan. Ein Moment genügte den Männern, sich zu überzeugen, daß Amalie die Gewalt über das Pferd gänzlich verloren hatte und sich mit Mühe im Sattel hielt.

»Jesus, die Brücke!« rief der Graf entsetzt, »ihr nach, meine Herren!« Und den Worten die That folgen lassend, gab er seinem Pferde die Sporen und galoppirte von dannen. Es hatte übrigens seiner Aufforderung nicht bedurft, um Hugo und den Baron Berkheim zu bestimmen, gleichfalls in gestreckter Carriere davon zu jagen; und so stürmten denn die drei Reiter in rasender Hast der durchgegangenen Lady nach, unbekümmert um den klaffenden Abgrund zu ihrer Seite, in welchem, fast unter den Hufen der Pferde das losgerissene Gerölle prasselnd hinabstürzte, nicht achtend der großen Steinblöcke und Baumäste, womit der Wolkenbruch den Weg übersäet hatte, blind gegen alle Gefahren, die bei einem solchen Ritte auf einem solchen Wege Roß und Reiter bedrohten. Aber Lady war von den vier Pferden bei weitem der beste Renner, und trotz der unaufhörlichen Anwendung von Sporen und Reitpeitsche vermochten sie doch nicht, ihre Thiere zu einem so schnellen Laufe anzutreiben, als jener, womit diese, behende wie ein Hirsch, mit ihrer leichten Bürde in wilden Sprüngen über jegliches Hinderniß hinwegsetzte. Schon an der nächsten Biegung des Weges war Amalie ihren Blicken entschwunden.

Konnte eines der drei anderen Pferde die flüchtige Lady einholen, so war es, mittelst seiner größeren Kraft und Ausdauer, der feurige Hengst, den Hugo ritt. Und in der That war Hugo bald seinen zwei Begleitern voraus, so weit voraus, daß sie auch ihn aus den Augen verloren. Weißer Schaum bedeckte das edle Thier, Blutstropfen rannen an seinen Weichen hinab, und seine Hufe schlugen Funken aus dem harten Gestein, während es mit vorgestrecktem Halse und dampfenden Nüstern den steilen, holperigen Pfad hinanflog; dennoch aber trieb es sein kühner Reiter zu immer größerer Schnelligkeit an.

Da – endlich! – wo abermals der Weg um einen scharfen Felsvorsprung bog, erblickte er das flatternde Gewand des Mädchens – doch nur einen kurzen Moment, und sie war wieder verschwunden. »Amalie!« rief er in seiner Todesangst, »Amalie!« und wieder bohrte er die Sporen in die Weichen des keuchenden Pferdes, schneller, immer schneller wurde der stürmische Lauf.

Ha! dort, an einem überhangenden Zweige flatterte ihr losgerissener Schleier, und dort, am Abgrunde hing ihr Hut – ängstlich spähte er nach anderen Zeichen, die ihm das vielleicht schon eingetroffene Unglück ankündigen möchten; doch jetzt erblickte er die unglückliche Reiterin selbst, und Gott sei Dank – schon näher! Hier wurde auch der Weg breiter und ebener; auf eine ziemliche Strecke hin lag er in gerader Richtung vor ihm. Jetzt konnte er sie nicht mehr aus den Augen verlieren, hier mußte er sie einholen, oder nie; denn – seine Haare sträubten sich vor Entsetzen – dort war ja schon die zertrümmerte Brücke!

Der Hengst schien von einer nicht minder brennenden Begierde beseelt zu sein, als sein Reiter; in sausender Carriere, mit der Schnelligkeit des Sturmwindes setzte er das rasende Wettrennen fort. Aber schon war Amalie der Brücke ganz nah – unmöglich, sie noch zu retten – der nächste Augenblick schon mußte sie in den schauerlichen Abgrund stürzen! – Der Ruf: »Amalie!« rang sich wieder aus Hugo's beängstigter Brust, ein nie empfundenes Grausen überlief ihn, es dunkelte ihm vor den Augen; denn jetzt – Herr des Himmels! – ihr Pferd machte einen Sprung – ein, wie von der schrecklichsten Todesangst ausgepreßter, gellender Schrei drang an sein Ohr und – doch, Gott sei gepriesen! das flüchtige Thier hatte, obgleich es nur mit den Vorderfüßen einen festen Halt gewonnen hatte, den jenseitigen Rand der Kluft erreicht und arbeitete sich empor – sie war gerettet!

Doch nein, jetzt verlor sie das Gleichgewicht, sie glitt vom Sattel hinunter und hing nun an den scharfen Felszacken des jähen Abgrundes; während ihr Pferd wie durch den ungeheuren Sprung plötzlich zur Besinnung gebracht, ruhig, aber an allen Gliedern zitternd, neben ihr stand. Wie leblos lag das Mädchen da; aber eine einzige noch so geringe Bewegung, und sie konnte hinabstürzen! »Vorwärts!« schrie Hugo und trieb sein fast schon völlig erschöpftes Pferd mit Sporn und Reitpeitsche an, und das wackere Thier gehorchte dem verderbendrohenden Rufe. Ein gewaltiger Satz, ein Sprung auf Leben und Tod, und Hugo war drüben!

Im Nu war er aus dem Sattel, und im nächsten Augenblick war er ihr zur Hülfe geeilt. Es war ein schrecklicher Anblick, der sich ihm darbot, als er sich über den scharfen Felsrand hinabbeugte, das unglückliche Mädchen zu erfassen. Sie war todtenbleich und ihre Züge wie vor Schrecken erstarrt, das aufgelöste Haar hing ihr wirr und zerzaust über Nacken und Schultern, während ein Blutstrom von der Stirn über ihre marmorweißen Wangen herabrann. Den einen Arm hatte sie um einen der schon morschen und halb losgerissenen Brückenpfähle geschlungen. Gab dieser nach, oder verlor sie die Kraft, sich zu halten, so mußte sie unrettbar an der jähen Felswand hinabgleiten und in dem tief unten über scharfe Klippenblöcke wild und ungestüm dahinbrausenden Sturzbach ihren Tod finden. Mit dem Ausdruck der unaussprechlichsten Todesangst sah sie zu ihm empor; aber kein Laut kam über ihre Lippen; als sie sich jedoch von seinem starken Arm erfaßt und gehoben fühlte, wich der starre Blick aus ihren Augen, ein Lächeln zog sich um ihren Mund, und mit dem leisen Ausruf: »Hugo, mein geliebter Hugo!« schlang sie beide Arme um seinen Hals. Dann aber sanken ihre Arme wieder schlaff herab, ihr Kopf fiel schwer auf seine Brust; sie war in Ohnmacht gesunken.

Schnell hatte sie Hugo an eine Stelle getragen, wo am Fuße der Felswand ein grüner Rasen sich hinzog. Hier legte er sie in eine halb sitzende Stellung nieder, so daß ihr Kopf auf einem mit weichem Moos überzogenen Stein ruhte. Er eilte dann in die Schlucht hinab, füllte seinen Hut mit dem eisigkalten Wasser, erklomm wieder mit Gefahr und Mühe den steilen Abhang, kniete neben sie nieder und wusch ihr Stirn und Schläfe. Aengstlich und behutsam untersuchte er die Wunde am Kopf; denn diese hatte am meisten seine Besorgniß erweckt. Zu seiner Freude und Beruhigung fand er sie jedoch unerheblich, und nur langsam quollen noch einige Blutstropfen daraus hervor. Seinen Bemühungen gelang es auch endlich sie aus ihrer Ohnmacht zu erwecken, und bald zeigten ihm leichte Zuckungen ihrer Gesichtsmuskeln und tiefere Athemzüge das Erwachen der Sinne und die Rückkehr des entschwundenen Bewußtseins an. Sie schlug die Augen auf, starrte erst verwundert um sich und schloß sie dann wieder, als sie ihn erkannt und einen Moment mit dem Ausdruck der innigsten Liebe und Dankbarkeit angeblickt hatte.

Noch waren wenige Minuten verflossen, seit Hugo den gefahrvollen Sprung über die Kluft gemacht hatte; aber schon hörte er die donnernden Hufschläge, die ihm die Ankunft des heransprengenden Grafen und seines Begleiters, des Barons, verkündeten. Er fürchtete, daß auch sie bei dem Anblick des noch halb ohnmächtigen Mädchens den Sprung wagen möchten und rief ihnen daher zu, so bald sie nahe genug waren, um seine Stimme zu hören, daß Amalie außer aller Gefahr sei, und sie nur um Gottes willen drüben bleiben möchten, da mit ihren Pferden der Sprung so viel wie der sichere Tod sei. Aber so leicht waren die beiden Männer nicht beruhigt oder von ihrem Vorhaben abzuhalten.

»Wo Sie hinübersetzten, kann ich es wohl auch,« entgegnete der Graf mit vor Angst und Aufregung bebender Stimme, und schon wollten beide ihre Pferde zu dem fürchterlichen Sprunge anspornen; da aber raffte sich Amalie halb empor und streckte abwehrend ihre Arme gegen sie aus.

»Nein, nein, ich flehe Dich an, Papa, thu' es nicht!« rief sie mit matter Stimme und schauderte bei dem Gedanken, ihren Vater über dem gähnenden Abgrunde schweben zu sehen, über welchem sie vor wenigen Augenblicken schwindelnd hing.

»Bist Du verwundet, mein geliebtes Kind?« rief ihr der Graf zu.

Sie schüttelte den Kopf, und Hugo antwortete für sie, daß sie nur eine ganz leichte Verletzung erlitten habe, die zu gar keiner Besorgniß Anlaß gebe.

Es erfolgte nun eine lange Reihe von Fragen, Antworten und Auseinandersetzungen, bis sich endlich Amalie so kräftig fühlte, daß sie mit Hugo's Hülfe aufstehen konnte, um ihren Vater und den kaum minder um sie besorgten Baron zu überzeugen, daß sie mit heilen Gliedmaßen davon gekommen sei. Dann wurden die weiteren Maßregeln besprochen, die jetzt zu ergreifen wären, und man kam zu dem Entschlusse, daß der Graf und sein Neffe zur Villa zurückkehren sollten, um einen Wagen zu holen, mit dem sie auf dem anderen über den Kaisersberg führenden Wege bis dahin gelangen konnten, wo sich Amalie und Hugo befanden.

Amalien aber mochte der Gedanke, mit Hugo so lange allein zu bleiben, eine Beklemmung verursachen, die sie bei früheren Gelegenheiten noch nie empfunden hatte; denn sie bat wiederholt und unter sichtbarer Verwirrung ihren Vater, er möge da bleiben, da ja der Cousin allein den Wagen holen könnte. Der Graf war indeß von der furchtbaren Gemüthserschütterung noch so überwältigt, daß er die Verlegenheit der Tochter gar nicht bemerkte, und beharrte bei seinem Vorsatz, indem er erklärte, daß, wenn er den Vetter nicht begleite, die Mutter, der man den eingetroffenen Unfall doch nicht verheimlichen dürfe, sich gar zu sehr ängstigen würde. Hiergegen ließ sich von Seiten Amaliens kein Einwand erheben, und die beiden Reiter entfernten sich in scharfem Trabe.

»Lassen Sie uns ein wenig auf- und abgehen, Herr Falkner,« bat Amalie, als der Vater an der nächsten scharfen Biegung des Weges ihren Blicken entschwunden war, »ich glaube es wird mir gut thun. Sehen wir doch einmal nach der armen Lady, ob sie so gut davon gekommen ist, wie ich es bin.«

Sie näherte sich dem jetzt ruhig dastehenden Pferde und streichelte ihm den schaumbedeckten Hals.

»Ich sollte Dich eigentlich schelten, Du böses, böses Thier,« sagte sie, »mir einen solchen Streich zu spielen, Du!«

Sie wollte dann weiter gehen, um auch den Schwarzen zu besuchen, der nicht weit davon höchst gelassen weidete, aber ihre Kräfte verließen sie, und sie mußte Hugo bitten, sie wieder nach ihrem früheren Platze zurückzuführen.

Hugo, der, so lange er mit der Comtesse allein war, noch kein Wort gesprochen hatte, und auf dessen Zügen ein Ausdruck des tiefsten Ernstes lag, setzte sich neben sie. Amalie liebte ihn; jetzt war jeder Zweifel gehoben. Die Entscheidung über ihre und seine ganze Zukunft war in seine Hand gegeben, und er durfte nicht zögern, das Wort auszusprechen, das unwiderruflich sie aneinander ketten, oder auf immer trennen mußte; das erkannte er und sein Entschluß war gefaßt. Es entstand eine Pause; denn auch Amalie fand keine Worte mehr, die nur von ihrer Seite geführte Unterhaltung fortzusetzen. Ein tiefes Roth stieg in ihre Wangen, ihre Blicke suchten schüchtern und verschämt den Boden, und in lieblicher Verwirrung zerpflückte sie die Blumen und Gräser, die ihre Hand erreichen konnte. Mochte sie wohl daran denken, wie er sie vor noch wenigen Minuten, tollkühn sein eigenes Leben wagend, der schrecklichen Gefahr entriß und sie, durch ihn dem schönen Leben wiedergegeben, im Uebermaße ihrer Gefühle dem theuren Manne das Geheimniß ihres Herzens verrieth?

»Wollen Sie mir erlauben, Comtesse Amalie,« begann Hugo endlich »Ihnen einige Worte zu sagen, die nur in dieser Stunde gesprochen werden können?«

Amaliens zarte Gestalt erbebte, sie wandte das Köpfchen von ihm ab und senkte es noch tiefer. Er aber ergriff ihre Hand und sprach zu ihr in so weichem, ergreifenden Tone, wie noch nie zuvor; und jedes Wort, das über seine Lippen ging, mochte tief in ihre Seele eindringen; denn die Purpurröthe, die so eben noch ihre schönen Züge bedeckte, wich allmählig der vorherigen Blässe und Thräne auf Thräne rann über ihre Wangen herab. Dann stützte sie den Kopf in die Hand und weinte lange und bitterlich, als wolle ihr das Herz brechen.

Aber noch liebevoller klang seine Stimme, noch zärtlicher wurden seine Worte, bis sie endlich die Augen zu ihm erhob und ihn mit ihrem seelenvollen Blicke und einem unaussprechlich rührenden Ausdruck reiner, kindlicher Hingebung ansah. Sie umschlang wieder mit beiden Armen seinen Hals, legte den Kopf an seine Brust und weinte von Neuem, erst heftig und schluchzend, dann aber immer ruhiger. Noch manches liebevolle Wort flüsterte er ihr zu, indem er sie sanft an sein Herz drückte, und endlich beschwichtigte sich der Sturm in ihrem Inneren so weit, daß sie die Fassung gewann, ihm zu antworten. Dann aber schwiegen beide und saßen noch lange, Hand in Hand neben einander, manchen herzinnigen Blick wechselnd, bis das Rollen des Wagens an ihr Ohr drang.



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