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Der große Fischzug

Ein kleiner Dampfer fährt die Wolga aufwärts nach den großen Fischbänken. Neben der roten Fahne weht ein kleines Banner in den amerikanischen Farben. Auf dieser Barkasse fährt Morton W. Forster von Astrachan wolgaaufwärts. Er ist noch jung, kaum fünfundzwanzig Jahre alt und hat eines der kühlen, sachlichen Amerikagesichter, die das Resultat glücklicher Blutmischungen sind. Vielleicht ist auch ein Tropfen indianisches Blut in ihm, denn seine Familie gehörte zu jenen Pionieren, die von der Küste in das weite Hinterland vorstießen und Pelzjäger, Goldgräber, Farmer, Spekulanten und Händler waren, ehe sie sich in San Franzisco festsetzten, an der anderen Seite des Kontinents, zwanzigtausend Kilometer von der Landung vor zweihundert Jahren.

Forster steht am Verdeck des kleinen Dampfers, vor sich den Filmapparat und dreht Landschaftsbilder. Der Mann ist in schwarzes Leder gekleidet und sieht aus wie ein Chauffeur oder Tschekist. Die Nase springt kühn aus dem Gesicht, das Kinn ist sehr kräftig, die grauen Augen funkeln voller Lebensmut.

»Kohn,« sagt er zu seinem Übersetzer, einem flinken Moskauer Juden. »Wir haben noch sieben Stunden Zeit. Wann kommen wir nach der verdammten Fischerei?«

»In einer Stunde sind wir da.«

»Allright,« sagt Forster und kurbelt weiter.

Die Sonne steht goldklar am Himmel und Forster hat gutes Licht für seine Bilder. Einmal dreht er interessiert ein rundes kirgisisches Nomadenzelt, das sich ganz dicht am Ufer der Wolga aufbaut, ein andermal nimmt er tief im Wasser liegende Petroleumkähne auf, dann ein einsames Fischerdorf und später den Ausblick in die schimmernde Steppe. Unermüdlich steht der Mann auf dem kleinen Schiff, richtet seinen Kasten wie ein Geschütz auf das Wasser und auf das Land und seine Augen strahlen, sein Mund lächelt und die Kurbel knattert, wenn er etwas Neues für seinen Filmstreifen gefunden hat. Am frühen Nachmittag kommt die Barkasse am Blockhaus an. Der große Fischzug hat gestern begonnen. Am frühen Morgen ist Wassilenko mit drei Milizsoldaten aus Astrachan gekommen. Die Männer stehen bei den Mädchen an den Schlachtbänken und reißen Witze. In der Nacht soll der Streifzug nach dem tatarischen Steppendorf beginnen. Wasiliy Sergejwitsch denkt in einer Gefängniszelle über sein Freundschaftsverhältnis mit Take Marculescu nach. Er ist noch nicht vernommen worden, aber in der Stadt hatte er neue Zeitungen kaufen dürfen und darin las er die Verhandlung gegen die Leiter der Staatlichen Fischerei. Diese Lektüre heiterte ihn durchaus nicht auf. Wasiliy Sergejwitsch haßt jetzt ganz Rumänien ...

Bessemer wollte in dieser Nacht mit den Milizsoldaten und Glaserin in die Steppe aufbrechen. Achmeds Frau lockte ihn nicht. Er wollte den Raubfisch Marculescu fangen helfen. Jetzt hatte er sich eine Stunde frei gemacht und das Badehaus heizen lassen. Als Forster ankam, stand er im Badehaus und dampfte wie ein roter Teufel. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, eine dunkle Gestalt wuchs durch den Dunst, das Knattern einer Maschine hob an. »Hallo!« schrie eine helle Stimme durch den Dampf. »Hallo, Bessemer, steh still, ich brauche dich für meinen Film!«

»Der Teufel hole dich, Mann aus Amerika. Mach die Türe zu. Du siehst nichts als einen nackten Menschen. Und das ist doch ›shoking‹ für eure prüden Misses!«

»Das Bild ist für unsere Freunde,« antwortete lachend Forster, »und ich glaube nicht, daß es gelungen ist ... Aber mach dich fertig. Ich muß in sechs Stunden zurück. Morgen früh fahre ich nach Baku.«

Der Amerikaner streckte durch den Dampf seine große Hand und machte sich dann lachend davon. Als Bessemer erschien, stand er mit seinem ewigen Kasten bei den Frauen und Mädchen an den Schlachtbänken. Die drei Milizsoldaten waren wie Kinder und liefen lachend durch die Aufnahmen.

»Bessemer, ich brauche ein schnelles Boot für die Wolga und deine entsetzlich vielen Fische. Kommst du mit?« fragte Forster.

»Natürlich. Aber wollen wir nicht erst Tee trinken?«

»Ich brauche jetzt keinen Tee. Später. Ich brauche jetzt das Licht.«

Nun kam Glaserin aus den Fischkellern und ließ das Motorboot fertig machen. Forster kurbelte erst den ganzen Betrieb, das Blockhaus, die Wohnbaracken, das große Floß, die Fangflottille, die kleinen Fischerboote, die ausgespannten Netze, die tatarischen Arbeiter und die Lagerhallen, und nach einer kleinen Stunde sausten die drei Männer über die Wolga, um das letzte Licht und die bewegte Arbeit der Fischer einzufangen und die Bilder vom Sterben der Fische aufzunehmen, vom Sterben, ja, und vom ewigen Leben.

»Warum singen die Mädchen bei der Arbeit,« wollte der Amerikaner wissen, ehe sie abfuhren. »Die Mädchen singen und die Tataren singen. Ist die Arbeit so lustig? Singen die Fische auch?«

»Nein, die Fische singen nicht. Aber ihr Stummsein ist auch Gesang,« sagte der unbegreifliche Kosak mit ernster Stimme.

Die Explosionen des Motorbootes knallten über den glühenden, stillen Strom. Bald war die »Goldene Grube« erreicht. Bessemer hatte sich einen Plan gemacht, was der Amerikaner alles filmen sollte. Er dachte an Großaufnahmen in das kühle wilde Sterben und Zucken der schimmernden Fischleiber auf dem tödlichen Kahn, auch der kalmückische Tanz sollte festgehalten werden, der wüste Tanz am Saum der Tatarensteppe, Ali durfte in diesem Filmstreifen nicht fehlen und auch nicht der Tatar Achmed, für den sich das Bild der Welt in einem Glase Wodka brach. Ja, es sollte ein bitterer und verzückter Bericht an die Völker werden und vielleicht könnte man auch das Gespräch zwischen ihm und Maxim Petrowitsch über den nackten Menschen sichtbar machen ... Aber dieser Plan zerbrach sich an den Plänen des Amerikaners.

»Ich bin zehntausend Kilometer bis jetzt gereist, Bessemer,« sagte Forster, als der Plan entwickelt war, »und was du mir vorschlägst, ist ein Film für sich. Ein sehr guter Film, old boy, aber ich habe keine Zeit. Morgen früh geht mein Schiff nach Baku ... Das Leben und Sterben der Fische? Allright, das wollen wir nehmen.«

Das Motorboot tanzte nach den Schleppnetzen. Forster stand wie ein Schütze an seinem Maschinengewehr und drehte interessiert das eingezogene Netz, die vielen zuckenden Fische, die ungerührten Tataren, die weißen Zelte im goldenen Abend, den Rand der Steppe, auch Ali wurde gedreht, Achmed kam ins Lichtbild und die wilden Hunde an den Feuern. Auch Bessemer durfte mitspielen und sein Gegenspieler war ein mannsgroßer Wels, der den klugen Kopf todmüde in die klare und tödliche Luft streckte. Auch der flache Kahn mit den zuckenden Fischen, deren Stummsein auch Gesang war, wie Glaserin sagte, wurde gefilmt und das Gesicht Forsters rührte sich kaum, als er das kühle, schimmernde Sterben aufnahm. Er arbeitete mit seinem Kasten, bis das letzte Licht erlosch und nur noch in der Wüste am jenseitigen Ufer blau und lila aufzuckte. Dann saß er mit Bessemer und dem Kosaken an einem Feuer, aß Fischsuppe und ließ sich von Ali mit dünnem Tee bedienen. Als die Dunkelheit aus der Steppe stürzte, fuhren die Männer mit ihrem Boot nach dem Blockhaus.

Im Blockhaus erzählte Forster von seinen Reisen. Vor sieben Wochen war er in Moskau aufgebrochen, nachdem er sich drei Wochen um die Filmkonzession bemüht hatte. Quer durch den Ural bis nach Sibirien war er gekommen und hatte alle Dinge nur mit den bestochenen Augen eines Operateurs gesehen. Er war nichts als Bildberichterstatter und die gewaltigen Ausmaße des Landes erinnerten ihn oft an seine Heimat. Davon erzählte er im Blockhaus, als er mit beiden Backen den kostbaren Kaviar kaute, den der Kosak auf den Tisch gestellt hatte.

»Habt es gut, Fischer an der Wolga,« sagte er endlich. »Sitzt da und die Fische schwimmen euch ins Netz. Ich muß mir meine Fische schon selber suchen. Das verdammte Baku! Bliebe gern noch einen Tag ... Habt ihr Naphtha für meine Barkasse?«

»Wir haben es gut, und wir haben auch Naphtha für deine Barkasse, und in drei Tagen fährt ein neues Schiff,« antwortete Bessemer. »Aber willst du nicht bleiben? Wir fangen diese Nacht einen Raubfisch!«

»Einen Raubfisch?«

»Ja, einen rumänischen!« sagte Bessemer und erzählte von Take Marculescu und dem geplanten Streifzug in die Steppe.

Forster dachte nach.

»Nein,« sagte er endlich. »Ich muß weiter. Meine Konzession läuft ab. Ich muß noch Baku sehen. Ginge gern mit. Aber,« fuhr er fort und schlug auf den Tisch, »das ist ja auch wie Amerika! Banditen und Fischräuber! Goldgruben und Platinlager! Urwälder und Bären! Wölfe und Weizen! Mein Film wird Aufsehen machen. Auch ohne deinen Plan, old boy! Deutscher Emigrant fängt Fische in Wolga! So wirst du über den Broadway rollen ... Im Ural habe ich Platingruben gedreht. In Sibirien Weizenfelder und Urwälder. In Ufa Kinderheime. In Samara Massengräber aus der letzten Hungersnot. In der Steppe Baschkiren, Kalmücken und Kirgisen. In Moskau die rote Fahne über dem Kreml. Bei euch den Fischfang ...«

»Lockt dich auch nicht die große Beluga, Forster?« fragte Charly Moser. »Das ist ein Riesenfisch, ein Stör, den wir in den nächsten Tagen fangen wollen. Ein Mordsvieh!«

»Er lockt schon, aber er verlockt mich nicht,« antwortete der Amerikaner. »Ich habe mal gelesen, daß ein dänischer Dichter Rußland mit einem ungeheuren Wal verglichen hat. Sein Schwanz liegt in den Eismeeren des Nordens. Sein kluger Kopf aber ist uns allen zugewandt.

»Bach allen,« sagte der Kosak und ließ die Augen blitzen. »Über einem Sechstel des Erdballs liegt der große Wal und wartet auf seine Zeit.«

Die Männer versanken in Schweigen. Endlich raffte sich der Amerikaner auf. Das Bild hatte ihn nicht verwirrt. Er stammte ja aus einem jungen Volk und fand hier nur den heftigen Herzschlag gleicher Entwicklungsmöglichkeiten.

»Allright,« sagte er. »Jedes Volk in der Welt wartet auf seine Zeit ... Ich verstehe sehr wenig von den Fischen. Ich glaube kaum, Bessemer, daß die Badehausgeschichte geglückt ist, es war zu trübes Licht in der Stube, aber die anderen Bilder von der Wolga sind gut.«

»Und von Baku? Wohin gehst du dann?« fragte Charly Moser.

»Zurück nach Moskau und von dort über Berlin nach Amerika,« sagte Forster und stand auf. Kohn hatte den Kurbelkasten zusammengepackt. »Und nun lebt wohl, old boys,« fuhr Forster fort und schüttelte den Männern die Hand. »Dank für die Gastfreundschaft, Fischer an der Wolga. Auch mein Fischzug ist noch nicht zu Ende.«

Die Fischer begleiteten ihn bis zu der kleinen Barkasse, auf der neben der roten Fahne das amerikanische Banner wehte. Der Dampfer schrie und schwamm in die Dunkelheit hinaus. Bald war nichts mehr zu sehen als die Signallaterne, ein roter, zuckender Stern in den weißen, flimmernden Sternen des Himmels.

»Farewell,« sagte Bessemer leise und ging mit seinen Freunden in das Blockhaus zurück. Nach zwei Stunden brachen sie auf zu dem Streifzug in die Steppe. Auch Forster schlief in dieser Nacht nicht. Im Morgengrauen kam er in Astrachan an. Das Schiff nach Baku dampfte schon.

Der Streifzug in die Steppe war ein Fehlschlag. Fünf Stunden waren die Männer marschiert, und als sie am Morgen das kleine Dorf erreichten, fanden sie einen Sowjet, dessen tatarischer Vorsitzender bei Allah und Lenin beschwor, niemals einen rumänischen Banditen beherbergt zu haben. Es sei wohl möglich, daß noch tiefer in der Steppe bei den Kirgisen Banditen und Räuber säßen, erklärte der Mann, auch ihnen seien in der letzten Zeit hundert Hammel gestohlen worden, aber bei ihnen? Unmöglich! Ihre Leute seien Fischer an der Wolga und ein Tatar sei kein Dieb und kein Freund von Banditen. Er zeigte ihnen auch alle Hütten, aber er hätte ihnen auch die weite Steppe zeigen können. Von Marculescu war nichts zu sehen …

Das war mitten im großen Fischzug, und als die Männer gegen Mittag die Wolga erreichten, verfluchten sie den nächtlichen Vorstoß in das unbekannte Land. Die drei Soldaten wurden in einer Hütte einquartiert, die Arbeit ging weiter und am Abend kam Wassilenko zu Bessemer und gab Bericht über seine Revision.

»Wir haben die Bücher geprüft,« sagte er, »sie sind in Ordnung, wie Ordnung sein kann, wenn der große Fischzug beginnt. Das faule Fleisch an der Fangstelle Neun haben wir abgeschnitten. Wenn wir noch den verdammten Rumänen bekommen, ist alles in guter Ordnung.«

»Alles in Ordnung!« höhnte Bessemer und dachte an die vergebliche Jagd in der Nacht. »Der Teufel ist in Ordnung! Hat Paulitsch keine Schuld? Wir haben in den Kellern Fische, nichts als Fische. Die hätten im Sommer verkauft werden müssen. Marculescu hat ja das seinige getan, um uns von den Fischen zu befreien! Also wer hat nun die Schuld?«

»Es ist eine unschuldige Schuld,« antwortete Wassilenko. »Wenn danach gemessen werden sollte, müßten alle Leute verhaftet werden, die im Sommer nicht verkauft haben ... Im übrigen ist gestern nacht das Urteil gefällt worden ...«

»Was für ein Urteil? Ist Wasiliy Sergejwitsch schon verurteilt?«

»Nein. Das dauert noch eine Weile. Ich rede von der Staatlichen Fischerei. Der Fangleiter ist erschossen worden. Sein Gehilfe bekam zehn Jahre.«

»Aber der Gehilfe soll doch der Hauptschuldige sein!«

»Das ist richtig, aber er ist nicht Mitglied der Partei ... Ist vielleicht Sergej Paulitsch in der Partei?« fragte zögernd der Russe.

»Ja,« antwortete Bessemer.

»Dann ist es schlecht für ihn. Er hätte sich natürlich um Fangstelle Neun besser kümmern müssen. Nun muß ich die Sache weitergeben. Astrachan soll entscheiden.«

»Moskau hat schon entschieden. Paulitsch wird abberufen.«

»Dann ist es gut, und ich brauche nichts mehr zu tun. Wenn der Fang vorüber ist, laß ihn abfahren,« sagte Wassilenko erleichtert und verabschiedete sich.

»Es ist nicht gut,« dachte er auf dem Weg in sein Haus. »Nein, es ist nicht gut, wenn sich eine Frau zwischen die Arbeit der Männer stellt. Nein, es ist nicht gut.« Er erinnerte sich der ersten Begegnung mit Claudia, an seine Abwehr und flüchtige Berührung und an den leuchtenden Aufstieg in einer einsamen Nacht. Er seufzte. Sein Blut war unruhig. Dann aber dachte er an seinen Auftrag und vergrub sich in die Bücher und Abrechnungen. Der große Fischzug hatte begonnen. Der Himmel blieb klar. In silbernen und gleißenden Kolonnen wanderten die Fische aus dem Kaspischen Meer. Überall wurde gefischt, an der Goldenen Grube, am Schwarzen Loch, an der Fangstelle Neun, an der Roten Bank und am Goldenen Sand. Die kleinen Boote aus den Fischerdörfern tanzten über den Wellen und schleppten ihre Netze nach. Die Tataren spannten sich an die Zugseile, Maxim Petrowitsch brüllte und schrie, die Fische zappelten in den tödlichen Netzen (einmal wurden in einem Netz drei mannsgroße Störe gefangen). Achmed lenkte die Fischbarke und schlug mit stumpfer Keule in das wilde und glitzernde Durcheinander der zuckenden Fischleiber.

Wieder kamen die Kalmücken aus der Steppe und senkten die kleinen Räubernetze in das Wasser. Der Wasserschutz raste die fünfzig Kilometer Fanggebiet ab, aber wenn das Boot kam, verschwanden die Kalmücken, um in der nächsten Stunde wieder über der Wolga zu liegen. Über den glühenden Strom orgelte die Unruhe der Arbeit, der Lärm der plätschernden Jagd und ab und zu das dumpfe Lied tatarischer Fischer. Die Mädchen saßen breithüftig in dem silbernen Schimmer der Fische, stießen die spitzen Messer in die schönen Leiber und sogen den Sterbeduft und den Salzgeruch der nahen Keller mit weiten Nüstern ein. Mit grellen Augen blickten die Mädchen und Frauen an den blutigen Bänken in das letzte Zucken und harte Schnappen der runden Fischmäuler.

Der Kosak Glaserin blähte sich vor Stolz, fluchte mit den Tataren und raste mit seiner Barkasse von einem Fangplatz zum anderen. Er schimpfte mit dem Steuerbeamten, die wieder einmal das Salz pfänden wollten, und schob ihn mit einer kleinen Tonne Heringe ab. Mitten in die große Unruhe des Fanges kam auch Gurow aus der Stadt. Endlich einmal wollte er auch die Fische lebendig sehen, die er seit vielen Jahren verkaufte. Er kam nicht allein. Er brachte einen Käufer namens Mandelbaum aus Odessa mit, einen von der Wucht des Daseins scheinbar erdrückten, kleinen Mann im langen, schleppenden Pelzmantel. Mandelbaum war die Versuchung und wollte von Bessemer den ganzen Frühlingsfang kaufen, zwölf Kopeken das Pud unterm Marktpreis. Bessemer lachte herzlos. Jetzt erst verstand er Paulitsch vollkommen, der im Sommer auch nicht seine Fische verschachern wollte und sie lieber dem Eiskeller anvertraute als irgendeinem Mandelbaum im Pelz. Aber der Mandelbaum im Pelz kaufte doch viertausend Pud Heringe. Bessemer, der Narr, rächte sich und nahm den kleinen Mann auf eine wilde Fahrt über die Wolga mit und setzte ihn dann -- der Vertrag war schon unterschrieben -- bei den Tataren ans Land und ließ ihn erst in einer Stunde abholen.

Auch Moser lag den ganzen Tag auf dem Wasser. Immer neue Fischzüge stießen aus dem wüsten Meer. Die Barkassen pendelten Tag und Nacht von den Fangplätzen nach den Verarbeitungsstellen und oft fuhren sie durch die schwärmenden Fische, und die Männer auf den Schiffen sahen im gelben Wasser den lichten Schimmer der wandernden Kolonnen. Sie sahen ein sanftes, grünes Gold, ein dunkles und helles Blau mit roten Tupfen und einen silbernen Feuerschein. Claudia war immer noch im Fanggebiet. Sie war sehr oft bei Wassilenko. Springer wurde nach der Stadt geschickt, um die ersten Berichte zu geben. Paulitsch hatte sich über die Bücher vom Lagerverwalter Granach gestürzt, aber diese Bücher waren in Ordnung, so eifrig auch Paulitsch nach verborgenen Fehlern suchte. Die Verhaftung auf Fangstelle Neun hatte ihn sehr erschüttert. Auch im Blockhaus brannte die Lampe die ganze Nacht. Die nächtlichen Feuer flammten auch an der Goldenen Grube, am Schwarzen Loch und an den anderen Fangplätzen. Jede Stunde war kostbar. Auch in der Nacht zogen die Fische aus dem Meer.

Mitten im Herbstfang wurde auch die große Beluga nicht vergessen. Die Fahrt nach der Großen Grube war wie die Fahrt zu einem Fest. Charly hatte den Riesenfisch gesehen und mit Glaserin wurde eines der neuen englischen Netze fertig gemacht. Am achten Tag des Fischzugs wurde die Große Grube abgesperrt und das Netz in das Wasser versenkt. Dieser Fischzug begann in der Morgendämmerung. Das Netz war um Mitternacht ausgeworfen worden. Als aber dann (die Sonne stieg rot und dampfend aus dem Nebel) das Netz eingezogen werden sollte, da sprang mitten in der Grube das Wasser wie ein Sprudel empor, schwarzer Schlamm verfärbte die Flut, es war, als würde das neue Netz mit unsichtbaren Fäusten am Grund des Wassers gehalten. Die Fischer spannten sich in die Stricke und sie berührten mit den Stirnen beinahe die Erde wie damals, als der Sturm über der Wolga brüllte. Dann stürzten sie mitten in der Anstrengung auf die Erde. Das neue Netz war gerissen. Die Beluga, die Millionenmutter der vielen Störe, hatte die Stricke zerfetzt und den Weg in die Freiheit gefunden.

Glaserin brüllte.

»Das sind unsere großen Fischzüge,« sagte Bessemer verbittert. »Da ist der Raubfisch Marculescu, der geht durch die Lappen, und dann ist die Beluga, die reißt das neue Netz. Kosak, ist das immer bei euch so an der Wolga?«

Glaserin antwortete nicht.

Schweigend fuhren die Fischer zurück. Bessemer stürzte sich in die Arbeit, vergaß den Rumänen und vergaß die Beluga, er hatte alles vergessen, auch Nathan und Nora und Deutschland, er ließ alle Post ungelesen und lebte nur dem Rausch des großen Fischzugs. Er lag auf dem strömenden Wasser, kümmerte sich nicht mehr um seinen Hund, nicht mehr um Grischka, und wenn er mit Granach und Moser zusammen war, sprach er nur noch von Fischen. Er dachte nur noch in Fischen und träumte auch des Nachts von den Fischen. Die Welt erschien ihm wie ein schöner, glanzvoller Strom, in dem die Genossen die Schleppnetze senkten und silberne oder rotgetupfte Fische fingen. Auch das Lied vom großen Fischzug sang er oft, wenn er allein und trunken über die Wolga sauste.

Endlich brach die ganze Herrlichkeit zusammen. Am Vormittag hatte er mit Mandelbaum im Pelz verhandelt, der die Fische des Frühjahrfangs und die Heringe des neuen Fischzugs kaufen wollte. Er sagte nicht ja und nicht nein, denn er wartete auf Nachricht von Schmidt, dem neuen Leiter der Fangstelle Neun. Und als die Nachricht endlich kam, ließ er Mandelbaum kühl stehen, als gäbe es sonst in ganz Astrachan keine Fische zu kaufen und verschwand, Mit Charly Moser und Glaserin fuhr er wolgaabwärts. Gurow verzweifelte, aber es gelang ihm doch, den Käufer zum Dableiben zu überreden.

Das Motorboot sauste über die Wolga. Die Männer redeten kein Wort. Als die Fangstelle Neun erreicht war, brach Glaserin das Schweigen.

»Ist Schmidt in der Partei?« fragte er.

»Nein,« antwortete Bessemer.

»Ist trotzdem ein tapferer Kerl!« sagte der Kosak.

»Ja,« sagte Bessemer.

Und nun winkte Schmidt, der tapfere Kerl, von der Landungsbrücke, als er das Boot bemerkte. Die Männer winkten zurück.

»Ist er noch da?« brüllte der Kosak.

»Ja, ja, ja!« brüllte Schmidt.

»Wo?« schrie Bessemer.

»Im Eiskeller!« gab Schmidt zur Antwort.

Die drei Männer kletterten aus dem Boot. Der Kosak lief auf den Wolgadeutschen zu und küßte ihn. Dieser Gefühlsausbruch verwirrte Bessemer immer mehr, der das Bild von Glaserin, das er sich gemacht hatte, beinahe jeden Tag ändern mußte. Charly Moser pfiff leise vor sich hin.

»Ich habe ihn heute morgen gefangen,« erzählte Schmidt. »Er ist mir in die Falle gegangen, der Rumäne. Ob er wußte, daß sein Freund verhaftet war, weiß ich nicht, aber ich wußte, wo er sein Geld versteckt hatte. Das wußte auch Marculescu, und heute morgen kam er -- es war in der Dämmerung -- nach den Kellern, und ich hatte nichts zu tun, als die Tür hinter ihm zuzuschlagen. Der Notausgang war vorher schon zugesperrt. Die Wand schlägt er nicht ein!«

»Schmidt,« antwortete der Kosak, »bist du sicher, daß es der Rumäne war?«

»Ganz sicher. Ich habe ihn brüllen hören. Seit einer Stunde habe ich nichts mehr gehört. Seit einer Stunde ist er still.«

Der Kosak übernahm die Führung, als der Eiskeller erreicht war.

»Marculescu!« schrie er und hämmerte an die Tür. »Marculescu!«

Keine Antwort kam. Die Männer hörten nur tappende Schritte.

»Marculescu!« schrie der Kosak noch einmal. »Marculescu!« Alles blieb still.

Da öffnete Glaserin die schwere Tür und trat als erster in den Keller. Plötzlich krachte ein Schuß und streifte seine Lammfellmütze. Ehe aber Glaserin antworten konnte, feurig und aus dem Browning, es gab keine andere Antwort, kam der zweite Schuß, und der traf Take Marculescu in den Kopf. Der Rumäne stand, als er schoß, am Rande eines großen, in die Erde versenkten Bottichs, in dem die Fische eingesalzen wurden. Und in diesen Bottich stürzte der Mann mit dem zerschossenen Kopf, ein toter Mensch auf viele tausend tote Fische.

»Fertig,« sagte der Kosak. »Ihr müßt die Fische nochmal waschen und einsalzen... Schickt den Rumänen mit einer Barke zu uns herüber. Die Miliz wartet immer noch auf ihn. Sie sollen ihn nach Astrachan nehmen ...«

Auf der Heimfahrt zum Blockhaus wurde wenig gesprochen. Der Tod des Rumänen war ja schließlich weiter nichts als der Schlußpunkt eines schon zu Ende gespielten Romanes. Gegen Abend kam von Fangstelle Neun ein Boot und brachte den Erschossenen. Aber fast gleichzeitig mit Marculescu kam Richard Nathan aus Moskau. Der Tod kam und das Leben kam. Als Nathan in Moskau auch auf dringende Telegramme keine Antwort bekam, ernannte er einen Vertreter und reiste über Saratow nach Astrachan. Er fuhr nicht nur der Fische wegen. Nora Nintitsch war in den letzten Tagen verhaftet worden. Bei Nathan erschien einer der jungen, kühlen Männer von der Politischen Polizei und wollte von seinen Beziehungen zum Ingenieur Nintitsch wissen. Nathan konnte nachweisen, daß er zu jenem Ingenieur keine Beziehungen hatte und daß seine Bekanntschaft mit Nora unpolitisch war. Am selben Abend verließ Nathan Moskau und am vierten Tag traf er in jenem Blockhaus an der Wolga den Israel Mandelbaum aus Odessa, den Bessemer verschmäht hatte, und verkaufte ihm vierzigtausend Pud Heringe, Wobla, Lesch und Sudack. Bessemer fiel aus allen Wolken, als er in das Blockhaus kam und den Abschluß dieses Geschäftes erlebte. Nathan aus Moskau war erschienen! Nathan verkaufte Fische an der Wolga!

»Verrückt, vollkommen verrückt!« knurrte Nathan, als Mandelbaum fort war. »Ich bin ja gerade noch zur rechten Zeit gekommen! Was ist mit dir los? Hast du Malaria? Warum bekomme ich auf dringende Telegramme keine Antwort?«

»Freundlich ist deine Begrüßung gerade nicht,« antwortete Bessemer. »Bist du deshalb hierher gekommen? Telegramme, Telegramme, warte nur einen Augenblick, dann wirst du Telegramme sehen. Wir haben eben Marculescu gefangen, den Bandit, weißt du.«

»Läßt mich vollkommen kalt, bleiben wir bei der Sache. Warum antwortest du nicht?«

»Die Fische, du siehst doch, die Fische! Wir sind mitten im Herbstfang!«

»Die Fische, die Fische,« höhnte Nathan. »Die Fische, die Fische! Warum fangt ihr eigentlich die Fische? Um sie für das nächste Jahr einzusalzen? Du bist ein Bandit, aber nicht der Marculescu! Warum hast du den Frühjahrsfang nicht sofort an Mandelbaum verkauft? Du scheinst denselben Vogel zu haben wie Paulitsch, der auch nicht verkaufte, als es an der Zeit war.«

»Mensch, mach dich nicht lächerlich, die Stadt ist jetzt mit Käufern überschwemmt,« sagte Bessemer.

»Heute noch und vielleicht auch morgen, aber übermorgen nicht mehr,« antwortete Nathan. »Also verkaufen, jeden Schwanz verkaufen ... Nun gut, das werde ich von heute ab besorgen ... Und nun zum zweiten: ist dir eine Tänzerin Nora Nintitsch bekannt?«

»Sehr gut,« rief Bessemer erleichtert aus. »Natürlich ist mir die Tänzerin bekannt. Sollst du mir Grüße bringen? Kommst du deswegen aus Moskau?«

»Du bist und bleibst ein Narr,« entschied Nathan. »Nein, ich soll dich nicht grüßen! Sei froh, daß du keine Grüße bekommst. Die Nora sitzt nämlich in der Tscheka!«

»In der Tscheka? Als ich nach Astrachan fuhr, erzählte sie mir, daß sie mit ihrem Vater nach Belgrad oder Paris wolle. Ihr Vater hätte die Schwindsucht, sagte sie.«

»Ja, und die Nora hat die Schwindelsucht,« heulte Nathan. »Der Mann und die Schwindsucht! Er wurde wegen Spionage verhaftet ...«

»Aber Nora?«

»Der Teufel hole sie. Ich kenne keine Nora und will sie nicht kennen,« sagte Nathan mit großartiger Gebärde. »Und wenn man dich nach ihr fragt, Felix, so solltest du erklären, ich kenne sie auch nicht. Die Weiber bringen nur Unruhe in die Welt ... Und jetzt kommt Frage Nummer drei: Warum ist Paulitsch noch in der Verwaltung? Warum ist er noch hier bei den Fischen?«

»Das ist eine lange Geschichte,« sagte Bessemer. »Wir haben alles gewissenhaft geprüft, und wenn Paulitsch schuld hat, so ist es eine unschuldige Schuld. Laß dir erklären: Auf der Fangstelle Neun, dort war ein Russe, Wasiliy Sergejwitsch, und der war mit dem Rumänen in Verbindung. Das haben wir entdeckt. Und das hätte Paulitsch auch finden können. Das ist seine Schuld. Aber sie ist nicht so groß, daß er dabei das Genick brechen darf.«

»Frische Fische, faule Fische, mein Freund. Aber darum handelt es sich gar nicht, um das Gut oder Böse, um die Schuld oder die Unschuld, das habe ich dir auch in meinem letzten Brief auseinandergesetzt. Du sollst nicht untersuchen. Du sollst einen Befehl ausführen. Gerechtigkeit ist eine schöne Sache, aber sie hat in unserem Fall absolut nichts zu tun ... Der Rumäne ist tot. Er hat sich erschossen. Das könnte vielleicht auch Paulitsch retten. Aber nein: es bleibt dabei, auch Paulitsch muß gehen. Großer Fischzug, mein Freund, großer Fischzug auch in Moskau! Ja und was weiter?«

»Alles und nichts, Richard. Ich bin auch für den großen Fischzug. Ich habe auch mit die neuen Netze ausgelegt und verlange kein Lob, wahrhaftig nicht, aber auch keinen Schimpf.«

»Kein Mensch beschimpft dich, kein Mensch! Begreifst du denn immer noch nicht, daß wir alle irgendwie abhängig sind und niemals nach eigenen Wünschen und Ermessen handeln? Und, das sage ich, wenns nach unserem eigenen Kopf ging, das gäbe erst eine Verwirrung in der Welt! Denke das Leben von Marculescu durch! Ein tapferer Genosse kämpft in der Roten Armee, schlägt sich heldenhaft herum, aber als der Krieg vorbei war und der Frieden kam, konnte er nicht mehr zurück. Versackte. Ging unter. Hatte Ekel vor sich selbst und schoß sich eine Kugel in den Kopf.«

»Und schoß vorher auf Glaserin, Nathan!«

»Natürlich! Er wollte sich selbst von damals, als er noch Genosse war, in dem Kosaken treffen,« antwortete Nathan. »Mein Freund,« fuhr er fort, »du bist noch in den zwanziger Jahren, und die Wochen an der Wolga waren mehr oder weniger Spielerei. Ich glaube, es ist auch für dich am besten, wenn du diese Jagdgründe verläßt und nach Moskau gehst. Hast du besondere Wünsche?«

Bessemer fiel noch einmal aus den Wolken. Dieser Sturz war der tiefste. Er sah Nathan mit erschreckten Augen an. Nathan machte ein starres Gesicht, wie man es oft bei ihm sehen konnte, wenn er irgendeinen Auftrag oder Befehl ausführte. Natürlich, er war ja auch schon in den dreißiger Jahren!

»Es ist gut, Richard,« sagte Bessemer. »Ich werde gehen, aber die Wochen an der Wolga waren mehr als Spielerei. Ich habe das Leben gesehen und den Tod. Aber sage, was soll ich in Moskau? Da könnte ich doch höchstens hier und da eine Kulisse schieben. Ich glaube, ich gehe nach Deutschland zurück. Was gibt es Neues in Berlin?«

»Viel Vergnügen!« antwortete Nathan. »In Deutschland, mein Sohn, ist alles ruhig. Das Volk hat sich von Franz Drake und seinen Kartoffeln beruhigen lassen. Man spricht und schreibt auch von einer großen Amnestie. Vielleicht komme ich auch im nächsten Frühling ...« In seinen Brombeeraugen war linder Glanz. Dann straffte er sich und sagte: »Ich will Marculescu nicht mehr sehen. Und fetzt hole unseren Freund Paulitsch,« Bessemer ging und hatte Blei in den Füßen, aber in seinem Herzen blühten wieder die kleinen Blumen, die er in jenem Park gepflückt hatte, als der Aufstand um die Stadt knallte. Da wurde sein Weg leichter und beschwingter. Das Blei schmolz in den Füßen. Als er bei den Mädchen an den Fischbänken vorbei kam, sah er, wie die Fischer von der Fangstelle Neun den toten Rumänen brachten. Er ließ den Toten und ging zu Paulitsch. Er fand ihn bei Granach über den Büchern.

»Nathan ist gekommen, Paulitsch,« sagte er. »Er wünscht dich dringend zu sprechen. Er ist im Blockhaus.«

»Nathan?« sagte Paulitsch und seufzte. »Nathan ist aus Moskau gekommen? Wirklich Nathan?« »Ja, wirklich Nathan.«

Paulitsch schlug die Bücher zusammen und ging mit schweren Füßen. Nun war alles vorbei. Der verfluchte Rumäne! Der verfluchte Nathan! Ja, nun war die Entscheidung da, die Entscheidung gegen ihn trotz Claudia und ihrer Spiele.

»Nathan?« sagte auch Granach und lachte. »Zum Teufel, was will Nathan an der Wolga? Kleine Malaria gefällig, Genosse Nathan?«

Bessemer antwortete nicht und lief mit beflügelten Schritten nach der Wolga und fuhr nach der Goldenen Grube. Lange stand er bei den Tataren und hörte den klagenden Arbeitsgesang der Fischer und spannte sich zum letztenmal an den Strick. Zog und zog an dem großen Schleppnetz, Ruck um Ruck, und fiel in die Melodie des Liedes an der Steppe ein. Als das Netz eingeholt war, kam Ali und brachte Tee und einen gebratenen Fisch. Maxim Petrowitsch kam mit großen, wiegenden Schritten. Da schmeckte der Tee und der Fisch bitter.

»Es ist aus, Maxim Petrowitsch, aus mit der Fischerei,« sagte Bessemer. »Die schönen Tage an der Wolga sind vorbei. Ich fahre morgen nach Deutschland zurück.«

»Nach Deutschland?«

»Ja nach Deutschland.«

»Gefällt dir nicht mehr der Fischfang?«

»Der Fischfang! Natürlich gefällt mir der Fischfang! Aber der Teufel hole alle Gleichnisse,« rief Bessemer und dachte an die letzten, wilden Jahre, »Fische, Fische, immer nur Fische. Die einen werden gefangen, die anderen reißen die Netze, die werden geschlachtet und jene eingesalzen, aber ob sie nun gefangen oder eingesalzen werden, sie sind nicht tot zu kriegen, sie reißen alle Netze und jedes Jahr wimmeln neue Milliarden in den Meeren und den Strömen! Wir wollen endlich menschlich unter Menschen leben, Mann an der Wolga, und wenn unser Wunsch auch nur Sporn und Peitsche zu ewigem Kampf ist! Blühen wollen wir. Reif werden. Schöpferisch sein, ehe wir im Schleppnetz des Todes versacken.«

Das Gesicht des alten Fischers verklärte sich. Er dachte an seine jungen Jahre und an die Tage und Nächte, wo er mit Gorki die Wolga hinunterfuhr. Er dachte auch an Tolstoi, an den Krieg und an die Revolution, an das Erlebnis vom nackten Menschen im Blitz der Entscheidung. Jenes Erlebnis beflammte und verjüngte ihn, gab ewige Jugend, besiegte den Tod, machte das Alter süß und das Sterben leicht. Und als er nun den jungen Menschen vor sich sah, da mußte er leise lächeln. Er erkannte in ihm den Bruder und den Genossen. Da schloß sich wiederum ein Kreis. Der Alte verjüngte sich. Der junge Mann erkannte die Gnade des Alters und die Klarheit des Wissens.

»Fahr wohl,« sagte der alte Fischer. »Leb wohl. Gut hast du gesprochen, Bruder. Auch jetzt ist noch Schöpfungstag. Wieder geht der Meister über die Gewässer und ruft die Fischer von ihren Netzen.«

Er lächelte Bessemer an. Und das war der rechte Trost für den Abschiednehmenden: ein menschliches Wort zur richtigen Stunde, ein mildes Lächeln für aufquellende Tränen. Als er dem Alten antworten wollte, kam Maxim Petrowitsch auf ihn zu, umarmte und küßte ihn nach russischer Sitte. Dann riß sich der junge Mensch los und raste mit seinem Boot über die Wolga.

Auch der letzte Tag war erfüllt vom schönen Lärm der Arbeit, lieber die Weite des Wassers flutete das Licht in großen Ergüssen. Die Tataren standen wie in schwarzer Bronze gegen den leuchtenden Himmel und den Glanz der Steppe. Der Abschiednehmende beugte sich aus dem Boot und sah im Wasser die gleißenden Gegenströme der Fische. Er sah auch ihren schnellen Tod und die schimmernde Übermacht, die jeden Tod besiegte. Bei diesem Anblick wurde er sehr fröhlich. Dann lenkte er nach der Wüste hinüber und lief eine kleine Stunde durch die Täler und über die goldenen Berge und verweilte im harten Gras. Er entsann sich auch seines Liedes, das er damals gedichtet hatte und mußte an seinen Hund Natascha denken. Jetzt erst erinnerte er sich, daß er ihn schon einige Tage nicht mehr gesehen hatte. Auch Grischka hatte er vergessen! Da rannte er nach dem Boot zurück, ließ den Motor anlaufen und hetzte über das Wasser und suchte die alten Freunde, lieber drei Stunden befuhr er die Wolga und suchte Grischka und seinen kleinen Hund. Er suchte vergeblich. Grischka war schon damals mit Forster aufgebrochen. In derselben Stunde, als ihn Bessemer suchte, lief er mit Natascha durch das schmutzige Baku und der Hund erhob die juwelenhaften Augen zu seinem neuen Herrn. Am Abend verließ auch Felix Bessemer die Wolga.

Der Abschied war schmerzhaft und mußte ertragen werden. Charly Moser versuchte einen Witz, aber es kam kein Lachen hinter seinen Worten. Richard Nathan blieb kühl. Der Kosak schüttelte lange die Hände und Granach sagte: »Felix, du hast es gut. Schreib mal, wie es jetzt in Deutschland aussieht. Vielleicht komme ich auch bald.« Claudia lief mit großen, leeren Augen stumm aus dem Zimmer. Paulitsch kämpfte bis zum letzten Atemzug mit Nathan um seine Stellung. Er verlor den Kampf. Auch Wassilenko reiste nach Astrachan. Dort saß Gregor Gurow und verkaufte Fische, nichts als Fische.

Nicht lange verweilte Bessemer in Astrachan. Auf dem schnellsten Wege reiste er nach Moskau. Der blaue Samt der Nacht hing über jener Stadt zerfetzt in den Sternen. Aus den Urwäldern und Eiswüsten war der Winter aufgebrochen und brachte Sturm und ersten Schnee. Im Meyerholdschen Theater wurde immer noch das Spiel mit der roten Sonne gespielt. Immer noch glühte und tanzte sie über den Rädern und Maschinen vor der geschlossenen Tür, hinter der das schöne Spiel der Liebe ging.

Auch in Moskau blieb Bessemer nicht mehr lange. Er war ja wie auf einer Flucht und Heimkehr. In seiner Freizeit bummelte er durch diese barbarisch-schöne Stadt an den unbegreiflichen und zauberhaften Kirchen vorüber und auf dem asiatischen Basar kaufte er für eine vergessene Freundin in Berlin ein Paar tatarische Pantöffelchen und ein leuchtendes Seidentuch aus Buchara. Einmal dachte er auch an Nora Nintitsch und jene Septembernacht, in der sich das Mädchen ergab, um in derselben Stunde mit einem funkensprühenden Eisenbahnzug in die Nacht zu fahren. Für immer in die Nacht. Dann riß er sich zusammen und dachte an das kommende dreißigste Jahr. Am nächsten Tag verließ er Moskau.

Aus Sturm und Schnee blühte zum Abschied diese Stadt golden und leuchtend auf. Sturm unzähliger Glocken brauste auf, ein wildes, dunkles, silbernes und märchenhaftes Geläut über Europa und Asien.

Moskau lag nun hinter ihm, der Rote Platz und der Kreml, die Tänzerin Nora und das Meyerholdsche Theater. Vor ihm entfaltete sich große Flächenlandschaft mit endlosen Feldern, Wäldern, versteckten Dörfern und weithin sichtbaren Städten. Der Eisenbahnzug hämmerte auf den Schienen.

Am zweiten Tag erreichte der Reisende Sebesch und die lettische Grenze, die mit riesenhaften Stacheldrahtverhauen abgesperrt war. Die rote Fahne des russischen Postens flatterte im Wind wie eine zuckende Flamme. Dann kam Riga. Weiter, immer weiter rollte der Zug. Neue Wälder und Felder zeigten sich, neue Flüsse und Moore und am dritten Reisetag kam Kowno in Sicht. Bis zur deutschen Grenze war nicht mehr weit.

Bis zur Grenze war nicht mehr weit, aber Bessemer hatte schon viele Grenzen hinter sich, Grenzen der Sehnsucht und Grenzen der Jugend. Jetzt wußte er, auch Schwärmerei ist gut zu ihrer Zeit, und das Lied, das er in der Wüste gedichtet hatte, kam ihm in den Sinn. Die Menschen, mit denen er zusammenlebte, erstanden vor ihm, eine stumme, feierliche Schar, und wenn er an ihren Schatten rührte, bewegten sie sich und öffneten ihre Herzen. Da schloß der Heimkehrer die Augen und sang leise die letzte Strophe seines Liedes aus der Wüste:

»Wer niemals hungerte und elend ist gewesen,
Der wird mit sattem Bauch am vollen Tisch verwesen.
Auf seinem Grab wird man die Tafel lesen:
Er war nur Staub. Das Schicksal nahm den Besen ...

Schon jetzt hatte ein Mitreisender in dem Abteil die Zeitung sinken lassen und den Sänger sonderbar betrachtet. Der Mitreisende war ein Viehhändler und kam aus Litauen. Bessemer aber sah und hörte nichts. Als sein Lied verklungen war, dachte er an Maxim Petrowitsch. Ja, nun war er wieder in Deutschland. Die Blumen von jenem Aufstand blühten auch jetzt wieder in seinem Herzen. Dann sah er die vielen Schleppnetze im Strom der Zeit und erinnerte sich der letzten Worte des alten Fischers: »Wieder geht ein Meister über die Gewässer und ruft die Fischer von ihren Netzen.« Da öffnete der Heimkehrer die Augen. Ja, auch er hatte im Blitz der Entscheidung gestanden. Und er hatte sich entschieden. Nun war neuer Tag. Schöpfungstag. Deutschland?

Ja, jetzt war er wieder in Deutschland, und da sagte er ganz laut: »Auf, lasset uns Menschen fangen.«, daß der Viehhändler noch mehr erstaunte und die großen, kühlen Fischaugen verwundert aufriß.


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