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Erster Teil

Grauer Tag im November

Der Bürgerkrieg war schon oft durch die Stadt gestampft, hatte die Straßen und Häuser verwundet, den Bahnhof erdrosselt, die Brücken gesperrt und die Einwohner ängstlich gemacht. Schon lange standen die Polizisten vor den großen Warenhäusern, den Gummiknüppel neben der Pistole im Gürtel, und schon lange sicherten die Juweliere ihre blitzenden Schaufensterauslagen durch eiserne Gitter. Wenn man vor jenen Geschäften stand, konnte man meinen, sie seien große, leuchtende und lichtsprühende Käfige, in denen die edlen und strahlenden Steine weiter nichts seien als kristallisierte Tränen.

An einem grauen Novemberabend marschierten fünfzig Mann durch diese herbstliche Stadt. Sie kamen ohne Fahnen und Armbinden, ihre Kleider waren abgetragen oder Uniformen aus dem letzten Krieg, sie waren wie ein dunkler Gewalthaufen mit umgehängten Gewehren, eine zur Erde herabgesunkene Sturmwolke. Nein, sie brauchten keine Fahnen und auch keine Armbinden, für die Marschierenden war immer noch Krieg. In Berlin und im Land hatten die Generale geputscht. Die Regierung der Republik war auf der Flucht.

Die fünfzig Arbeiter wurden von einem Matrosen angeführt und kamen aus dem Volkshaus, in dem die Führer schon vom frühen Morgen an über den Putsch in Berlin, den Abwehrstreik und über Lenin und Marx zusammensaßen und diskutierten. Es gab einen linken Flügel und einen rechten Flügel und jeder Flügel spannte sich weit, wenn der andere zusammengefaltet war. Der große Saal, in dem gestritten und gekämpft wurde, verschwamm im blauen Tabakrauch, löste sich auf, war wie ein Schiff, das den Hafen verlassen hatte und schwankend ins offene Meer hinaustrieb.

Mitten in einer wilden Rede, Lewitzki sprach, ein junger Feuerkopf, hatten die fünfzig Mann den Saal verlassen. Sie nahmen ihre Gewehre und wollten keine Reden mehr hören. In Berlin putschten die Generale? Die Zeitungen waren verboten, es wurde gekämpft, was soll da alles Geschwätz über Taktik und Theorie? Irgendwo war in einer Rede der Plan aufgetaucht, der Gewalt die Gewalt entgegenzusetzen, natürlich, es war ja Generalstreik und da mußte eine Zeitung herausgebracht werden. Ja, darüber wurde gerade gesprochen, als sich die fünfzig Mann erhoben. Morgen sollte der Streik alle Zeitungen lahmlegen, also vorwärts marsch, damit unsere eigene Zeitung gedruckt werden kann. Vorwärts marsch nach dem »Tageblatt« des Herrn Korff. Der Matrose Becher nahm seine Leute und marschierte davon. Gewalt gegen Gewalt! Überall begann man, die Arbeiter in das Dunkel zurückzujagen, aus dem sie an einem Novembertag aufgebrochen waren, überall, auch in dieser Stadt, und hier nannte sich der Haupttreiber Korff: Generaldirektor, Zeitungsbesitzer und kleiner Napoleon.

Nicht nur die Generale gierten nach der Macht. Auch die Industrie griff mit eisernen Fäusten zu. Sie hatte im Zusammenbruch auf den Schlachtfeldern ihre neuen Konzerne und Schlachtpläne schon vorbereitet. Die ganze Nation war für sie nur statistisches Material und Quelle vertiefter Ausbeutung. Auch Herr Korff gehörte zu den neuen Erzherzögen. Im zweiten Jahr der Republik stellte er sich vollkommen um, warf sich auf Papier und Zellstoff, kaufte von den Landjunkern große Wälder in Mitteldeutschland und Schlesien um ein Viertel ihres Wertes auf, denn die Herren von und zu bebten vor den drohenden Gewittern der großen Städte. Herr Korff also kaufte große Wälder, beteiligte sich an Kunstseide und vor allem an Papier. Seine Wälder rauschten wohl immer noch, aber sie rauschten hauptsächlich als sogenannte »öffentliche Meinung«, und die schönen, heiteren und schwermütigen Forste verwandelten sich in große Zeitungen und Inseratenplantagen und waren eine glänzende Kulisse für die neuen Zellstoffunternehmungen und Kunstseidefabriken. Aber sie waren auch noch weithin dröhnendes Sprachrohr für die neuen Konzerne, gelinde Schmeichelei für das Volk, gelinde Drohung gegen die Regierung. Amerika hatte den Weltkrieg entschieden, Amerika war auch das Ideal der Industrie, und vielleicht träumten sie auch davon, genau so wie in der Union eine Regierung kaufen oder stürzen zu können, Gesetze auf Wunsch zu bestellen und diese oder jene Partei zu korrumpieren oder abhängig zu machen. Natürlich trieften sie von Moral und vor allem triefte die Zeitung des Herrn Korff von Moral, gegen die sich heute der Marsch der fünfzig Arbeiter richtete.

Herr Korff hatte eine glückliche Hand, aber sie wurde hauptsächlich von einer jungen Russin namens Nina Konstantinowna Rschewskaja gelenkt. Diese Frau hatte Korff nach einer gemeinsamen italienischen Reise geheiratet. 1918 war Nina aus Moskau mit ihrem Vater geflohen. Sie kamen glücklich durch alle Wirren des Krieges nach Odessa und erreichten Paris. Als ihr Vater starb, erlebte sie allerlei romantische Abenteuer in Paris und Dresden, lernte Korff kennen, fuhr mit ihm nach Italien und wußte noch nicht, ob sie ihn lieben oder hassen sollte. In Venedig entschloß sie sich zu keines von beiden, nicht zur Liebe und nicht zum Haß, sie entschloß sich plötzlich zur Heirat. Diese Nina hatte auf ihrer Flucht die Karte ihres Lebens oft auf alles oder nichts setzen müssen. In Korff gewann sie einen kühnen Mitspieler, einen gewagten Spekulanten, als der Kampf um die Macht in Deutschland einsetzte.

An dem frühen Abend, als die fünfzig Mann durch die Stadt marschierten, fuhr Korff mit Nina durch den herbstlichen Park. Das dunkelblaue, große Auto federte leicht und singend über den breiten Fahrweg. Der Motor hämmerte. Durch die letzten flammenden Baumkronen konnte man die Stadt sehen. Ihr vielfältiger Lärm schien sich in den Wipfeln der Bäume zu fangen. Es roch schon nach Fäulnis. Die weißen Marmorgötter an den schwarzen Teichen schauerten. Zwei junge Mädchen liefen Arm in Arm an den schimmernden Statuen vorüber. Die Mädchen, die im Frühling und Sommer aufgeblüht waren, verschlossen sich jetzt und senkten die Stirnen. Sie waren jenseits von Gut und Böse und gehörten zu diesem Park wie die weißen, toten Götter an den dunklen Gewässern. Nina aber, in silberne Pelze eingehüllt, atmete die kühle Luft ein und war nicht jenseits von Gut oder Böse. Sie war schon eine Frau. Korff machte ein selbstbewußtes Gesicht.

»Hast du immer noch Angst vor der deutschen Revolution?« fragte er. »Morgen soll es losgehen. Generalstreik. Aber jetzt ist es zu spät. Sie werden noch einigemal putschen. Das ist alles. Deutsche Revolution? Erledigt, Ninuschka!«

»Ich habe keine Angst mehr. Ihr werdet siegen und nicht die anderen. Ihr habt den größeren Willen zur Macht ... Was ist beschlossen worden? Geht der Hauptmann Kries mit euch?«

»Wir müssen zugreifen, heute oder morgen. Die Entscheidung ist da. Der Berliner Putsch muß zusammenbrechen. Nun ist die Frage: wer kommt jetzt an die Macht? Wir oder die da,« sagte Korff und deutete mit seiner schweren Hand nach der Stadt, »wir kommen dran. Zwei Jahre haben sie die Peitsche gehalten und nicht zugeschlagen. Jetzt halten wir die Peitsche und schlagen zu. Morgen früh sollen ihre Führer verhaftet werden.«

»Wollt ihr auch den Doktor Schill verhaften?«

»Den Überläufer? Nein. Wir wollen keine Märtyrer schaffen, die ihre Ketten literarisch verzaubern können. Er soll isoliert werden. Infamiert. Was für ein Unsinn: heute, wo alles entschieden ist, auf die Seite der Arbeiter zu gehen! Nein, er wird nicht verhaftet. Die Streikführung wird verhaftet: Bessemer, Lewitzki, Lobe und die anderen Herrschaften. Und wenn es nur für einige Tage ist.«

»Mein Freund,« sagte Nina nach kurzem Schweigen, »ich weiß, du setzest durch, was du willst. Aber wo sind deine Soldaten?«

»Wir haben ein ganzes Armeekorps. Unser General heißt Eigentum!« lachte Korff. »Und das hier,« er schlug an die Brusttasche, »das sind unsere Soldaten, Leutnants und Hauptmänner. Aber wir haben schon vorgesorgt. Der Leutnant Klemm steht mit der Wachkompagnie dem Bürgerrat zur Verfügung. Zu Kries haben wir Verbindung. Er wird sicher mitmachen.«

Der Wagen hatte den Park verlassen und wollte in die Stadt einbiegen, da stieß er auf die singende Masse des Volkes, die den marschierenden Arbeitern folgte. Aus der Menge wurden gegen das Auto geballte Fäuste erhoben. Korff lehnte sich höhnisch in das Polster zurück. Er hatte schon viele Demonstrationen erlebt und harmonisch enden sehen mit Hochrufen, einer schönen Resolution und zertrümmerter Auflösung nach den grauen Mietskasernen. Aber Nina hatte Angst. Plötzlich schrie sie leise auf. Aus der Kolonne der Marschierenden löste sich ein Mensch. Er war kaum dreiundzwanzig Jahre alt, hieß Smirnow und stammte aus Moskau. Sein knabenhaftes Gesicht weitete sich erstaunt, als er die junge Dame in dem Wagen sah und erkannte.

»Korff,« flüsterte Nina, »Korff, laß wenden und nach Hause fahren. Der Mensch dort ist aus Moskau. Ein Kommissar. Ich kenne ihn. Ich habe Angst. Bitte, bitte, laß uns nach Hause fahren.«

»Der Mann mit dem Kindergesicht?« fragte Korff.

»Ja, aber er hat das Herz eines Wolfes.«

Korff schoß nach dem Russen erzürnte Blitze, beugte sich dann zu dem Chauffeur und befahl die Heimfahrt. Der Wagen raste, brausendes Gelächter im Rücken, nach dem Park zurück. Nina war wie erschlagen.

»Jetzt glaube ich nicht mehr, daß morgen alles vorbei ist,« sagte sie endlich.

»So viel Angst vor dem Mann mit dem Kindergesicht?« sagte Korff, »wir haben noch viel Platz auf unserer Liste. Wie heißt das Scheusal?«

»Ich kenne nur sein Gesicht,« flüsterte die junge Frau. »Den Namen kenne ich nicht. Er kam in Moskau zu uns, um ein Protokoll aufzunehmen. Mit einem Protokoll fängt bei uns alles an. Da sind wir geflohen... Ach, warum habt ihr kein Sibirien, mein Freund!«

»Ein Sibirien haben wir nicht, aber wir haben Disziplin, Fabriken, Bergwerke und keine Angst mehr. Du sollst und darfst nicht traurig sein. Wir schlagen zu. Mit der Peitsche!«

»Wenn doch schon alles vorbei wäre,« seufzte die junge Frau.

Korff schwieg. Als der Wagen die Villa erreichte, hatte er sein Herz in Gewalt. Lächelnd gab er Nina den Arm, küßte sie und ging in das Arbeitszimmer. Er wußte schon lange von dem Marsch der Fünfzig nach seiner Zeitung. Er war seiner Sache so sicher, daß er sich selbst die Besetzung ansehen wollte. Nun telephonierte er mit der Stadt, und nach einer kleinen halben Stunde fuhren einige Herren an seinem Hause vor.

Auch der Leutnant Klemm war unter ihnen. Korff empfing sie mit gemachter Heiterkeit, dann saßen sie in seinem Arbeitszimmer, und er führte das Wort. Der kleine Napoleon erklärte den Herren die Situation, brachte Berliner Berichte, Aufmarschpläne, Auslandsmeldungen und zuletzt die Karte der Stadt. Noch einmal wurde der Angriffsplan durchgesprochen, der Leutnant gestärkt und die Liste der Verhafteten beraten.

»Jetzt ist alles klar,« schloß Korff, »an uns liegt es, meine Herren, mit allen Mitteln durchzugreifen. Auf Ihnen, Herr Leutnant, ruht diese Nacht die größte Verantwortung. Wir stehen hinter Ihnen mit allen Verbindungen, und wenn Sie nach der Geschichte nicht mehr Leutnant sein können, wir brauchen einen tüchtigen Sekretär. Also zugreifen. Blut darf nicht fließen. Um Mitternacht bekommen Sie noch Verstärkung.«

Die Herren verbeugten sich und verließen das Zimmer.

Korff schaute ihnen nachdenklich nach und pfiff leise durch die Zähne.

Die Marschierenden hatten das »Tageblatt« erreicht.

Der Matrose schlug mit dem Karabiner an das schmiedeeiserne Tor.

Becher war früher auf dem Kreuzer »König« Maat gewesen. In den letzten Jahren hatte er in manchem Hafen Anker geworfen. Gestern kam er von Berlin und heute schon führte er auf Lewitzkis Empfehlung die Arbeiterwehr. Während des Marsches hielt er auf strenge Zucht, lief an der Spitze, und es war, als sei er mit seinen Leuten von einem grauen Schiff aufgebrochen, das feste Land zu erobern. Die blaue Matrosenuniform gab ihm einen gewissen Glorienschein. Man dachte an den Aufstand der Flotte in Kiel und Wilhelmshaven.

»Aufmachen, vorwärts, aufmachen!« schrie Becher den Portier an, der sich auf die Schläge hin ängstlich genähert hatte.

»Kennst du den Matrosen?« wandte sich fragend der Russe an Bessemer.

»Nein, ich sehe ihn zum erstenmal. Aber er hatte gute Empfehlungen aus Berlin. Lewitzki hat ihn als Führer bestimmt,« antwortete der andere, ein junger Mensch, der viel in der Welt herumgekommen war, den Krieg mitgemacht und im Soldatenrat gesessen hatte und heute mit den fünfzig Arbeitern zur Zeitung marschierte. Manchmal machte er auch Gedichte und gehörte zu jenem Typ von Jugend, die ihre frühen Jahre in Romantik und Revolte austoben.

»Aufpassen, besser aufpassen,« flüsterte Smirnow, der Mann mit dem Kindergesicht. »Ihr habt ja keine Erfahrungen in der Revolution. Nicht jede Schwielenhand ist ein Ausweis.«

»Wenn Lewitzki kommt, will ich mit ihm reden.«

»Augen aufmachen ist besser als reden,« sagte der junge Russe.

Die Sonne war untergegangen. Auf den Bergen flammte noch goldnes, kühles Licht, aber der Talkessel, in dem die Stadt lagerte, wurde schon von der Dunkelheit überschwemmt. Die ersten Lampen brannten schon.

Das eiserne Tor der Zeitung drehte sich kreischend und öffnete sich. Die Arbeiter stürzten in den dunklen Hof, drangen in das Haus ein und stellten Posten aus. Die Telephonzentrale wurde besetzt. Man sah, daß die Männer den Krieg mitgemacht hatten und in der Revolution nicht nur Lieder singen wollten, um dann beruhigt nach Hause zu gehen. Auch Bessemer ging mit seinem russischen Freund in das dunkle Tor und stieg dann in die ersten Stockwerke des Hauses. Aus dem Maschinensaal kam das klirrende Donnern der großen Druckmaschinen. In der Redaktion kamen die Freunde zur rechten Zeit, um eine Rede des Matrosen anzuhören, in der er dem Direktor Mühlenbach den Zweck der Besetzung erklärte.

»Meine Herren,« wandte sich Mühlenbach kühl an die Eintretenden, »ich suche Menschen, mit denen ich menschlich reden kann. Was soll das bedeuten?«

»Aktion gegen Berlin, Herr Direktor,« sagte Bessemer.

»Da holen Sie aber weit zum Stoß aus! Wir liegen fern vom Schuß. Bis auf den Streik ist alles ruhig in der Stadt. Nun ja, morgen ist Generalstreik, das weiß ich, und meine letzte Zeitung muß gedruckt werden.«

»Aber jetzt ist es nicht mehr ruhig!« antwortete Bessemer.

»So lassen Sie mich bitte telephonieren. Ich bin ja wie abgeschlossen von der Welt! Die letzten Telegramme und Funksprüche müssen kommen.«

»Bitte, telephonieren Sie,« sagte Smirnow.

Mühlenbach nahm den Hörer von der Gabel, lauschte lange und verzweifelt in die tote Membrane und wurde unruhig. Als er nichts hörte als das leichte Sausen des eigenen Blutes, brüllte er die Nummer 2435 in die Muschel. Aber auch diese Zahl machte den Apparat nicht lebendig.

»Ich bekomme ja keinen Anschluß,« sagte er endlich.

»Nein,« knurrte der Matrose, »Sie bekommen keinen Anschluß. Wir haben die Zentrale besetzt.«

»2435?« wiederholte der Russe, der im Telephonbuch geblättert hatte, »2435 ist eine sehr interessante Nummer, aber das Polizeipräsidium haben Sie trotzdem nicht bekommen.«

»Ach,« stotterte der Ertappte, »ich wollte nur die neuesten Polizeiberichte haben.«

»Natürlich, Herr,« gab Smirnow höflich zu.

»Ja, meine Herren,« begann Mühlenbach mit ganz neuer Stimme, »ich sehe, ich habe es mit intelligenten Menschen zu tun. Stoß gegen Berlin? Schön, wir waren früher ein linksstehendes Blatt, und ich wüßte nichts, was uns hindern sollte, uns zur alten Liebe zu bekennen. Die Herren wünschen?«

»Morgen früh beginnt der Generalstreik,« berichtete Bessemer. »Alle Zeitungen werden stillgelegt. Auch das ›Tageblatt‹. Wir sind beauftragt, bei Ihnen eine Streikzeitung herauszugeben.«

Schill und Lewitzki traten ins Zimmer.

»Herr Mühlenbach will wieder links werden, Doktor,« sagte Bessemer, »er wartet auf unsere Vorschläge. Von unserer Streikzeitung weiß er schon. Ich bin für eine kleine Sitzung.«

»Wir auch,« sagten die Angekommenen.

»Ich erst recht,« bekräftigte der Matrose Becher, der mit beleidigtem Gesicht der bisherigen Verhandlung gefolgt war.

»Du gehst zu deinen Leuten!« fuhr ihn Lewitzki an. »Stelle noch mehr Posten aus. Laß das Tor schließen. Kein Mensch außer der Streikleitung darf hereinkommen. Wenn verhandelt wird, verhandeln wir.«

Der Matrose entfernte sich murrend.

»Nun, Herr Doktor,« wandte sich Mühlenbach an Schill, »wie stehen die Aktien? Ich freue mich aufrichtig, Sie wieder einmal zu sehen.«

Doktor Schill lächelte leise. Er kannte den Wert dieser Beteuerung und wußte, daß es eine ausgekochte Lüge war. Gerade im »Tageblatt« wurde er in der letzten Zeit wegen seiner Stellungnahme für die Arbeiter heftig angegriffen. Ja, früher, als er noch der bekannte Reiseschriftsteller und Dichter war, da wurde er gelobt, aber als er vor einigen Monaten mit einem Manifest an die Öffentlichkeit trat, in dem er sich zu der Ideenwelt des Proletariats bekannte, da setzte die Hetze gegen ihn ein. Der gesellschaftliche Boykott. Auch seine Bücher schienen auf einer schwarzen Liste zu stehen.

»Heute war Ruhetag an der Börse, Herr Direktor,« sagte er mit verbindlichem Lächeln.

»Wir haben Mandat vom Aktionsausschuß, bei Ihnen zu drucken, Herr,« sagte Lewitzki und wies ein gestempeltes Papier vor.

»Unmöglich, unmöglich ... Meine Zeitung! Meine Maschinen! Morgen liegt ja sowieso alles still und die letzte Nummer muß heraus ... Aber ich will Ihnen entgegenkommen und einen neuen Leitartikel schreiben lassen. Ganz nach Ihren Wünschen, meine Herren. Auch über die Streikzeitung kann man reden.«

»Ihre Zeitung? Ihre Maschinen?« höhnte Lewitzki, »das war einmal Ihre Zeitung! Jetzt schlägt Herr Korff die große Trommel für sich darin. Sie sagen: nicht ruinieren? Schön, aber wir sollen uns ruinieren lassen! Zu lebenslänglicher Zwangsarbeit an den Maschinen verurteilt! Ganz legal in den Bergwerken ermordet durch Seilriß oder schlagende Wetter! Eine kleine Vergiftung in den chemischen Bruchbuden gefällig? Nein, von der Zeitung kommt keine Nummer mehr heraus. Morgen ist Generalstreik, Herr!«

»Herr Direktor,« sagte Schill, der sich mit den andern besprochen hatte, »darf ich Sie bitten, sich für zehn Minuten nach einem anderen Zimmer zu bemühen? Dann wollen wir weiter verhandeln.«

»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor,« sagte Mühlenbach ohne die Spur eines Vergnügens und ging.

»Was soll das sein?« brauste Lewitzki auf. »Warum mit dem alten Narren erst noch verhandeln? Wir haben einen Beschluß durchzuführen. Es hat uns Mühe genug gekostet, ihn im Aktionsausschuß durchzudrücken. Ich bin dafür, hier solange zu bleiben, bis sich die Lage in Berlin geklärt hat. In zwei Tagen kann man weit sehen. Ich bin gegen Korff und seine Zeitung. Basta!«

»Lewitzki hat recht,« sagte der Russe. »Ich habe nichts zu sagen, ich bin aus Begeisterung mitgegangen. Das ist eure Revolution. Vielleicht kann ich hier und da ein wenig helfen. Ein gutes Sprichwort sagt in Deutschland: Gib dem Teufel den kleinen Finger, aber er nimmt sich die ganze Hand.«

»Liebe Freunde,« fiel Schill ein, »Lewitzki hat ein Mandat vom Aktionsausschuß und auch Bessemer ist gewählt zur Verhandlung. Ich soll nur an der Zeitung mitarbeiten. Von einer Besetzung wurde nichts gesagt. Nur von der Streikzeitung. Was nun morgen oder übermorgen wird, weiß kein Mensch. Mühlenbach will einen neuen Leitartikel schreiben lassen, das ist schon viel, und wir werden noch mehr aus ihm herausschlagen. Laßt uns eine Probe aufs Exempel machen. Die Probe ist so: dieses Tageblatt ist in der ganzen Provinz verbreitet. Lassen wir den Mühlenbach auf elf Seiten zum letztenmal rauschen. Wir haben den Leitartikel und verlangen die ganze erste Seite für uns. Dann ist noch die Streikzeitung da. Laßt uns verhandeln. Eine Seite neue Welt gegen elf Seiten alte Welt! Unsere Ideen gegen die von Korff! Ein neues Weltbild gegen Zellstoff und Kunstseidel Wir wissen ja gar nicht, wie lange wir uns halten können!«

»Gerade darum,« ereiferte sich Lewitzki, »gerade, weil wir nicht wissen, wie lange wir uns halten können, bin ich anderer Meinung. Ich stimme gegen Doktor Schill mit beiden Händen.«

»Ich bin für Schill,« sagte Bessemer. »Die erste Seite vom Tageblatt und dann die Streikzeitung.«

»Ich habe keine Stimme und sage doch ein Wort,« begann der Russe. »Ich studiere Technik an der Hochschule. Als Techniker leuchtet mir ganz gut ein, was Lewitzki will. Aber eine Revolution ist ganz anders, als das. was heute bei euch gespielt wird. Da wird nicht so viel geredet und verhandelt.«

»Macht, was ihr wollt,« sagte Lewitzki.

Es klopfte an die Tür.

Direktor Mühlenbach trat ins Zimmer.

»Sie sind pünktlich, Herr Direktor,« begann Bessemer. »Wir haben nichts dagegen, daß die Zeitung morgen früh noch einmal erscheint. Den Leitartikel brauchen Sie nicht schreiben zu lassen. Den schreiben wir. Wir wollen uns einigen und schlagen vor, daß Sie uns die erste Seite des Tageblattes überlassen. Wir haben allerlei Bekanntmachungen, die auch Ihre Leser interessieren. Und natürlich drucken wir die Streikzeitung extra. Einverstanden?«

»Ich würde sehr gern erst mit Herrn Korff gesprochen haben,« seufzte der Direktor. »Aber das muß ich halt auf meine eigene Kappe nehmen. Und zum Schluß: einverstanden mit Ihren Vorschlägen. Aber wie ist es mit dem da?« setzte er hinzu und machte die Geste des Geldzahlens.

»Über das wird später zu reden sein,« sagte Bessemer. »Da verhandelt der Aktionsausschuß. Wir sind ja gegen die Putschregierung in Berlin! Und, Sie wissen ja, der Herr Doktor Schill kennt Herrn Korff. Auch ich hatte früher einmal das Vergnügen.«

»Gut. Ich eile, um die nötigen Anweisungen zu geben.«

»Darf ich begleiten, mein Herr?« fragte der höfliche Russe.

»Mühlenbach,« stellte sich der Direktor vor.

»Kommisarow,« antwortete der russische Student.

Die zwei Männer verließen das Zimmer.

»Wie ist die Sitzung ausgegangen?« wandte sich Bessemer an Lewitzki. »Was gibt es Neues in Berlin?«

»Wir machten bald Schluß. Wir haben die alten Papas mit unserer Zeitungsbesetzung überrascht, über den Haufen geworfen, und da haben sie die Sache schließlich legalisiert, fluchend, wie du dir denken kannst. Als sie mitten im heftigsten Fluchen waren, kam ein Berliner Kurier. Dort ist der Generalstreik schon im Gange. Und der bewaffnete Kampf ... Hier wird es auch nicht lange ruhig bleiben. Paßt auf, der Korff läßt sich nicht so glatt über den Haufen rennen. Er ist am Ende für die Republik, warum soll er nicht? und läßt uns hinausschmeißen. Studenten sind unterwegs und sammeln sich im Park. Auch eine Kompagnie Soldaten habe ich marschbereit gesehen. Aber wir haben auch unsere Leute mobilisiert.«

Von der Straße her brandete der bewegte Lärm großer Aufmärsche. Aus dem Maschinensaal kam immer noch das rhythmische Schüttern der Druckmaschinen. Die Fensterscheiben klirrten leise. Es roch nach abgestandener Luft, Druckerschwärze, Tabak und feuchten Kleidern. Plötzlich hörte man die Melodie eines Soldatenliedes, ein fernes Singen noch, das aus dem taktmäßigen Schreiten der Soldaten aufstieg und noch in dem Maschinentrott der Marschierenden gefesselt war.

»Wir sind wie in einer Festung,« sagte Doktor Schill, der auf das Lied gehört hatte.

»Wenn schon,« antwortete Lewitzki. »Wenn schon, Doktor. Laßt uns dann die Festung inspizieren.«

Die drei Freunde traten auf den Flur und sahen die bewaffneten Arbeiter. Der Matrose hatte sich's in einem Redaktionszimmer bequem gemacht. Der Redakteur Kramer kam Schill aufgeregt entgegen.

»Herr Doktor, Herr Doktor,« sagte er. »Was ist denn los? Ich muß die letzten Kurzgeschichten redigieren, und man wirft mich aus dem Zimmer! Was soll denn da mit der Zeitung werden? Was soll ich denn tun?«

»Nach Hause gehen, Herr Kramer,« sagte Schill. »Sie wissen ja, was los ist: Putsch in Berlin. Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht!«

»Aber das Tor ist ja gesperrt!«

»Es wird aufgemacht werden,« antwortete Lewitzki und wandte sich an den Matrosen, der neugierig auf den Flur gelaufen kam. »Los, die Herren Redakteure dürfen das Haus verlassen. Passierscheine ausschreiben!«

»Meinetwegen,« brummte Becher. »Holen Sie die anderen Schreiber zusammen,« befahl er Kramer. Der bebte vor Wut, aber er eilte gehorsam davon und kam nach einigen Minuten mit seinen Kollegen zurück.

»Feierabend,« sagte Lewitzki.

»Feierabend?« wiederholte der Nachtredakteur. »Was heißt hier Feierabend! Ich brauche noch die letzten Telegramme.«

»Feierabend, Herr,« sagte Lewitzki und erklärte eisig: »Die letzten Telegramme sind wir!«

»Ich protestiere,« begann der Redakteur Schubert, ein alter Mann in den fünfziger Jahren, und wandte sich an den kaum zwanzigjährigen Lewitzki. »Ich protestiere mit aller Macht gegen den schändlichen Einbruch in unser stilles Haus. Das ist gegen das Gesetz!«

»Keine Aufregung, Herr Schubert, es ist schon alles glatt gemacht,« fiel Mühlenbach ein, der eben gekommen war. »Wir haben uns schon geeinigt und gehen nach Hause. Es ist eine tolle Nacht, aber die Zeitung ist doch fertig geworden. Eine schöne Nummer, Herr Doktor Schill!«

Becher hatte die Passierscheine fertig gemacht und drückte sie Kramer in die Hand. Der wurde rot wie ein Schuljunge, blickte den Matrosen halb ergeben und halb wütend an und verteilte dann die Zettel. Die Redakteure verzogen sich. Nur Mühlenbach blieb stehen.

»Alles in Ordnung, meine Herren,« sagte er. »Die Streikzeitung wird gedruckt, die Setzer warten auf das Manuskript. Wie soll sie denn heißen, das Streikzeitungchen?«

»Das ist unsere Sache,« fauchte Lewitzki.

»Natürlich. Selbstverständlich!« beruhigte Mühlenbach. »Es war ja nur eine höfliche Frage. Eine bibliophile, Herr.«

»Die Rote Flut!« sagte der Russe.

»Schöner Name,« scherzte der Direktor. »Darf ich Ihnen ein wenig von dieser Farbe anbieten?« Er nahm den Hut vom Kopf und zeigte seine brandroten Haare.

»Vielen Dank,« sagte der höfliche Smirnow. »Vielen Dank, Herr, aber dieses Rot dürfte für unsere Zwecke doch ein wenig zu schwach und zu matt sein!«

»Das dachte ich mir gleich,« lachte Mühlenbach. »Das dachte ich mir gleich. Aber das macht nichts. Spaß muß sein bei der Leiche, sonst geht niemand mit. Gute Nacht, meine Herren!«

»Gute Nacht,« grüßte Smirnow zurück. Die anderen blieben stumm, sie hatten den Hohn verstanden.

»So ein ekelhafter Schwätzer, von wegen ›Spaß muß sein bei der Leiche‹. Wir wollen doch sehen, wer eher kalt wird, er oder wir. In den Keller hätten wir den roten Hundekerl diese Nacht sperren sollen. Paßt auf, der Gauner läuft geradenwegs zu Korff.«

»Oder zu 2435,« sagte Smirnow und lächelte. »Jetzt ist doch alles gleich. Die Polizei ist schon lange benachrichtigt. Mich wunderts nur, warum bis auf das verrückte Soldatenlied alles stumm geblieben ist,« meinte der Doktor.

»Beruhige dich, Schill,« sagte Bessemer. »Es wird schon losgehen. Vielleicht mehr als uns lieb ist.«

An den Fenstern des Hauses, die nach der Straße führten, standen viele Posten. Die Fenster waren abgeblendet. Die Gewehrläufe der Arbeiter schimmerten wie Eis im blassen, kalten Licht der erhellten Straße. Der Torweg der Zeitung war durch einen umgestürzten Wagen versperrt. Vor der besetzten Zeitung wogte eine vieltausendköpfige Volksmenge auf und ab und ließ ihre Hochrufe wie große Schwärme schreiender Vögel verflattern. Immer neue Menschenströme ergossen sich aus den Vorstädten. Die Fenster der Cafés und Musikhallen verfinsterten sich. Vor die großen Scheiben der Kaufhäuser rasselten eiserne Läden. Trambahnen wurden angehalten. Am Park wurde ein Lastauto umgekippt. An der Brücke am Fluß wurden Barrikaden gebaut. Die ganze Stadt fieberte, brüllte oder lauschte auf den tosenden Lärm, der vor jener besetzten Zeitung aufstieg. Auf geisterhaften Flügeln strichen die unsinnigsten Gerüchte und Parolen durch die Stadt. Der Kaiser war in Berlin eingezogen. Der Reichstag sollte in die Luft gesprengt sein. Sowjets in Köln und Hamburg. Rupprecht ist König von Bayern. Die deutsche Flotte im Kampf gegen England. In Paris ist Revolution. Trotzki ist ermordet worden.

Plötzlich begann auf den dunklen Bergen ein Scheinwerfer aufzublitzen und wanderte dann in kühlen, blendenden Lichtüberfällen in die nächtliche Stadt und streifte wie ein irrsinniger Komet die ausgestorbenen oder überfüllten Straßen, die verlassenen, traurigen Plätze, den einsamen Park und den schwarzen, kleinen Fluß, der von sich selbst besessen in mystischem Gegluckse seine Wasser nach dem Meere schickte. Einmal streifte der Scheinwerfer auch die belagerte Zeitung. Sie stand für einige Sekunden gläsern und geisterhaft in dem grellen Licht wie unter jenen Leuchtraketen, die im Krieg abgeschossen wurden, und die auf seidenen Fallschirmen über der Front dahinschwebten und krachende Feuerüberfälle und Lufttorpedos anzeigten.


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