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Ein neues Spiel beginnt

Auch die Flüchtlinge blieben nicht lange auf dem Gute des Herrn Lamprecht. Der Putsch in Berlin war endgültig zusammengebrochen. Die Generale flohen. Aus der Stadt kam die Nachricht, daß sich Herr von Schmidt bedingungslos der alten Regierung zur Verfügung gestellt hatte und am selben Tag, als er noch für die Diktatur schwärmte, mit der Streikleitung verhandelte. Auch Herr Korff, der kleine Napoleon, zog sich elegant zurück und wartete auf seine Zeit. Zu dem Hauptmann Kries aber brach er alle Verbindungen ab. Als diese Nachrichten kamen, fuhren Lewitzki und Doktor Schill zurück. Bessemer und Smirnow reisten nach Berlin.

In Berlin hörte Bessemer, daß die Streikleitung von der Heldenrolle ihrer jungen Leute nicht allzu begeistert war, Lewitzki bekam eine Verwarnung, der Doktor Schill aber veröffentlichte ein Buch: »Das Höllengelächter der Nacht«, in dem er eine phantastische Schilderung jener Novemberereignisse gab. Das Hauptkapitel hieß: »Die Nacht der Männer« und beschrieb die Episode mit der jungen, wilden Frau, die sich zwischen die Arbeiter und ihre Aufgabe gedrängt hatte. Das »Tageblatt« druckte den Roman und Nina vermittelte zwischen Korff und Schill.

Smirnow blieb nicht mehr lange in Berlin. Er reiste nach Rußland zurück und wurde dann von Moskau in eine kleine Stadt hoch im Norden zum Bau eines Elektrizitätswerkes abkommandiert.

Bessemer schloß sich fester an die Partei, wurde mit neuen Arbeiten beauftragt, stürzte sich in die Bewegung und lebte viele Monate unterirdisch bei einem Portier im Tiergartenviertel. Als der Frühling kam, war er unterwegs und kam in Mitteldeutschland in die Märzkämpfe hinein. Da wurde nicht mehr geredet und verhandelt. Die Militärs, denen er gegenüberstand, hießen nicht Lamprecht oder Kries. Da wurde geschossen. Und auch Bessemer nahm eine Knarre in die Hand.

Der Kampf ging viele Tage. Das heftigste Gefecht tobte um einen kleinen Park, der alle Zugangsstraßen zur Stadt strategisch sperrte. Die Bäume des Parkes standen jenseits aller Strategie, sie begrünten sich schon, die ersten Vögel waren da und die ersten Blumen. Bessemer lag mit seinen Freunden an der feuchten Erde und grub sich ein. Als die Geschosse sangen und in die Bäume klatschten, als die Vögel flohen wie damals an den Fronten, da schoß auch Felix Bessemer, weil auf ihn geschossen wurde. Nein, der deutsche Frieden war noch kein Frieden.

Am Himmel schwammen weiße Wolken wie in einem veilchenblauen Meer. Die Aufständischen sahen nicht nach jenen weißen Wolken. Sie blickten nach dem Feind durch die Visiere ihrer Gewehre. Im Blickfeld von Felix Bessemer blühten Blumen, kleine, weiße zitternde Anemonen mit lichtroten Tupfen. Da ließ er einen Augenblick das Gewehr sinken und schmückte mit den kleinen Blumen den feldgrauen Rock. Dann schoß er noch einmal so gut. Aber auch hier in diesem Park stand die Niederlage mit schwarzen Flügeln am Ende des Gefechts, auch hier lagen Tote kalt und wächsern auf der Erde, und das Blut spritzte. Bessemer lief um sein Leben und kam glücklich durch alle Postenketten. Er hatte keine Sehnsucht nach einem Fangschuß oder nach einem Gefängnis. Die deutschen Gefängnisse kannte er aus den ersten Monaten der Revolution ganz genau.

Felix Bessemer, ein Mann in den zwanziger Jahren, schlug sich nach dem Ruhrgebiet durch und lebte dort drei Monate als Bergarbeiter auf der Zeche »Unverhofft«, wußte erst jetzt, was es heißt, unterirdisch zu sein, in der Tiefe eines Bergwerks nämlich, achthundert Meter unter dem Licht der Sonne an einem »Ort«, der kein Ort war, sondern ein dunkler, heißer und steiler Stollen, in dem man auf dem Bauch zur glänzenden Kohle kriechen mußte und vor Hitze beinahe umkam. Bei einer Razzia über Tag in der Kolonie wurde Bessemer aufgestöbert, mußte wieder fliehen und ging nach Berlin zurück, lebte bei dem Portier im Tiergartenviertel, und als auch dort eines Tages die Kriminalpolizei erschien, wurde er von der Partei nach Stettin geschickt und reiste dann mit einem Transport heimkehrender Kriegsgefangener über Reval nach Rußland.

In Petrograd besuchte er die berüchtigte Peter-Pauls-Festung, in Moskau den Kreml und in Jekaterinenburg das Haus, in dem der Zar erschossen wurde. In Minsk stand er in der Front gegen die Polen, bei Odessa badete er im Schwarzen Meer, in Omsk kam er in den sibirischen Winter hinein und fuhr auf der Rückreise nach Moskau auf einen Schlitten über die vereiste Wolga.

Er lernte viele Menschen kennen, einen Inder, der eine abenteuerliche Flucht um den Erdball hinter sich hatte, ehe er nach Moskau kam, und der dann von Taschkent aus neue Verbindungen zu seiner Heimat herstellte, einen Perser, der Deutsch lernte, um sich aus deutschen Büchern über die sozialen Verhältnisse seines Landes zu informieren, einen Koreaner, einen Professor der Philosophie, der in einem verrückten Englisch für die Freiheit seiner von Japan unterdrückten Heimat warb, einen Japaner, der schon über zwanzig Jahre im Exil lebte, mit solchen Menschen kam Bessemer auf seinen Reisen zusammen. Aber auch mit Tataren, Kirgisen, Kaukasiern und Chinesen. Es schien, als habe die ganze Welt ihre Botschafter und Gesandten nach Rußland geschickt, um eine siegreiche Revolution und ihre Technik zu studieren. Engländer traf er, Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Holländer, Schweden, Italiener, Spanier und Letten. Finnen und Polen lernte er kennen, Litauer und Dänen. Einmal traf er auch einen Neger.

Als Bessemer zum erstenmal die roten Fahnen über dem Kreml wehen sah, war er glücklich und begeistert, als er später in einer kleinen Uralstadt an Typhus zwischen Leben und Sterben schwebte, war er weniger glücklich und begeistert. Aus dem tragischen Dunkel seiner Revolution war er plötzlich in die Blitze und Donner einer Weltrevolte hineingestellt und ging unter in Hochmut und Schwermut.

Die Jahre rasten wie apokalyptische Reiter vorbei. Der General Wrangel wurde in der Krim vernichtend geschlagen. In Kronstadt erhoben sich die Matrosen gegen die Sowjets. Die entsetzliche Hungersnot überfiel das Land und mähte Millionen Menschen an der Wolga und in der Krim in die Massengräber. Einmal saß Bessemer im Alexanderpalast auf dem goldnen Thron des Zaren, und ein andermal reiste er auf dem Dach eines Güterwagens nach Samara.

Auch mit Smirnow kam er zusammen.

Die Nacht, die er mit dem jungen Russen verbrachte, war auch eine Nacht der Männer, eine endlose Nacht, in der über Deutschland und Rußland gesprochen wurde, eine russische Nacht mit ewigen Diskussionen, Tee, Zigaretten und Verbrüderungen. Zuletzt war alles versunken, Deutschland und Rußland. Asien hatte sich erhoben und starrte mit schrägen Sternenaugen in das hochmütige Abendland. In China und Indien rührten sich siebenhundert Millionen farbige Menschen.

Als er von dieser Reise zurückkam, wurde er nach Smolensk geschickt, und in dieser hochgebauten Stadt traf er einen Bekannten aus seiner Heimatstadt, der jene Nacht in der belagerten Zeitung als Posten mit erlebt hatte. Auch dieser Mann hatte damals nur das Gewehr beiseite gestellt und griff es wieder auf, als die Märzkämpfe brausten, auch er wurde durch das Land gehetzt und rettete sich durch die Flucht.

»Menschenskind,« sagte er zu Bessemer. »In Smolensk müssen wir uns treffen! Weißt du auch, daß der Doktor mit Korff Frieden gemacht hat? Er ist jetzt Feuilletonredakteur im ›Tageblatt‹!«

»Der Doktor Schill?« fragte Bessemer unsicher und zuckte zusammen. »Der Mann, der das Buch über unsere Nacht geschrieben hat?«

»Ja, aber tröste dich. Für ihn war unser Kampf nichts weiter als eine Sensation. Ein Romanstoff. Eine interessante Abwechslung. Aber was will ein Schill besagen? Ein Überläufer, der in die alte Stellung zurückging.«

»Als wir in der Zeitung saßen,« antwortete Bessemer nachdenklich, als suche er den Schlüssel zu jener Wandlung, »sprachen wir davon, daß es ein Wunder sei, weil der Hauptmann Kries die Soldaten kommandiere, und da sagte Schill, jetzt wird mir der Sinn klar. ›Diese Nacht ist ein gläsernes Wunder, das am frühen Morgen zerbrechen muß‹ Nun gut, auch sein Tag, in den er sich geflüchtet hat, wird einmal zerbrechen.«

Bessemer reiste nach Moskau zurück, und auf der Fahrt überdachte er noch einmal die Geschichte jener Nacht. Sie war ihm so nahe und gegenwärtig, daß es kein China und Indien mehr gab. Diese Novembernacht in Deutschland war auch keine endlose und keine gläserne Nacht mehr, die am frühen Tag zerbricht, er wußte, daß auch in jenen dunklen Stunden, als die Soldaten marschierten und der Tote im Schatten der Barrikade lag, um die Morgenröte einer besseren Zeit gekämpft und gestritten wurde.

In Moskau lernte Felix Bessemer einen jungen Chemiker aus den Leunawerken kennen und befreundete sich mit ihm. Er hieß Richard Nathan und war auch ein politischer Flüchtling. Durch Nathan bekam er, als er nach Deutschland zurückfahren wollte, Arbeit in einem großen Konzessionsbetrieb, zu dem Wälder, Farmen, kleine Fabriken und eine große Fischerei an der Wolga gehörten. Auch Nathan hatte die Märzkämpfe mitgemacht, und als Bessemer einmal von jenem Tag erzählte, als das Gefecht um den Park ging, in den der Frühling die ersten Vögel und Blumen und das Militär die ersten Granaten schickte, da war es ihm, als sei alles unwichtig und nicht der Rede wert, das Gefecht, die verwundeten Bäume und Genossen, die krachenden Feuerüberfälle, und die kleinen Blumen, die er sich damals gepflückt hatte, alles gehörte zusammen, das Leben und der Tod, und war Lichtbild und Schattenriß von Deutschland, schmerzhafte Wehen einer neuen Geburt.

Da verließ er den Klub, in dem er mit dem Chemiker Nathan zusammen saß, er wollte und konnte nichts mehr erzählen, er hatte schon alles gesagt, und auch sein plötzliches Stummsein war eine große Rede für den, der es hören will.

Der heiße Sommer dampfte über Moskau und hüllte die Stadt in goldnen Dunst ein, aus dem die Kuppeln der Kirchen feurig blitzten. Bessemer trieb sich auf den Straßen herum, ziellos, planlos, überquerte dann die Mosqua und wanderte nach den nahen Sperlingsbergen. Bald hatte er die schönen Hügel erreicht, die sich über dem kühlen Fluß wie eine schwellende, endlos dahinwehende und grüne Fahne und auch über den Goldglanz der Stadt Moskau erhoben.


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