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Zweiter Teil

Fischfang bei Astrachan

Die Reise ans Kaspische Meer

Die Türme und Kuppeln der Stadt Moskau blitzten in der Septembersonne. Die Nächte waren schon kühl. An den schönen Tagen war die Stadt ganz südlich und orientalisch, aber in der Nacht ahnte man schon den frostkrachenden Winter. Die Mosqua wandelte in verzückten Linien am Kreml vorüber. Auf den nahen Sperlingsbergen und im Falkengehölz rauschte der Herbst scharlachfarben auf. Neben dem flammenden Gold vieler Kirchenkuppeln standen andere Kuppeln in blauen, grünen und roten Wölbungen wie reife und herrliche Früchte. Ein Taumel von Licht und Farbe stürzte über die Stadt. Sie blühte wie ein Blumenbeet.

Felix Bessemer hatte schon einen russischen Winter erlebt und kannte die eisklaren Nächte, in denen die Sterne im bleichen Raum des Himmels zitterten und zuckten. Er kannte die gewaltigen Schläge und Peitschenhiebe des Frostes und die wie für alle Ewigkeit verschneiten Wälder und Steppen. Natürlich war er noch in den zwanziger Jahren und trug sein Leben leicht, aber manchmal fühlte er doch eine Last auf seinem Rücken, das kommende dreißigste Jahr, an dem alle Schwärmerei vergehen muß, damit der Mensch vor sich und der Welt bestehen kann. Und Bessemer wollte vor sich und der Welt bestehen.

Bessemer liebte Rußland, aber noch mehr liebte er Deutschland. Jetzt erst wußte er, daß aller Kampf und Aufstand um das Land nur verschmähte Liebe war. Er erinnerte sich der letzten Kämpfe, und ganz klar stand jener Tag vor ihm, als er mitten in einem Feuergefecht in einem großen Park seinen feldgrauen Rock mit den ersten Blumen schmückte. Diese zarten Blumen blühten auch jetzt noch in seiner Brust. So sehr liebte er Deutschland.

Felix Bessemer liebte auch Eleonora Nintitsch, eine serbische Tänzerin aus einem Vorstadttheater, die vor zehn Jahren mit ihrem Vater aus Belgrad gekommen war und, von allen Stürmen unberührt, durch ihre Schönheit und Jugend die arme Bühne eines Arbeiterbezirks erleuchtete. Ihr Vater war Ingenieur und lebte in der Nähe Moskaus auf dem flachen Land. Eleonora, die sich nach einem beliebten Vorbild gern Nora rufen ließ, wurde von dem Brot, das sie auf dem Theater verdiente, nicht satt. Der junge Mann Felix aber wollte, daß sie gesättigt und auch glücklich sei, und half ihr, wo er nur konnte.

Mit jener Nora also kam Bessemer in einer hellen Nacht aus dem Meyerholdschen Theater. Der Triumphplatz lärmte noch ein wenig, aber die Kälte hatte schon alle Liebespaare vertrieben. Bei Meyerhold hatte Bessemer eines der phantastischen Spiele gesehen, daß der besessene Regisseur vollkommen zerstört und neu aufgebaut hatte. Die Schauspieler seines Theaters waren nicht mehr die gehorsamen Nachbeter der Dichter, o nein, sie lösten das strenge und vorgeschriebene Spiel in hundert Spielarten auf. Sie lösten sich selbst auf und waren Artisten, Komödianten und Clowns, liefen auf den Händen, rutschten Treppen und schiefe Ebenen hinab, verhöhnten und beteten an und meisterten scheinbar die Gesetze der Schwerkraft. Sie bewegten sich in ihren Gelenken genau so wie die maschinenmäßigen Kulissen der Bühne, die eigentlich gar keine Kulissen mehr waren, sondern hohe Gerüste, Rutschbahnen, rotierende Räder und steile Wände.

Eine Szene hatte ihm besonders gut gefallen. In ihr erschien eine junge Müllersfrau, die ein schönes triebhaftes Menschentier war, und ihren Freund über hohe Treppen in das nur leicht angedeutete Schlafzimmer verlockte. Als sich die dunkle Tür hinter den Erhitzten schloß, begann da oben an der Kammer plötzlich eine rote Sonne zu kreisen. Auch die Räder und die leblosen Gegenstände auf der Bühne schienen sich im Rhythmus der unsichtbaren Szene hinter der geschlossenen Tür zu bewegen. Alle Dinge waren nur den zwei unsichtbaren, sich liebenden Menschen dienstbar.

»Weißt du auch, wie schön das ist,« sagte Nora unvermittelt, denn sie hatte gleichzeitig an jenes Spiel gedacht. »Die Sonne dreht und bewegt sich, wenn sich die Menschen lieben.«

»Ja, das ist schön,« sagte ihr Freund. »Aber auch der Mond bleibt nicht still am Himmel!«

»Ich bliebe auch nicht still,« sagte das Mädchen und fragte: »Und wann fährst du nach dem verdammten Astrachan?«

»Morgen abend, aber am liebsten bliebe ich bei dir!«

»Das sagen alle Männer zum Abschied,« spottete sie. »Aber wenn man genau hinhört, sind sie schon längst auf der Reise und haben uns vergessen.«

»Niemals werde ich dich vergessen, schöne Tänzerin! Ich gehe ja nur, weil ich muß. Ich komme wieder.«

Ja, sein Herz war schon auf der Reise in das neue Abenteuer. Gestern war unter dem Vorsitz von Richard Nathan beschlossen worden, daß er mit Moser und Gurow nach Astrachan fahren sollte. In der großen Fischerei an der Wolga ging alles drunter und drüber, eine Delegation löste die andere ab, jede berichtete anders, aber nun sollte reiner Tisch gemacht und die Herbstfänge organisiert werden. Dann war noch verabredet, mit Morton W. Forster einen Film vom Leben und Sterben der Fische zu drehen. Das waren die Beschlüsse von gestern. Nathan befahl und Bessemer mußte gehorchen. Auch in seinem Betrieb herrschte die Diktatur. Er ging nicht gern. Sein Herz hing viel mehr an dem tanzenden, goldenen Fisch Nora, als an den schwarzen und grünen Fischen der Wolga. Dieser kühle Septemberabend war für Bessemer der letzte Abend in Moskau auf lange Zeit und gehörte seiner schönen Freundin.

»Komm bald wieder,« sagte sie endlich und seufzte. »Ich bin nicht gern allein.«

»In vier Wochen spätestens, Tänzerin,« sagte der junge Mensch.

»Das ist eine lange Zeit,« antwortete das Mädchen. »Hier in Moskau sind schon vier Tage viel. Vielleicht bin ich, wenn du wiederkommst, auch schon auf der Reise.«

»Auch du willst fort?«

»Nicht gern,« antwortete sie leise. »Aber mein Vater ist lungenkrank und der russische Winter ist nicht gut für ihn. Wir wollen nach Belgrad zurück oder vielleicht nach Paris.«

Diese Antwort bestürzte ihn sehr, und nun faßte er, als könne er damit das Verhängnis aufhalten, den Arm des Mädchens und wanderte nachdenklich die verdunkelte Straße hinauf zum Bahnhof. In den Teestuben und an den Kinos schwärmten die jungen Leute. An den verfinsterten Straßenkreuzungen standen bemalte Mädchen.

»Es ist kalt,« sagte Nora und preßte sich an ihren Freund. »Es ist schon Herbst. Mich friert.«

»Dir soll warm werden, Tänzerin, feuerheiß!« sagte der Mann, öffnete seine Arme und begrub darin das frierende Mädchen. Dann küßte er sie.

Die Abschiedsstunde löste alle Scham und Verstellung. Das Schicksal hatte die zwei Menschen zusammengebracht, das Mädchen aus Belgrad, den Mann aus Berlin, und hier im fremden Land blühte ihre Liebe. Blut war Blut und wollte erlöst werden. Endlich riß sich das Mädchen los, lachte unter Tränen, weinte im Gelächter und entschwebte mit tänzerischen Schritten in die Dunkelheit nach dem Bahnhof. Der Zug stand schon bereit und brauste donnernd in die kühle Nacht hinaus. Der Verlassene sah von der Brücke aus die leuchtende Fahrt und die Funkensterne der Lokomotive. Lange stand er auf der Brücke in der herbstlichen Nacht. Traurig ging er nach seiner kalten Stube, lag lange und ruhelos im Bett und konnte nicht einschlafen. Als er endlich schlief, lärmte durch sein Blut der nächtliche Zug, und zwischen dem feurigen Rauch der Lokomotive tanzte im Traum die serbische Tänzerin Nora.

Am anderen Morgen erwachte er sehr früh. Auf dem großen Markt am Roten Tor kaufte er eine schwere Lederjacke und sah das Leben und Treiben auf dem lärmenden Platz, die Hochzeit zwischen Europa und Asien. Er sah russische Bauern und Stadtleute, tatarische und persische Händler, Männer aus Buchara und die gelben Elfenbeingesichter der Chinesen und Koreaner. Teppiche waren wie leuchtende Fahnen ausgehängt, bunte Tücher schwebten wie kleine goldene Wolken über dem grellen Schnee sibirischer Pelze. Aber auch Weintrauben waren zu sehen, blutiges Fleisch, gelbe Butter, eiserne Öfen, Textilwaren, Schuhe, Uhren, Geschirr und allerlei Hausrat. Alles war auf diesem Markt zu kaufen: Brillanten und junge Schweine, silberne Löffel und warme Pelzmützen.

Der Tag verging sehr schnell mit letzten Besprechungen. Moser schleppte die sich widersprechenden Berichte der Fischerei heran und Gurow studierte die Börsenmeldungen aus Astrachan. Über allem aber thronte Richard Nathan. Das dreißigste Jahr hatte er hinter sich, konnte eine Bilanz lesen und genaue Kalkulationen machen. In seinen Freistunden sammelte er Briefmarken oder las Gedichte.

»Es ist alles klar, Felix,« sagte er zum Schluß der Sitzung. »Wir haben drei Leute hinunter geschickt, und soviel kann ich von hier aus sehen, daß die Karre im Dreck steckt. Ich würde selber fahren, habe keine Zeit. Du hast die Berichte gelesen? Das sind ja schöne Geschichten, die der Rumäne gemacht hat! Und Paulitsch, ach höre mir von Paulitsch auf! Er wird abberufen. Hier ist das Mandat. Verkauft Fische, wir brauchen Geld. Du kennst unsere Schmerzen. Schicke mir sofort telegraphische Berichte, hörst du? Gurow soll verkaufen. Moser soll dein Gehilfe sein. Du bist der Mann, ohne den nichts gemacht werden darf. Hast du sonst noch was auf dem Herzen?«

Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und erhob fragend die schwarzen Brombeeraugen.

»Nicht viel,« antwortete Bessemer, »Gurow sagt, es seien keine Käufer in der Stadt und unsere Keller sind noch mit Fischen vom Frühlingsfang überfüllt. Und Paulitsch und der Rumäne ...«

»Mensch, hör auf,« wütete Nathan. »Das weiß ich ja alles viel besser als du. Und darum sollst du ja fahren, um zu verkaufen. Und darum fliegen ja die beiden, der eine, weil er ein Bandit ist, und der Paulitsch, weil er im Sommer keine Fische verkauft hat. Werde doch in der letzten Stunde nicht kindisch, junger Mann! Jetzt kommen mir allerhand Zweifel, ob man dich fahren lassen darf ...«

»Ich bin kein kleines Kind mehr, Nathan,« sagte der andere. »Ich glaubte, du hättest keine Zeit gehabt, alles zu lesen. Ich werde schon verkaufen und reinen Tisch mit der Schweinerei da unten machen. Darauf kannst du dich verlassen. Du wirst im Gelde schwimmen können, und wenn wir auch einige Kopeken unter den Marktpreis gehen müssen.«

»Ja, auch dann soll verkauft werden, Gurow,« sagte Nathan und konnte die große Welle Mißtrauen nicht unterkriegen, die ihn plötzlich überschwemmte. »Also verkauft und schickt viel Geld!« Er zuckte mit den breiten Schultern, stand auf, wünschte »Gute Reise« und ging aus dem Zimmer.

Von dieser Unterredung war Bessemer nicht besonders entzückt. Sein Stolz war geknickt, aber er richtete sich rasch wieder auf und fuhr nach dem Bahnhof. Der Wagen ratterte über den Roten Platz, und als der Reisende den Kreml sah, war er wieder heiter. Die Mosqua wurde überquert und zurückblickend sah er den vieltürmigen Kreml, diese bunte, verzauberte Stadt mit den unzähligen Kirchen, Palästen, Türmen, Terrassen und Verwaltungsgebäuden, deren weiße, goldene, rote und blaue Farben glühend zusammenschmolzen. Auch die sieben gedrehten Zwiebelkuppeln der Wassilikirche waren sichtbar, der Schattenriß von jenem kostbaren Barbarenschiff. Dann dachte er auch an Nora, die Tänzerin, an den letzten Weg durch die Nacht und an die Feuer des ratternden Eisenbahnzuges. Vor allem aber, und da lächelte er, dachte er an die rote Sonne, die sich nicht nur im Theater zu dem verführerischen Spiel der Liebe dreht.

Gregor Gurow war ein alter Mann in den fünfziger Jahren. Er wurde nur der Fischonkel genannt, denn über dreißig Jahre hatte er schon mit Astrachan und seinen Fischen zu tun. Dieser Gurow also wartete schon am Bahnhof. Im letzten Augenblick kam Karl Moser und brachte Claudia Paulitsch mit, die ebenfalls auf dem Wege nach der unteren Wolga war. Sie fuhr zu ihrem Mann. Wie viele russische Frauen liebte sie Rotstift und Schminke und kam in einer Wolke von Wohlgerüchen angeweht. Sie war erst zwanzig Jahre alt und stammte aus Riga. Sie liebte die Deutschen nicht. Ihr Mann war Deutschrusse und hatte sich, der Himmel weiß wie, gerade zu dieser Frau heimgefunden. Seine dunklen Nebenverdienste hatte er in Schmuck und Pelzen angelegt, von denen Claudia einen beträchtlichen Teil auch heute gern zur Schau stellte.

Bessemer war ein wenig bedrückt, als der die Frau sah. Claudia hatte ein feines Gefühl für diese Unsicherheit und spielte im ersten Augenblick ein kleines, verständliches Theater, schüttelte ihm sehr herzlich die Hand und lachte. Aber noch mitten im Gelächter versteinerte ihr Mund. Die Zwanzigjährige spielte nicht mehr Theater, sie spielte blutvolles Leben und das war in diesem Falle gerechter und blinder Haß gegen den Mann, der Paulitsch den Hals brechen sollte. Bessemer spielte das Spiel nicht mit, er blieb Zuschauer, fühlte Mitleid und war erst dann voller Gegenhaß, als er um die Eisenbahn die zerlumpten Bettelkinder schwärmen sah, durch deren Elend die junge Dame Claudia wie in einer Wolke von Wohlgerüchen wandelte.

Die Bahnhofsglocke klingelte zum drittenmal. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden nahmen in dem bequemen Abteil Platz. Gregor Gurow hatte als vielgereister Mann einen großen Korb mit Eßwaren bei sich und bot auch Bessemer und Moser davon an. Als er gegessen hatte, hüllte er sich in eine Decke und schlief rasch ein. Claudia saß in einem anderen Abteil und bemalte ihre Lippen. Für einige Minuten kam sie zu Moser und Bessemer, zeigte ihr schönes Gesicht und ging dann auch schlafen. Die zwei jungen Männer aber saßen noch lange wach. Moser erzählte große Geschichten von Sibirien und der chinesischen Grenze. Aber auch dieses Gespräch verstummte. Der Zug hämmerte durch die Nacht und durch das flache Land nach der Wolga hinüber. Die Schienen klirrten. Die Lokomotive ließ die fliegenden Funken ihrer Feuerung wie einen goldenen Schleier wehen. Die ersten Sterne kamen am Himmel hoch und umblühten einen schmalen, silbernen Mond.

Am anderen Morgen wurde auf einer Station vor einer größeren Stadt, die unsichtbar blieb, ein zerlumpter Betteljunge unter dem Schlafwagen hervorgeholt. Schon von Moskau aus hatte er die Fahrt nahe den Rädern mitgemacht. Er wollte nach dem Süden, der Sonne zu, nach Baku oder Taschkent, hieß Grischka Nikitin und stammte aus der Ukraine. Die Hälfte seines Lebens war angefüllt mit Bürgerkrieg, Hunger und Landstreicherei. Kinderheime liebte Grischka nicht. Immer wieder entfloh er, vagabundierte und reiste unter den Wagen der Züge durch das unendliche Land und war in Odessa ebensogut zu Hause wie in Moskau oder Smolensk, das heißt, er war nirgends zu Hause. Der Hunger hatte seine Eltern aufgefressen. Der Hunger war auch sein ewiges Erbteil. Immer hungerte Grischka, auch dann, wenn er gesättigt war. Dann hungerte er nach den freien, bewegten Steppen oder wilden Flüssen, nach den goldgrünen und schwarzblauen Wäldern und den nach Blumen und Brot duftenden Feldern.

Als ihn an jenem Morgen der Eisenbahner unter dem Wagen hervorzog, nahm er ohne großen Protest seinen Bettelsack und lief nach dem Bahnsteig der unsichtbaren Stadt. Angst hatte er keine. Er wußte, daß die Kinderheime auch hier von der letzten Hungersnot noch überfüllt waren. Vom Bahnsteig aus streckte er die schmutzige Kinderhand nach dem offenen Fenster, von dem aus Bessemer und Moser den Vorgang beobachtet hatte.

»Gebt Brot!« sagte er mit heller Stimme und machte traurige Augen, tierhafte Augen, in denen schönes Feuer spielte.

»Da ist Brot, kleiner Satan,« lachte Moser und warf sein Geschenk aus dem Fenster. Grischka fing wie ein Taschenspieler das Brot mit sicherer Hand auf.

»Wohin soll denn die Reise gehen?« fragte Bessemer.

»Weit, Onkel, weit,« sagte Grischka. »Nach dem Süden. Nach Taschkent oder dem Kaukasus!«

»Und wie willst du nach Taschkent kommen?« fragte mißbilligend Gurow.

»Mit der Eisenbahn,« antwortete der Knabe. »Und wenn ich nicht mit eurem Bourgeoiszug fahren kann, die ›Zwanzig Roten‹ nehmen mich allemal mit. Wohin fahrt ihr?«

»Nach Astrachan,« sagte Bessemer.

»Gut,« sagte Grischka, »ich komme auch mit nach Astrachan.«

»In die Tscheka kommst du Teufel, aber nicht nach Astrachan!« drohte Gurow.

»Die haben anderes zu tun, als sich um Grischka zu kümmern,« lachte der kleine Landstreicher. »Wir werden ja sehen, wer früher in Astrachan ist, du oder ich, Onkel.«

»Das werden wir ja sehen, Grischka,« sagte Moser und fügte für Bessemer leise hinzu: »Da haben wir uns ja einen feinen Kameraden aufgehalst. Paß auf, er fährt wirklich nach Astrachan. Das kann ja ein schönes Wettrennen werden!«

»Das glaube ich nicht,« antwortete Bessemer und lachte: »Wie soll der kleine Mann über tausend Kilometer ohne Geld reisen? Hat er sich in uns verliebt? Was will er bei den Fischen?«

»Du wirst ja sehen,« sagte Moser.

Die Glocke schlug zum drittenmal an. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die bisher unsichtbare Stadt zeigte die himmelblaue Kuppelwölbung einer Kirche. Von Grischka war nichts zu sehen.

Der kleine Landstreicher Nikitin aus der Ukraine hatte nicht in den Morgenwind gesprochen, sein Ziel war nicht mehr Taschkent oder Baku, er hatte sein Wort gegeben und wollte nach Astrachan, nein, er mußte nach Astrachan! Und nun begann zwischen dem schmutzigen, namenlosen Jungen und den wohlgesicherten Reisenden das große Wettrennen über tausend Kilometer hinunter an das Kaspische Meer. Grischka brauchte auf die »Zwanzig Roten«, so wurden die Güterwagen genannt, nicht zu warten. Es gelang ihm, den letzten Wagen des Schnellzuges zu packen und wieder einmal zwischen den Rädern nach Saratow zu rasen. Die Reisenden ahnten nichts von dem todesmutigen, lebenshungrigen Passagier. Gurow verschlief den Reisetag und Charly Moser führte lange Gespräche mit Claudia Paulitsch. Jetzt spielte sie ihm das Spiel um den Mann vor. Moser war ein Mann und spielte begeistert mit. Wer siegte in diesem Spiel? Charly siegte, er war ja ein Mann. Claudia siegte, sie war ja eine Frau ...

Saratow liegt an der Wolga und ist eine weithingebaute schöne und schon südliche Stadt. Bis auf die kahlen Berge klettern die Straßen hinauf, sie laufen gerade oder krumm und einige fallen, mit grünen Gärten eingefaßt, scheinbar in das mächtige Fluten der Wolga, der alten Handelsstraße und Kulturrinne, an der sich so viele Völker angesiedelt haben. Die Hauptstraße heißt: »Nemskaja«, also »Deutsche Straße«. Dieser Name ist nicht zufällig. Saratow gegenüber liegt auf der Wiesenseite Prokowsk, die Hauptstadt der deutschen Wolgakommune.

Zwei Tage blieben die Reisenden in Saratow und warteten auf das Schiff, das von Kasan aus die Wolga befuhr. Grischka aber reiste schon in der ersten Nacht weiter und wurde wieder an einem frühen Morgen (er haßte die frühen Morgen) mitten in der Steppe entdeckt, heulte seit langer Zeit zum erstenmal wieder, denn der Zug hämmerte ohne ihn weiter. Die Tränen trockneten rasch. Mit dem Gegenzug reiste er nach Saratow zurück und atmete erleichtert auf, als er zufällig Bessemer und Moser fand, die auf der breiten Nemskaja mit zwei jungen Mädchen spazierten.

Diese Mädchen hießen Nina und Njura und arbeiteten in einer Fabrik, solange es Arbeit gab. Jetzt strichen sie, der Mensch will leben, mit vielen anderen arbeitslosen Mädchen durch die Stadt und suchten und fanden Brot zum Leben und manchmal auch Fleisch und Fisch. Das Fleisch und der Fisch waren an jenem Abend, als Grischka zurückkehrte, Charly Moser und Felix Bessemer. Charly war das Fleisch. Felix war der Fisch.

Nina vergnügte sich mit Moser und Njura hatte Bessemer untergefaßt. Zuerst gingen die vier Menschen in eine Teestube, aßen zur Nacht und versuchten den roten Wein, der seit vielen Jahren wieder ausgeschenkt wurde, und konnten von den zarten jungen Fischen des ersten Herbstfanges nicht genug bekommen. Auch die Mädchen von Saratow waren romantisch, und Berlin und Leipzig waren für sie singende, ferne Welt, Glanz und Abenteuer. Moser und Bessemer mußten viel erzählen. Aber es blieb nicht beim Erzählen. Die Nacht verstreute ihr Gift. Die Mädchen griffen an. Charly wollte nicht immer Sieger sein. Gern ließ er sich zu einer Fahrt in die Vorstadt überreden. Wo alle Ja sagten, konnte und wollte Felix nicht widersprechen.

Die Fahrt ging über holpriges Pflaster durch dunkle Straßen und endete erst an den blauen, schweigenden Bergen. Der Mond stand hoch und rot am Himmel. Auf der Wolga röhrten späte Schiffe. Große Sterne standen auch über dem Holzhaus, auf das Nina schnellen Fußes zueilte und mit dunkler Samtstimme die Wirtsfrau weckte.

Njura hatte alle Bekehrungsversuche aufgegeben. Bessemer war noch zu tief in Nora verstrickt. Als sich aber das Mädchen Moser zuwandte, schäumte auch sein Blut auf. Nina kam wie eine Katze durch das bleiche Dunkel. Bessemer nahm sie in seine Arme. »Kommt,« flüsterte sie, »aber still sein!« In den Stuben des Hauses flammte Licht auf. Die Wirtsfrau hatte ihren Sohn schlafend an der Brust, als die beiden Mädchen mit den zwei Freunden eintraten. Die Wirtin war groß und breit. Sie lächelte und räumte geschwind den Schauplatz. Der Schauplatz war ein großes Zimmer, in dem wehende Vorhänge zwei Betten verdeckten.

Plötzlich mußte Bessemer an das Schlafzimmer im Meyerholdschen Theater denken, an das Spiel hinter der Tür und an die rote, sich drehende Sonne. Er

dachte nicht mehr an Nora. Er ließ sie fahren, in die Nacht fahren, weit fort über alle Grenzen. Sein Herz war grenzenlos. Nora? Nina? Zwei Mädchen und nur ein schöner, junger sich bäumender Leib! Nein, er war schon lange kein Fisch mehr. Der rote Mond stand ja am Himmel. Und in derselben Nacht lag Nora an Nathans Brust und sagte: »Ich liebe dich, Nathanitsch!« Nathan lächelte. Er konnte Bilanzen ziehen und war schon über dreißig Jahre alt ...

Vor dem Hause aber, über dem sich der Mond in den Sternen drehte, lauerte Grischka Nikitin und lachte lautlos. Er hatte die Fahrt an den Saum der Berge laufend mitgemacht. Über eine Stunde stand er da und sah das flüchtige Schattenspiel an den leuchtenden, unverhüllten Fenstern. Als das große Holztor kreischte, trat er in die schwärzeste Dunkelheit zurück und lief auf Umwegen durch die Stadt nach den Mühlen an der Wolga. Dort schlief er mit anderen Kameraden. In den letzten sechs Jahren hatte er viel gesehen und erlebt. Auch das nächtliche Spiel war ihm nicht mehr fremd. Grischka, dreizehn Jahre alt, war schon beinahe ein richtiger Mann.

Immer noch tanzte der Mond in den Sternen, als die zwei Mädchen mit ihren flüchtigen Liebhabern ins Freie traten. Die Berge flössen über vom Licht und erfüllten auch die Straßen mit sanftem Schimmer. Nina und Njura begannen mit einem vogelhaften Gezwitscher und verstummten jäh. Eine Kosakenpatrouille raste vorbei, eine eilige Flucht schwarzer Reiter auf wilden Pferden, die aus dem Dunkel kamen und ins schimmernde Nichts jagten. Noch lange hörte man den Hufschlag der Pferde. Bessemer hörte auch das Herz seiner Freundin schlagen, tuck, tuck, tuck ging das Herz. Auch Njura war aufgeregt und zitterte noch lange. Erst in der Stadt beruhigten sich die Mädchen. Ihre Abschiedsküsse flammten nicht mehr so heiß wie in der einsamen Kammer an den blauen Bergen. Als die Freunde nach ihrem Hotel kamen, hörten sie den hellen Schrei eines Wolgadampfers und vergaßen die Mädchen Nina und Njura.

Das Schiff »Roter Oktober« sollte in der zehnten Stunde am Hafen anlegen. Auf dem Wege zum Schiff wurden die Freunde von einer Frau aus der Wolgakommune angebettelt. Sie sang das jammervolle Lied des Elends, und ihre Stimme war eine Stimme aus dem uralten Choral der Geschlagenen und der Verzweifelten. Die Hungersnot hatte das Dorf überfallen. Eine glühende, götterlose Sonne verbrannte die Frucht auf den Feldern, dörrte die Adern der Menschen aus, warf Gift und Krankheit in die Gemeinde, brachte Entsetzen und Rückfall in die Barbarei. Die Überlebenden krochen wie gequälte Tiere durch das Land, starben unterwegs noch zu vielen Tausenden, verstreuten sich über die Steppen und Wüsten, und wenn sie beteten, da beteten sie um einen Bissen Brot und um einen Schluck Wasser.

Die Frau nun, die in Saratow die Bettelhand ausstreckte, war besonders gezeichnet. Zuerst wurde das Vieh des kleinen Gehöftes krank. Dann starb der Mann. Die Frau rettete sich und ihre drei Kinder in die Stadt und lag jede Nacht auf dem Trümmerhaufen menschlicher Schicksale, an den Mühlen, dem Sammelplatz aller Elenden und Obdachlosen. Die Sonne hatte auch diese Menschen zur Wüste ausgebrannt. Einen Steinwurf von ihrem Lager flutete die Wolga, der fischreichste Strom Europas, aber mit fanatischer Ergebenheit ließen sie alles vorüberfluten, das Leben, den Strom, die vielen Fische.

Diese Vision erfüllte Bessemer beim Anblick der Frau. Er ließ in ihre Hand einige Geldscheine flattern. Als sie aber die Hände des Reisenden küssen wollte, so asiatisch und ergeben war sie schon, da floh er nach dem Hafen, verhärtete sein Herz und dachte an den roten Mond.

Um die Landungsbrücken hatte sich ein kleiner Jahrmarkt aufgebaut. Bessemer sah um sich und beobachtete die anderen Menschen, die auf das Schiff warteten. Es waren Bauern, kleine Händler, Beamte, Soldaten und Beauftragte aus dem fernen Moskau, die der Befehl irgendwohin warf, vielleicht an die indische Grenze oder nach dem Kaukasus. Die schwimmende Brücke wogte auf und ab von den nächtlichen Reisenden. Gregor Gurow und Claudia Paulitsch grüßten. Der »Rote Oktober« war noch nicht sichtbar, aber Charly Moser kam und strahlte wie ein Held. Bis vor einer Stunde war er noch mit Njura beschäftigt gewesen. Der Glanz des letzten Sieges leuchtete von seiner Stirn. Er hatte noch viel Zeit übrig und versorgte sich in den Basars mit Brot und Fleisch. Endlich schrie doch der ferne Dampfer. Sein Signallicht tanzte zwischen den Sternen. An den Landungsbrücken lagen neben den Güterballen viele Obdachlose. Mit einen von ihnen kam Moser ins Gespräch.

»Es wird kalt werden, Brüderchen, nachts am Fluß,« sagte er.

»Kalt?« wiederholte langgedehnt der Barfüßler. »Warm wird mir jede Nacht, solange mein kleines Feuer brennt!« Er lachte und deckte die Lumpen seines Lagers auf und zeigte ein Mädchen, das sich mit hellem Gelächter an ihren Liebsten kuschelte. Plötzlich aber schrie sie auf und verbarg das Gesicht. Charly Moser erstarrte. Das Mädchen war Njura, die er vor einer Stunde geküßt und verlassen hatte.

Der »Rote Oktober« schrie auch auf, aber viel voller und tiefer, und brüllte alle Reisenden zusammen, die wolgaabwärts fahren wollten. Auch für Grischka schrie das Schiff. Es gelang dem kleinen Landstreicher, sich unter das bärtige Volk zu mischen und einen Platz im Bauch des Dampfers zu erobern, unterzutauchen, Sonnenblumenkerne zu kauen, Melonen zu essen, die Nacht und den Tag zu verschlafen und allen Kontrollen wie ein scheues und schlaues Tier zu entgehen. So reiste auch Grischka aus Mirgorod in der Ukraine die Wolga hinunter und schlief nicht schlechter als die vornehmen Passagiere oben am Verdeck des Schiffes in den hellen, sauberen Kabinen.

Die Lichter von Saratow löschten aus. Lichter und Feuerschein aus kleinen Dörfern blühten auf. Nicht lange blühten die Feuer und Lichter. Alles ertrank und versank. Nur das Schiff lebte. Seine Maschinen stampften rhythmisch. Aber zu den taktmäßigen Hymnen der Maschinen stieg eine neue Musik auf: das Volk im Bauche des Schiffes begann zu singen, der dunkle Bauch war kein Bauch mehr -- das Herz des Landes sang über dem schwarzen Wasser.

Bessemer konnte nicht schlafen und wanderte mit breiten Schritten auf dem Verdeck und ging wie in einer Wolke schwermütiger Musik. Die Nacht, die Quelle aller Schwermut, berührte sein Herz und machte es wunschlos und sehnsüchtig. Der schwarze Schattenriß des Schiffes, von den vielen Lampen und Lichtern geisterhaft erhellt, diente seiner eigenen Schwere und unwahrscheinlichen Gesetzen, trieb unter den Sternen dahin, die Wellen des Stromes schlugen an die dünnen Wände, das Wasser gurgelte schwarz und schäumte weiß in der Fahrrinne, ab und zu schrie die Sirene, dann drehte sich das Schiff, schwamm gegen den Strom und legte sich in einer phantastischen Schleife an das nachtschwarze Ufer, ruhte an den Landungsbrücken, die aus dem Schlaf erwachten und wie vom Tode aufstanden, einige Minuten, nahm neue Güter oder Menschen auf, schrie noch einmal, aber hastiger und heiserer, und setzte die Reise fort. Die Maschinen dröhnten. Die Wolga rauschte. Die Lieder im Bauche des Schiffes waren eingeschlafen.

Als der einsame Wanderer am Verdeck endlich nach seiner Kabine ging-- auch er war müde geworden -- streifte ihn im engen Gang eine Frau. Es war Claudia Paulitsch, die von Charly doch die Aufträge für Astrachan erfahren hatte. Bessemer trat höflich einen Schritt beiseite und gab den Weg frei. Wortlos und rätselhaft lächelnd ging Claudia vorüber, schöpfte auf dem Verdeck frische Luft, starrte in die Sterne und ging dann gedankenvoll in ihre Kabine zurück. Gurow schlief, Charly schlief, Bessemer schlief, nur Claudia schlief nicht. Sie dachte an Astrachan und das Mandat des Fremden, der ihrem Manne den Hals brechen sollte. Sie biß mit den weißen Zähnen in die vollen Lippen, und ihr Gesicht war kalt und berechnend.

Am nächsten Morgen stand die Sonne golden über der Wolga und zeigte die verdorrten Hügel der Bergseite und die tiefen, vom Herbst schon leicht verfärbten Flächen der Wiesenseite. Bessemer hatte traumlos geschlafen und um wanderte das Schiffsverdeck. Lange starrte er in das weiße Gischtwasser der Fahrrinne, aber vielleicht noch länger in die Tiefe des Schiffes, wo das namenlose Volk in der dritten Klasse dicht beieinander lag. Er stieg hinab in das Volk, erblickte einen Knaben, der Grischka sein konnte, aber ebenso gut ein Wladimir oder Nikolai, und kam mit einem Lehrer aus der deutschen Wolgakommune ins Gespräch, der nach dem Kaukasus reiste. Das Gespräch endete in der Blutnähe persönlicher Erlebnisse und Berichte aus der Hungersnot, von der ja Bessemer auch in Moskau und Saratow Spuren gesehen hatte, nicht nur den kleinen Vagabunden Grischka, die Frau in Saratow und die Mädchen Nina und Njura.

Wie von eigener Schwere trunken trieb der Strom nach dem Meere, trug geduldig die vielen Schiffe und Barken, teilte sich und umarmte die Landschaft. Inseln stiegen aus dem Wasser, Sandbänke bauten breite Barrikaden. An vielen Stationen legte der »Rote Oktober« an, drehte sich, lag quer im Wasser, verweilte an den Landungsbrücken einige Minuten. Die Basare am Strande wachten für kurze Zeit auf, Milch wurde verkauft, Obst, Fleisch und Brot, neue Passagiere stürmten das Schiff, die Schattenrisse unbekannter Städte wurden sichtbar und ließen die goldenen Flammenblitze kostbarer Kirchen auf den zeitlosen Strom niedersausen. Dann brüllten wieder die Sirenen, das Schiff bewegte sich, die Maschinen stampften, das Volk begann im Schiffsbauch zu singen und verwandelte diesen Bauch in ein tönendes Herz. Fischerboote tanzten in zuckender Kette über das träge dahinfließende Wasser.

Claudia machte sich schön und wanderte mit einem jungen Offizier über das Verdeck, Gurow und Charly Moser spielten Schach, Bessemer knüpfte mit einigen Reisenden neue Gespräche an. Diese Männer hatten den Bürgerkrieg mitgemacht. Ihre Erzählungen trieften auch jetzt noch von Blut und fanatischer Entschlossenheit. Einer erzählte vom Bürgerkrieg an der Wolga. Gefangene wurden nicht gemacht. Sie wurden gefesselt in das eistreibende Wasser geworfen. Durch viele Dörfer lief die Front und riß die Familien auseinander, den Vater in die Weiße Armee, den Sohn in die Rote Armee. Die Waffen waren gegen das eigene Fleisch und Blut gerichtet. Millionen kämpften, Millionen starben. Rußland war ein einziges Schlachtfeld geworden ...

Als Bessemer schwermütig werden wollte, kam zur rechten Zeit Charly Moser und strahlte. Er hatte den Fischonkel Gurow dreimal matt gesetzt. Er lächelte und stieg in das Zwischendeck und kam nach einigen Minuten aufgeregt zurück.

»Denke dir,« sagte er zu Bessemer. »Denke dir, ich glaube, ich habe da unten den Grischka gesehen!«

»Du wirst Gespenster gesehen haben, Charly,« sagte Bessemer. »Wie sollte er auf das gut überwachte Schiff kommen?«

»Ich sah ihn nur flüchtig,« gab Moser nach. »Und mit den Kindern geht es mir wie mit jungen Hunden, ich verwechsle sie regelmäßig. Ich habe mal in Urga einen Hund gehabt.«

»Laß den Hund von Urga laufen, Charly,« sagte Bessemer. »Laß uns, wenn du willst, von Grischka reden. Glaubst du wirklich, er will nach Astrachan?«

»Warum nicht? Was soll er in Baku? Wer lebt, wird sehen. Und noch leben wir. Aber das sage ich dir, sollten wir ihn wirklich in Astrachan treffen, der Teufel auch, drei Rubel will ich wetten, daß er es doch nicht schafft!« sagte Moser.

»Ich nehme die Wette an und setze fünf Rubel dagegen. Das Geld wird bei unserem Fischonkel deponiert. Los, Charly! Und weißt du, wenn er es wirklich schaffen sollte, da nehmen wir ihn einfach mit in unsere Fischerei, im Wasserschutz ist allemal noch Platz. Wir machen einen guten Sowjetmann aus ihm. Einverstanden, Charly?«

»Einverstanden!« sagte Moser und ächzte doch, als er sein Geld bei Gurow deponierte.

»Noch ein Wort, Charly,« sagte Bessemer und wurde ernst. »Du hast doch bei der Paulitsch nicht den Vorhang von meinem Reiseauftrag gelüftet?«

»Beruhige dich, Felix, ich habe bei der Paulitsch etwas ganz anderes gelüftet,« sagte Moser und lächelte zynisch.

Claudia Paulitsch, von den Männern nur noch die Paulitsch genannt, hatte sich am zweiten Tage der Reise mit Pjotr Borodin angefreundet, der an die Front nach Buchara ging. Je mehr er sich dem Rande des Todes näherte (er fiel beim ersten Gefecht und schien das vorauszuahnen), um so inniger schloß er sich dem Leben an. Das Leben, was war das Leben? Eine junge zwanzigjährige Frau, Claudia Paulitsch aus Riga, wohnhaft in Moskau, schwarze Haare und weißes Gesicht. Das war das Leben für Pjotr Borodin aus Samara.

Damit sich der Kreis schließe, muß berichtet werden, daß sich in diesen schönen Herbsttagen die Tänzerin Nora Nintitsch an den Chemiker Richard Nathan immer fester anschloß und mit ihm oft nach den Sperlingsbergen fuhr, nach jenen heiteren Höhen über dem Flusse Mosqua, der schwärmerisch durch den Goldglanz Moskaus wandelt. Nora ließ ihr Herz tanzen und Nathan fand die Grundstoffe des Daseins: die Bitternis und Süßigkeit der Liebe. Auch das sei noch gesagt, daß der Ingenieur Nintitsch durchaus nicht schwindsüchtig war. Er war mit anderen Dingen beschäftigt. Aber das stimmte ganz genau, auch das konnte tödlich werden.

Am dritten Tag der Reise kam Astrachan in Sicht. Türme und Häuser stiegen aus dem Wasser, eine kleine Werft drängte sich an das Ufer, Schlepper, Barken und Barkassen belebten die Flut, Motorboote sausten vorbei, der »Rote Oktober« legte dampfend an den Landungsbrücken an. Das Schiff leerte sich und auch Grischka kam an das sichere Land. Die Moskauer Reisenden verließen ihre Kabinen. Der erste bekannte Mensch, den sie erblickten, war Grischka. Er zog die schmutzige Mütze und war ein einziges triumphierendes Gelächter. Auch Bessemer lachte, Charly fluchte und Gurow blätterte acht Rubel mit ernstem Gesicht auf. Paulitsch kam herangestürzt und umarmte und küßte seine Frau. Pjotr Borodin wußte jetzt ganz genau, daß er bald sterben würde.

»Nun, da seid ihr ja,« begrüßte Paulitsch dann die Reisenden. »Habt ihr neue Zeitungen mit?«

»Die allerneuesten!« sagte Moser.

»Grischka, Grischka, steig mit ein,« sagte Bessemer zu dem kleinen Vagabunden. »Du hast das Wettrennen gewonnen. Gurow, gibt dem kleinen Mann das Geld. Hast du Lust, Grischka, bei uns zu bleiben und zu arbeiten? Wenn ja, einsteigen! Wir fahren los!«

»Ich habe große Lust und nun fahrt los!« sagte Grischka und versteckte die Geldscheine in einer von seinen abgründigen Taschen.

Der Wagen ratterte über das Pflaster, tanzte über Steine und versank in tiefe Löcher. Der kahle Mastwald einer Fischerflottille wurde sichtbar. Graue Straßen mit häßlichen Häusern taten sich auf. Wüstenwind stieß heran und trug rieselnde Sandwolken. Als die Reisenden das Verwaltungshaus der Fischerei erreichten, wurden sie von der Droschke Paulitschs eingeholt.

»Ach,« sagte er atemlos, »ich habe ja ganz vergessen, eure Zimmer in Ordnung bringen zu lassen. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch im Hotel zum Bären wohnen!«

»Schon gut,« antwortete Bessemer, »schon gut, Paulitsch, wir bleiben in der Verwaltung. Ich glaube, in den nächsten Tagen ist viel Arbeit. Heute abend soll die erste Sitzung sein.«

»Schön, ich werde pünktlich und vorbereitet erscheinen,« sagte Paulitsch.

Charly senkte schuldbewußt den Kopf.

Er hatte bei Claudia schon den Vorhang über den Reiseauftrag Bessemers gelüftet.


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