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Die endlose Nacht

»Was soll nun werden?« fragte Doktor Schill, und man hörte Angst in seiner Stimme. »Was soll nun werden? Wir haben die Festung inspiziert. Felix, die Streikzeitung wird gedruckt, die Setzer warten auf Manuskript. Also los. Wir haben fünfzig Gewehre, aber wenn die Soldaten kommen, sind wir verkauft. Fünfzig Knarren! Das ist Ja Wahnsinn. Aber ein schöner Wahnsinn! Los, an die Arbeit!«

»Die Soldaten?« fragte Lewitzki. »Unsinn, die ganze Stadt hat sich erhoben und ist auf unserer Seite.«

»Das kannst du hören, jetzt, in diesem Augenblick,« flüsterte Bessemer und hatte die Stimme gesenkt, wie fast alle die Stimme gesenkt hatten und nur leise miteinander sprachen. »Das kannst du eben hören, Lewitzki, wie sehr die ganze Stadt auf unserer Seite ist.«

Durch die Hochrufe von der Straße hörte man ganz klar das schrille Niedergeschrei einer Gegendemonstration. Das Soldatenlied war schon ganz nahe. Auch die Studenten rückten an. Die enge Straßenschlucht vor der belagerten Zeitung glich jetzt einem brüllenden Hohlpaß, um den erbittert gekämpft wurde, jetzt noch mit Hoch und Nieder, aber ...

Da fiel ein Schuß. In die sausende Ruhe, die dem Schuß folgte, auf der Straße und in der Zeitung, sagte der Russe mit seiner freundlichen Stimme:

»Jetzt geht es los. Sind eure Pistolen in Ordnung?«

»Ich habe keine Pistole,« antwortete Schill und errötete. »Bis heute habe ich nur mit geistigen Waffen gekämpft ... Ist das aber komisch: Wir sind für eine neue und bessere Weltordnung, die allen Menschen mehr Glück geben kann, und gegen uns wird nun geschossen!«

»Gar nichts ist komisch, Herr Doktor,« antwortete Lewitzki und ließ die Augen funkeln. »Gar nichts ist komisch! Glauben Sie denn, die Menschen ließen sich durch schöne Worte oder liebevolle Bücher überzeugen? Denken Sie an die Bibel und daran, daß gerade im Namen des Christentums die blutigsten Metzeleien geschehen sind! Denken Sie an die letzte Schweinerei, den Weltkrieg! An die Inkas! An die Inquisition und so weiter. Alles im Namen der christlichen Liebe und Barmherzigkeit. Eine schöne Liebe! Eine schöne Barmherzigkeit! Nein, Doktor, aus zerschossenen Barrikaden wird das Bauholz für die neue Welt geschlagen!«

Das wilde Blut seines Großvaters, der achtundvierzig in Deutschland und einundsiebzig in Frankreich für die Freiheit gekämpft hatte, durchbrauste Lewitzkis Herz.

Wie eine schwarze, ungeheuerliche Woge raste nun der Straßenlärm empor voll dunkler Schreie und Hochrufe, eine chaotische Woge, die der Ozean in die Brandung einer steilen Küste schleudert. Als die Wogen sich zerbrachen, stürzte eine junge Frau auf die Freunde zu. Eine Frau, die plötzlich aus dem Dunkel auftauchte, keiner wußte woher, keiner hatte sie vorher gesehen, keiner brauchte sie in dieser Nacht der Männer.

»Es geht los, es geht los!« schrie sie Lewitzki an. Ihr Gesicht war ganz verzerrt. Aus ihren Augen flammte weißes Licht. »Es geht los, es geht los. Die Soldaten kommen. Habt ihr den Schuß gehört? Der erste Tote von uns liegt auf der Straße in seinem Blut!« Sie wartete auf keine Antwort und lief weiter.

»Wer ist das?« fragte verwundert der Doktor Schill.

»Weiß nicht,« sagte Lewitzki.

Da fiel der zweite Schuß.

Noch einmal erhob sich die schwarze, ungeheuerliche Woge vom Grund der nächtlichen Straße, zerschellte an den kalten Wänden und rollte durch alle Gänge und Zimmer der besetzten Zeitung. Auf ihrer schneeweißen Kuppe stand das Klagegeschrei eines Verwundeten.

»Mörder! Mörder!« gellte eine Stimme.

Die Soldaten rückten an.

Ja, die Soldaten rückten an, aber in der gleichen Stunde saß bei Herrn Korff der ehemalige Hauptmann Kries, rauchte eine Zigarre und hörte, was sein Gastgeber zu sagen hatte. Kries liebte Herrn Korff nicht leidenschaftlich, aber sie waren alte Bekannte und es war wohl mehr die Gier nach Abenteuer, die dem Hauptmann zu dem Fabrikanten und Spekulanten geführt hatte.

Die wilde, erregte Nacht hatte sein Blut aufgewühlt, und nun saß er da, groß und schwer wie Herr Korff und hörte gelassen zu.

»Herr Hauptmann, die Sache ist die,« sagte Korff, »wir haben uns in der letzten Zeit nicht immer gut verstanden. Ich habe Sie hergebeten, weil ich für Waffenstillstand und gegenseitige Hilfe bin. In Berlin kracht der militärische Schlamassel zusammen, das wissen wir beide. Ein General an der Spitze eines Industriestaates ist ein verdammt schlechter Witz! Nein, ich bin nicht für die Militärdiktatur. Auch nicht für den Paragraphen 48, Diese Zahl hat eine zu ominöse Vergangenheit. Ich bin für die Republik. Die Republiken haben den letzten Krieg gewonnen, ich bin ein Mann der Tatsache und heiße Korff.«

»Ich bin ganz Ohr, und am neugierigsten bin ich auf das, was Sie jetzt sagen werden.«

»Kurz und gut: jetzt wendet sich das Spiel, Hauptmann. Jetzt kommen wir an die Macht. Wir müssen uns gegen das Chaos stemmen. Mit allen Mitteln. Unsere Arbeiter sind verrückt geworden und haben eine Zeitung besetzt.«

»Ihre Zeitung, Korff?«

»Zufällig meine Zeitung. Was heißt meine Zeitung? Ich persönlich informiere mich gewöhnlich aus der Berliner Presse ... Aber das ist nicht wichtig. Hören Sie, Hauptmann, ich habe mich mit einigen Leuten zusammengetan, wir haben alles sehr gründlich besprochen und sind der Meinung, daß die Polizei versagt hat. Also müssen wir selber eingreifen. Selber ein wenig Regierung und Vorsehung spielen.«

»Wie wollen Sie das machen? Was für eine Losung haben Sie?«

»Das Eigentum ist in Gefahr.«

»Das Eigentum?«

»Jawohl, Hauptmann, das Eigentum!« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Und wir haben nicht nur gesprochen, Hauptmann, wir haben auch unsere Vorbereitungen getroffen. Der Leutnant Klemm zum Beispiel hat sich mit der Wachkompagnie zur Verfügung gestellt.«

»Ja, und?«

»Ja, und?« wiederholte Korff, »Ja, und? Nun, das ›Und‹ ist so: wir wissen, daß Sie, Herr Hauptmann, großen Einfluß auf das Bataillon haben. Wir wollen also die ganze Geschichte legalisieren. Wenn das ganze Bataillon mitmacht, ist erstens der kleine Klemm gedeckt und zweitens ist diese Nacht sowieso schon so wahnsinnig und so wüst, daß es ein Wunder ist, wenn das Bataillon nicht mitmachte. Klemm wird die Sache schon allein schmeißen, aber ich fürchte, der junge Mann ist etwas zu heftig. Also: machen Sie mit? Die Entscheidung ist da. Und da geht es letzten Endes auch mit um Ihren Kopf und Kragen.«

»Eigentlich nicht so sehr,« lachte der Hauptmann, »ich habe nämlich mein Vermögen gut und sicher in der Schweiz untergebracht. Im übrigen: die ganze Gewehrlage ist schief, Herr Korff, wie wir alte Frontsoldaten zu sagen pflegen. Was ist los? Putsch in Berlin und Gegenputsch bei uns? Nun, das sind ja letzten Endes nur kleine Erdgeräusche, die einen alten Philosophen wie mich nicht mehr stören und aus der Ruhe bringen.«

»Ich bin kein Philosoph, Hauptmann,« sagte Herr Korff, »aber ich sehe, Sie haben einen harten Kopf. Wenn ich Sie nicht überzeugen kann, wird es Nina sicher gelingen.«

»So ein Haifisch,« dachte der Hauptmann vergnügt, als der andere aus dem Zimmer gegangen war. »So ein Haifisch. Er ist böse, weil andere Leute nach seinem Futter schnappen und weil sich die kleinen Fische nicht ohne Zappeln fressen lassen wollen. Er hat ein gutes Gebiß, der olle Korff.«

Dann kam der »olle Korff« mit seiner jungen Frau.

»Herr Hauptmann!« rief Nina und streckte ihm die weißen, wohlgepflegten Hände entgegen, »Herr Hauptmann, endlich haben wir einmal das Vergnügen. Das letzte Mal sahen wir uns in Italien. Was sagen Sie zu der Revolution in der Stadt?«

»Er betrachtet die Dinge philosophisch,« scherzte Korff. »Er meint, das seien doch nur kleine Erdgeräusche.«

»Sagen Sie ›kleines Erdbeben‹, Herr Hauptmann, und Sie haben die Wahrheit gesagt. Auch bei uns in Moskau fing es mit Demonstrationen, Streiks und Besetzungen an,« sagte die junge Frau und runzelte die Stirn. »Aber wir haben, als wir nach der Stadt wollten, unter den Leuten einen Russen gesehen!«

»Einen Landsmann, gnädige Frau?«

»Sie sind abscheulich!« zürnte Nina. »Ich danke für solche Landsleute! Der Mann wollte uns damals in Moskau verhaften, der Bluthund.«

Das interessierte den Hauptmann Kries. Er ließ sich lang und breit von jener Moskauer Episode erzählen, und Nina malte mit zuckenden Händen die Gefahren ihrer Flucht über Charkow, Kiew und Odessa, und ihre schönen Hände beruhigten sich erst, als sie von Paris und von Dresden berichtete.

»Und nun ist dieser Mann hier, der uns aus Moskau vertrieben hat, will wahrscheinlich russische Methoden auf Deutschland übertragen, Blut und Tod, Terror und Tscheka. Ich habe wahnsinnige Angst, Herr Hauptmann. Sie müssen uns helfen. Sie können auch helfen, wenn Sie nur wollen.« Sie streckte die Arme aus.

Der Hauptmann war ein Mann und schließlich, dachte er, die Russen! Man hat in den Zeitungen allerhand gelesen. Die kleine Korff hat nicht so unrecht. Die Tscheka, was brauchen wir in Deutschland eine Tscheka! Was brauchen wir überhaupt Russen in Deutschland?

»Wer macht denn hier bei uns die ganze Sache?« wandte er sich an Korff, »ich meine die andere Seite?«

»Da ist ein Aktionsausschuß, und der scheint von einem gewissen Lewitzki und einem gewissen Lobe geleitet zu werden,« erklärte Korff. »Der Lobe ist ein alter, vernünftiger Arbeiter, ich habe nichts gegen ihn, er hat zwanzig Jahre bei mir gearbeitet. Der Lewitzki ist ein ganz grüner Junge. Dann sind die Gewerkschaften dabei und die Partei natürlich. Die Sozis, die Usepeter und die Spartakisten. Dann ist noch ein gewisser Doktor Schill, ein gewisser Bessemer, der junge Kerl, den wir in Italien trafen, und der Russe. Das sind die Leute, die sichtbar auf der Bühne stehen. Wer die eigentlichen Drahtzieher sind, weiß ich nicht. Vielleicht Leute aus Berlin.«

»Der Doktor Schill, der die Bücher geschrieben hat? Das ist sonderbar. Ja, an den Bessemer erinnere ich mich noch ganz gut. Er las uns damals Gedichte vor. Er hätte bei der Lyrik bleiben sollen ...«

»Der Doktor Schill ist nicht so gefährlich, Herr Hauptmann,« sagte Nina. »Er ist ein Schwärmer, ein Idealist. Der Russe! Der Russe!«

»Der Russe ... Ich habe nichts dagegen, wenn sich das Volk untereinander die Köpfe einschlägt, das liegt im Wesen der menschlichen Natur begründet,« sagte der Hauptmann. »Aber daß ein Mann aus Moskau den Knüppel hebt, das geht gegen die Spielregeln ... Nina Rschewskaja möge befehlen.« Er beugte sich über ihre Hand und sagte dann weiter, »wir haben den Krieg verloren, weil sich unsere Leute in die Angelegenheit von andren Leuten einmischten. Sie haben mich überzeugt. Ich setze mich mit dem Bataillon in Verbindung.«

Die Russin nickte und rauschte davon, schön und jung, ein wildes Lächeln um den roten Mund.

»Nun?« fragte Korff.

»Ich bin bereit, an der Legalisierung mitzuhelfen. Aber der Leutnant Klemm hat ausgeklemmert. Ich übernehme die Verantwortung. Ist die Kompagnie schon aufmarschiert?«

»Ja, sie stehen wohl jetzt vor der Zeitung.«

»Und die Polizei?«

»Polizei versagt. Das Bataillon schwankt hin und her. Zwischen Republik und Monarchie. Wie immer. Ich habe die besten Nachrichten, daß sich die alte Regierung behauptet.«

»Ich auch,« sagte Kries. »Ich zögre nicht, zu sagen, daß morgen früh dieser Nachtspuk ein Ende hat. Der Russe hat mich aus der Ruhe gerissen. Die gnädige Frau kann ruhig schlafen.«

An die Fensterscheiben trommelte der Regen. Der Lichtkegel des Scheinwerfers streifte auch die Villa des Herrn Korff und fiel kalt, weiß und hämisch in das dämmrige Zimmer, in dem die zwei Männer saßen. Der Hauptmann sprang auf, als ihn das weiße Licht berührte, und verabschiedete sich.

»Auf einen schönen Guten Morgen für Nina Konstantinowka Rschewskaja!«

»Ich werde die Empfehlung übermitteln,« sagte Korff. »Was spricht der alte Narr von Nina Rschewskaja? Korff heißt sie, Nina Korff,« dachte er.

Der Hauptmann aber war in langen Sprüngen die Treppe hinuntergerast. Sein Auto stand vor der Tür. »Nach der Kaserne!« befahl er seinem Chauffeur, und der Motor begann zu rattern.

Der Park war ein dunkles Ungeheuer in der kalten Nacht voller Schatten, Sturm und Frost. Die weißen Lichtkegel der kleinen Autolampen fraßen sich zischend in die Dunkelheit. Kries passierte die Barrikade, sie war verlassen. Das Lastauto lag tot und halbzerschlagen an der Straße. Die Kaserne war bald erreicht. Während der sausenden Fahrt hatte er sich einen verrückten Plan zurechtgemacht. Ja, der Russe hatte ihn zuerst gereizt, aber dann, als er noch ernst bei Korff und seiner Frau saß, hatte er innerlich gelacht. Da war ja noch ein russischer Mensch da, die Nina Rschewskaja, und da beschloß er, das Spiel aufzugreifen, mitzumachen, in dieser Nacht als Gott über den Dingen zu schweben und die kleinen Erdgeräusche zu einem harmonischen Ende zu führen. Er wußte schon lange, daß der Putsch in Berlin am Verrecken war und der Putsch in der Stadt klanglos untergehen mußte. Was war schon die Provinz? Es ging ja um mehr als um die Zeitung des Herrn Korff, es ging um mehr als um den kleinen Napoleon, der einen grünen Leutnant bestochen hatte, damit er für ihn Krieg führe. Es ging um das neue Deutschland, von dem gerade die andere Seite, die der Arbeiter, viel schönere Lichtbilder entwarfen, als die Männer mit den Bergwerken, Zeitungen, Zellstoffabriken oder Rittergütern.

Warum hatte sich der Doktor Schill auf die Seite der Arbeiter gestellt? Warum schrieb der junge Felix Bessemer keine lyrischen Gedichte mehr, sondern besetzte mit seinen Freunden eine Zeitung, um in der Nacht ein Streikblatt herauszubringen? Warum brachen die Proleten aus ihren Jammerhöhlen auf und entfalteten während ihrer Demonstrationen die großen, roten Fahnen und trugen sie wie Heiligenbilder durch eine verdreckte und verlogene Stadt? Warum, immer nur Warum? dachte der Hauptmann auf dieser nächtlichen Fahrt.

Der Major von Schmidt, der das Bataillon befehligte, war von dem Abmarsch der Wachkompagnie vollkommen über den Haufen geworfen, und als sein Freund, der Hauptmann Kries kam, war er nahe daran, das ganze Bataillon gegen die Zeitung zu schicken und sich den Berliner Generalen anzuschließen, vor allem, um den kleinen Leutnant zu decken. Er ließ sich von Kries sofort vom Zusammenbruch des Berliner Abenteuers überzeugen und ebenso gern gab er ihm die Oberleitung über die gegen die Zeitung schon eingesetzten Soldaten.

Es war spät in der Nacht.

Von den Bergen stieß heftiger Sturm. Der Regen hatte aufgehört. Auch der Scheinwerfer war plötzlich erblindet. Die Demonstration vor der Zeitung hatte sich aufgelöst. Die Arbeiter waren in ihre Vororte abgezogen. Auch die Bürgerwehr, die Studenten und die müßigen Zuschauer und Schlachtenbummler hatten sich gedrückt. Ein kleiner Haufen junger Leute hielt noch tapfer an der Zeitung aus, fror, sang ab und zu ein Lied, begeisterte sich an den Hochrufen auf die Revolution und auf die Republik, und löste sich endgültig auf, als die Soldaten anrückten und die Straße säuberten. Die Straße war gesäubert, ein junger Fabrikbursche wurde verwundet, ein Arbeiter war erschossen. Die Straße in der Nacht war nichts mehr als eine versteinte Ader, eine tiefe Rinne im Quaderleib der Stadt. Der Tote lag nicht mehr auf der Straße. Seine Freunde hatten ihn in den dunklen Torweg der Zeitung getragen. Dort lag er im Schatten der Barrikade, die den Weg nach den oberen Zimmern absperrte.

Der Leutnant Klemm, der den Toten auf dem Gewissen hatte, war ein noch ganz junger Mensch mit bartlosem Gesicht, in dem die Augen wie frierende Sterne standen. Den Weltkrieg hatte er als blutjunger Gymnasiast mitgemacht, als Mann und Leutnant kam er aus dem Schlachtfelde zurück, das Herz voller Ehrgeiz, und blieb Soldat. Mit seinen Freunden träumte er oft vom kommenden Krieg gegen Frankreich und vom fahnenumrauschten Einzug in Paris. Mit beiden Händen hatte er den Vorschlag Korffs, die Zeitung zu entsetzen, aufgegriffen. Am liebsten hätte er für sich allein die Berliner Generale unterstützt. Er war für die Diktatur. Da lag nun die leere, kalte Straße in der Nacht. Sturm heulte von den Bergen und fegte über die Steine. Die Straße war gesäubert. Ja, sie war so gut gesäubert, daß ein Arbeiter für immer verstummte und ein anderer seinen Enkeln noch mit haßerfüllten Augen von jener Nacht und jenem Leutnant erzählen würde.

Zu diesem jungen Leutnant, der mit sieben Maschinengewehren und hundert Karabinern sich zum Sturm auf die Zeitung rüstete, kam der Hauptmann Kries. Er war schon angemeldet, Leutnant Klemm eilte herbei.

»Herr Hauptmann,« meldete er militärisch, »Leutnant Klemm mit hundert Mann zur Stelle. Übergebe mein Kommando Herrn Hauptmann.«

»Lassen Sie die Kompagnie rühren,« befahl der Hauptmann. »Die Maschinengewehre zurücknehmen. Die Handgranaten in die Kisten. Wir wollen es erst mit Verhandlungen versuchen. Ich werde verhandeln. Sonst alles ruhig gewesen, Leutnant? Nichts Neues?«

»Zu Befehl,« sagte der Leutnant und setzte zögernd hinzu: »Zu Befehl, alles ruhig gewesen. Bis auf den Anfang. Da ist geschossen worden.«

»Aus dem Zeitungsgebäude?«

»Nein, auf der Straße.«

»Da war es hohe Zeit, daß ich kam. Sie hatten doch Befehl, Leutnant, nicht zu schießen? Kein Blut!«

»Zu Befehl!« sagte der Leutnant mit unbeweglichem Gesicht.

Der Hauptmann wandte sich schroff ab.

»Ich brauche drei Mann, die auch den Teufel aus der Hölle holen würden,« sagte er zur nächsten Soldatengruppe. »Wer will mit die Teufel aus der Hölle holen? Freiwillige vor!«

Zehn Mann traten vor.

»Schön. Der und der und der,« sagte er und wählte drei Mann aus. Er hing sich einen Soldatenmantel um, ging auf das Zeitungsgebäude zu, beachtete die Gewehre nicht, die gläsern aus den dunklen Fensterhöhlen starrten, und pochte mit der Pistole an das schmiedeeiserne Tor.

»Aufmachen! Vorwärts, aufmachen! Wir müssen die Leitung sprechen. Wir sind Parlamentäre.«

Der Matrose Becher näherte sich mißtrauisch.

»Sind Sie hier der kommandierende Admiral? Wir müssen die Leitung sprechen, Herrn Lewitzki und Herrn Bessemer und auch den Doktor Schill,« sagte der Hauptmann Kries.

»Was wollen Sie von Lewitzki und Bessemer?«

»Das sind unsere Sorgen, mein Junge. Melden Sie Parlamentäre an.« Zu den Posten gewandt fuhr er fort: »So schließt doch endlich das verdammte Tor auf. Es wird Zeit, und wir haben schon kalte Füße!«

Da schob Becher die Posten beiseite und öffnete selbst das Tor.

Der Hauptmann und seine Soldaten traten ein.

Plötzlich stolperte Kries. Er war auf den Toten getreten, dessen wächsernes Gesicht im Schein einer kleinen Lampe maskenhaft zu lachen schien. Der Hauptmann zuckte zusammen, aber Becher schritt leichtfüßig voran, er lebte ja, und er lebte gerne. Bald waren die oberen Zimmer erreicht.

Der Hauptmann riß die Augen weit auf, dann schloß er sie, aber in ihrem Blickfeld, ob sie nun offen oder geschlossen waren, lag immer ein toter Mann im Schatten einer Barrikade. Nein, er lag nicht mehr starr und wächsern auf den kalten Steinen, dem Hauptmann war es, als lebe er, als sei er ein Posten neben den anderen Posten an den kahlen Fenstern, ein wachsamer Toter mit entsichertem Gewehr, den Blick auf die Feinde seiner Klasse gerichtet.

Der Hauptmann schritt weiter. Er hatte viele Tote im Kriege gesehen, hunderte, tausende, aber ganze Leichenhügel hatten ihn nicht so sehr erschüttert, wie dieser einzige Mensch da unten im kalten Flur. Ihm war, als höre er durch alle Arbeitsgeräusche des nächtlichen Hauses den geisterhaften Tritt des Erschossenen. Die großen Rotationsmaschinen stampften immer noch. Unzählige Lampen und Lichter brannten und schütteten weißes Licht in furchtbaren Sturzbächen auf die leeren Treppen und hallenden Korridore.

Der Matrose ging voran, dienerte und führte die Soldaten nach dem Hauptzimmer der Lebendigen, nämlich nach dem Zimmer, in dem Lewitzki, Bessemer, Schill und Smirnow versammelt waren und ihre Aufsätze, Manifeste und Bekanntmachungen schrieben.

»Bleibt vor der Tür,« sagte der Hauptmann zu seinen Begleitern, »ich komme bald zurück. Ich muß mit den Herrschaften ein ernstes Wort reden,« und trat, ohne zu klopfen, in das Zimmer ein. Tabaksrauch stieß ihm wie eine gespensterhafte Wolke entgegen. Er schritt in die Wolke hinein und riß sich den Soldatenmantel von den Schultern. Die Männer aber waren so in ihre Arbeit vertieft und glaubten, der Metteur wolle neues Manuskript für die Streikzeitung haben.

»Guten Abend, Herr Bessemer,« sagte der Hauptmann.

»Hauptmann Kries!« schrie Bessemer überrascht auf und erhob sich. »Hauptmann Kries, wie kommen Sie in unsere Räuberhöhle?«

»Um Sie zu verhaften, Menschenskind!«

Smirnow, der Mann mit dem Kindergesicht, entsicherte seine Pistole.


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