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Fischfang bei Astrachan

Nathan hatte geschrieben.

Bessemer saß im Motorboot und sauste über die Wolga. Mit wachsendem Erstaunen las er den Moskauer Brief. Sein Herz war nicht dabei. Aber schließlich war ja auch sein Herz nicht nach Astrachan geschickt worden.

»Wir haben deine Telegramme und Berichte bekommen,« schrieb Nathan. »Wir verstehen die Schwierigkeiten und freuen uns, daß die Schweinerei mit Marculescu aufgeklärt ist. Das erleichtert unsere Lage ein wenig, aber nicht vollkommen. Auch darüber sind wir erfreut, daß Gurow siebentausend Pud Fische verkauft hat. Mit der Holzgeschichte sind wir einverstanden und natürlich auch mit der Inspektion. Geld wäre uns sehr erwünscht gewesen, du kennst ja unsere Lage, wir haben Verpflichtungen nach dem Ural und nach Berlin.

Einverstanden dagegen sind wir nicht mit der Behandlung des Falles Sergej Paulitsch. Du schreibst einen großen Sermon über seine Unschuld und auch darüber, daß es bei den Genossenschaften noch schlimmer ist. Das kann nicht unsere Sorge sein. Unsere Sorge ist, die Astrachaner Konzession zu behalten. Darum geht alles. Du weißt, die Hauptfischverwaltung in Moskau will die Geschichte selber übernehmen. Wir können uns nur halten, wenn wir neben dem Rumänen noch einen Mann opfern. Wenn wir Kompromisse schließen. Ein Opfer ist immer ein Kompromiß. Also muß Paulitsch den Moskauer Göttern geopfert werden. Er muß für Marculescu, den wir nicht haben, in die Wüste gehen. Er muß fallen, weil andere Leute uns stürzen wollen. Das ABC der Politik müßtest du doch endlich kennen. Ist das klar genug? Verstehst du noch deutsch? Haben die letzten Zeitungen deinen Verstand getrübt? Es ist wahr, in Berlin geht das Volk auf die Straße und singt das rote Lied vom Siegerkranz, aber es wird ein Trauerkranz werden wie schon viele Male. Und das hat alles mit unserer Arbeit und mit dem Fischfang nichts zu tun. Ich analysiere deine Berichte und finde Abenteuerlust, Schwärmerei, sogenannten guten Kerl und, damit ich nicht endlos weinen muß, dreißig Prozent Sachlichkeit. Du sollst dich nur für Salz, Lesch, Wobla, Kaviar und den Herbstfang interessieren. Du mußt Geld heranholen. Die englischen Netze und die Lederkleidung sind unterwegs. Bis Ende Oktober brauchen wir unbedingt 5000 Rubel. Sergej Paulitsch muß in den nächsten acht Tagen verschwinden. Melde telegraphisch, wenn das in Ordnung ist. Die Hauptfischverwaltung fordert einen Kopf. Ich bin nicht dafür, daß es mein eigener Kopf ist.

Nathan.

P. S.

Hier ist eine Tänzerin Nora, sie sagt, ich soll dich grüßen. N.«

Bessemer ließ den Brief sinken. Charly fragte nach etwas, aber er redete in taube Ohren hinein. Das Hündchen Natascha, das gestern vom freien Feuer der Tataren aufgelesen war, erhob die goldgrünen Augen. Grischka machte ein gelangweiltes Gesicht und spielte mit dem Hund. Noch einmal las der Mann den Brief, dann lachte er und zerriß das Papier. Die weißen Fetzen flatterten in das Wasser. Ein Satz haftete mit spitzem Widerhaken im Gehirn: »Paulitsch muß in die Wüste gehen.« In die Wüste! Ja, an der Bergseite baute sich eine goldgelbe Wüste mit wunderlich hingewehten Tälern und Sandbergen auf, gelber Sand dehnte sich maßlos und schimmerte bis an das trockene Grün einer Steppe. In die Wüste gehen! Der Teufel soll alle Wüsten holen, dachte Bessemer, und Nathan dazu und auch Nora und die siebenhundert Millionen Fische aus dem Kaspischen Meer.

»Was bringt die Moskauer Post?« fragte Charly Moser.

»Futter für die Fische, du Idiot!« bekam er zur Antwort. »Nathan ist vollkommen verrückt geworden!«

»Hat dich Nora versetzt?« fragte Charly mit honigsüßer Stimme weiter. »Ist dir die Tänzerin untreu geworden?«

»Halt dein Schandmaul!« antwortete Bessemer und stieß mit dem Fuß nach dem Hund, der sich liebevoll genähert hatte. Das Hündchen wimmerte und blickte mit so abgründigen Augen empor, daß der Mann plötzlich in einer Sturzwelle großer Zärtlichkeit unterging. In die Wüste gehen? Wer soll in die Wüste gehen? Ja, er selbst wollte dort untertauchen, und das Bild jener Männer stand diamanten vor ihm, die sich in der furchtbaren Einsamkeit für ein großes Werk vorbereiteten. Da zerbrach das leuchtende Bildnis. Die Gegenwart atmete und war ein kleiner, schwarzer Hund vom Feuer der tatarischen Fischer. Er beugte sich zu dem Tier und wurde mit so goldgrünen Dankbarkeitsblicken belohnt, daß er es kaum ertragen konnte. Dann bändigte er alle verschwommenen Gefühle, sein Leid verging in das größere Mitleid zu der zärtlichen Kreatur an seinen Füßen, die vielleicht noch größere Schmerzen hatte als er. Jetzt erst sah er, daß Natascha von Ungeziefer wimmelte. Und da packte er das Hündchen an den Füßen und wusch seinen bittren Dreck im peitschenden Kielwasser der Fahrt. Und als er dann einen schwarzen, triefenden Teufel ins Boot zog, in dem nichts Lebendiges mehr war, als die juwelenhaften Augen, da konnte er weiter barmherzigen Samariter spielen und viele hundert Flöhe aus dem Fell streichen. Natascha war ein Tier und hielt still, und der Mann lernte von einem kleinen Hunde auf der Wolga, daß auch der Mensch stillhalten muß, wenn ihn das Leben im wilden Wasser des Schicksals reinigt.

Immer weiter ratterte und knallte das schwankende Boot. Von den Kalmücken war nichts mehr zu sehen. Sie hatten längst die kleinen Netze eingeholt und waren in der Steppe verschwunden. Grischka wütete wie ein hungriger Wolf, auch Moser schwur Rache, aber Bessemer hatte ein friedsames Herz und spielte mit dem Hund, der selig in der heißen Sonne lag und sein Fell trocknen ließ.

Auf der Heimfahrt setzte plötzlich der Motor aus. Die Strömung trieb das Boot an das Ufer der Bergseite. Moser und Grischka blieben im Boot, Bessemer aber nahm das Hündchen und trabte nach der nahen Wüste, lief durch hartes Steppengras und wirre Täler und auf den goldgelben Bergen, um die alle Farben schwärmerisch spielten, genoß er aus vollem Herzen die Wollust des Daseins, nämlich Mensch zu sein, zu leben, zu atmen, zu singen, zu lachen und die Welt zu verändern oder zu verträumen. Moskau und Berlin waren endlos weit, wie auf einem anderen Stern. Er erinnerte sich der grausigen Geschichten von verirrten Wüstenwanderern, die er irgendwo gelesen hatte, er dachte auch an Grischka, dessen Eltern in einer Wüste starben. Einmal dachte er an Nathan und an sein »In-die-Wüste-gehen«. Ja, nun war die Wüste da, er selbst stand in der Wüste. Und nun sank er verzweifelt in den goldenen Sand, um den alle Farben spielten, und hob flehend die Arme. Der kleine Hund spielte das Spiel mit, tobte heiter durch schimmernde Täler und kam immer wieder zurück und erhob die Juwelenaugen.

In die Wüste schicken! Diese Wüste an der Wolga war nur die Illusion tödlicher Landschaft, aber die Illusion war so groß, daß der spielende Mann mit heiseren Kehllauten röchelte und vor Durst beinahe umkam, trotzdem das kühle Wasser nur einige Steinwürfe entfernt strömte. Aber das Leben kam, die bedingungslose Treue und Freundschaft, das kleine schwarze Hündchen Natascha. Und als die lebendige Kreatur ganz nahe war und aufmerksam den klugen Kopf emporhob, da verging die Illusion brennenden Durstes, die Besessenheit der Märtyrer, da war Bessemer ganz irdisch und suchender Mensch.

»Augen eines Hundes mit goldgrünem Licht, in dem sich die Tierseele offenbart,« dachte er. »Du schöne Gebärde des klugen Kopfes, die süß ist wie Freundschaft und Liebe, stummes Tier aus vollem Herzen, das den Menschen mehr zu sagen hat als die Vorlesungen vieler Professoren: du Freund, Gefährte des Einsamen und Verzweifelten, Tröster und Kamerad!«

Und als er in die Augen des Hundes blickte, sah er wie in einen kristallenen Brunnen, aus dem ein Strahlenaufbruch schönster Lichter kam. Da ließ er das dumme und törichte Spiel vom Tod und von verletzter Eitelkeit, da begann er zu singen. Das Lied hatte er selbst gedichtet. Die Melodie kam ihm wie ein Vogel zugeflogen. Er erhob sich aus dem Tal, stieg einen sanften Berg hinan und sang von der Höhe:

Mein Freund, wenn deine Feinde dich in die Verbannung schicken,
dann mußt du in die Augen eines Hundes blicken,
In ihrem Licht, es strahlt aus tiefsten Fernen,
Kannst du den Mut zum Leben lernen.

Doch auch zur Sonne mußt du deine Blicke senden,
Zum grünen Gras mußt du die Augen wenden,
Es fließt kein Fluß so wild und unermessen,
An dem du nicht die Feindschaft kannst vergessen.

Der volle Baum wird dir von seinem Schatten geben.
Sei einsam, und du weißt, schön ist das Leben!
Ein Hund genügt, laß dich vom ihm begleiten,
Ein Hund genügt für alle Zärtlichkeiten.

Wer niemals hungerte und elend ist gewesen,
Der wird mit sattem Bauch am vollen Tisch verwesen.
Auf seinem Grab wird man die Tafel lesen:
»Er war nur Staub. Das Schicksal nahm den Besen.«

Von seinem Berge sah der Sänger das oktoberliche Land. Die Wüste streifte nach dem verdorrten Rand der Steppe. Der Himmel glühte. Von der Wolga her wehte kühler Wind. Der Hund lag zu Füßen des Mannes und hob die Augen. Und im Glanz der goldgrünen Lichter wurde Bessemer immer fröhlicher. Immer lauter und herrlicher schwebte sein Lied des Lebens und der Todverachtung über den Berg. Trunken von seinen Versen sang er, berauscht vom Schöpferwahnsinn der Poesie. Es war, als sänge nicht er das Gedicht, ihm war, als stimmten in seiner Brust auch die schon Gestorbenen heldenhafte Lieder an. Er war so sehr verblendet, daß er Grischka vollkommen übersah, der sich laufend genähert hatte und nun mit offenem Münde dastand und wartete.

»Das Boot ist fertig, Herr,« meldete er und sagte zum ersten Male ,Herr\ »Moser wartet, Herr.«

»Laß ihn warten, Grischka,« sagte Bessemer, als er ausgesungen hatte. »Er soll warten. Der Teufel hole das Boot. Wozu hat der Mensch seine Füße? Ich laufe nach der Fangstelle und finde den Weg zum Blockhaus allein. Gruß an Charly, Grischka, und das nächste Mal fahren wir wieder zu den Kalmücken!«

Grischka blieb noch eine kleine Weile stehen und dachte nach. Aber dann raste er den kleinen Berg hinab, sauste nach der Wolga und brüllte schon von weitem: »Abfahren, abfahren, der Herr ist wahnsinnig geworden!« Aber da kam auch schon der Herr.

»Charly,« sagte er, »fahr ab, ich laufe. Heute abend will ich dir ein neues Lied vorsingen.«

Charly Moser, der an der chinesischen Grenze und in Sibirien gekämpft hatte, behielt seine Ruhe. Er ließ den Motor anlaufen, lachte, winkte mit der Hand und fuhr mit Grischka ab. Das Boot war ausgeruht, raste über das Wasser, erreichte die Mitte des Stromes und war nach einigen Minuten nur noch ein flüchtiger Schatten auf dem Lichtspiegel der Wolga.

Bessemer starrte lange auf den fliehenden Schatten, dann wandte er sich und wanderte, von Natascha umsprungen, am Rande der Steppe und Wüste nach dem Blockhaus zurück. Wie ein Lahmer, der endlich wieder laufen kann, ging der Mann an der Wolga entlang, berührte einsame Fischergehöfte, sah. die Kosakendörfer am jenseitigen Ufer, einmal tauchte aus der Steppe eine Karawane sich wiegender Kamele auf, verschwand plötzlich in einer versteckten Talsenkung, dann kamen die Schlammbänke an der Fischverarbeitungsstelle, die weitverstreute Siedlung lehnte sich an die Wand hoher Laubbäume, auf der Wolga schwammen Petroleumschiffe und Holzbarken, die Einsamkeit löste sich immer mehr auf, rieselte zuerst nur wie feiner Sand, war dann ein vereinzelter Schrei und zuletzt am Blockhaus großartiger Hymnus der Arbeit. Auf dem Heimweg hatte Bessemer viele Male sein Lied gesungen. In zwei Stunden hatte der Lahme wieder das Gehen gelernt, und als er nun das Blockhaus erreichte, schmetterte er in den Singsang der russischen Frauen und Mädchen an den Fischbänken sein Lied in deutscher Sprache: »Wer niemals hungerte und elend ist gewesen, Der wird mit sattem Bauch am vollen Tisch verwesen. Auf seinem Grab wird man die Tafel lesen: »Er war nur Staub. Das Schicksal nahm den Besen!«

An den blutigen Bänken wurde die Arbeit unterbrochen. Auch aus den Kellereien kamen die Leute. Viele von ihnen lachten. Drei Tataren schüttelten die mongolischen Köpfe, daß die Lammfellmützen als schiefe Türme schwankten. Glaserin, der Kosak, hatte früher auch viele Lieder gesungen, wilde Lieder, Liebeslieder und Sauflieder, aber jetzt sang er nur ein Lied, das Lied der Revolution. Und als er den Fremden hörte, lächelte er verächtlich. Er schnipste mit den Fingern, als jage er ein lästiges Insekt fort. Charly schüttelte nur den Kopf und sagte: »Mensch, du bist verrückt,« und zog ihn in das Blockhaus.

Als Charly Moser im Blockhaus mit einer großen Rede beginnen wollte über das Verhältnis von oben und unten nach einer siegreichen Revolution, kam zur rechten Zeit die tatarische Delegation der Fischer. Sie wurde von Sultan Khanow angeführt, einem ungefähr dreißigjährigen Tataren mit olivenem Gesicht und schwarzen, funkelnden Augen. Dieser Khanow war vor einigen Tagen mit seinen Kameraden aus der Steppe gekommen, hatte Arbeit in der Fischerei genommen und verhandelte jetzt -- die Fische begannen zu schwärmen -- um neue Lohnzuschläge. Über eine Stunde stand Bessemer breithüftig auf der Erde und vergaß das Lied von der Einsamkeit, den Gesang auf das Tier mit den Juwelenaugen. Die Tataren waren gute Asiaten und gaben sich endlich mit einem Bruchteil ihrer Wünsche zufrieden. Auch Glaserin nahm an den Verhandlungen teil.

»Towarischtschi,« sagte er am Schluß, »wir haben uns bemüht, euch zu geben, was wir haben. Bemüht euch nun, uns zu geben, was ihr habt. Der Fischzug beginnt. Geht zu Granach, die Wasserstiefel sind aus Moskau gekommen. Auch Tabak habe ich für euch angewiesen.«

Bessemer, der diese neuen Stiefel als letzten Trumpf aufbewahrte, sah sehr überrascht drein, als Glaserin, der Kosak, damit spielte. Natürlich hatte Glaserin recht. Diese Fischerei lag in Rußland und war eine russische Angelegenheit, auch wenn einige Ausländer das große Wort führten. Das letzte Wort aber, und das war das entscheidende, führten schließlich doch die Russen. In aller Freundschaft natürlich. Der Sturm hatte begonnen und stieß vom Kaspischen Meer. Er rüttelte auch an das einsame Blockhaus an der Wolga, in dem der Kosak Glaserin, der ehemalige Kriegsgefangene Charly Moser und der Emigrant Felix Bessemer zusammensaßen, als die Tataren gegangen waren.

»Ich will hinüber zur ›Goldenen Grube‹, Glaserin,« sagte Bessemer. »Will sehen, was in einem Zug gefangen wird und wie die englischen Netze ziehen. Bin zum Abend zurück. Grischka wird mit hinüberfahren, Charly.«

»Wir fahren nach Fangstelle Neun, Charly und ich,« sagte Glaserin. »Wir wollen sehen, ob Wasiliy Sergejwitsch immer noch krank ist.«

Charly lachte.

Grischka stand an den Fischbänken bei den Frauen und Mädchen, und der Hund Natascha war auch nicht weit. Mit einem Fischerboot, dessen schräge Segel im Sturm knatterten, fuhr Bessemer über die Wolga, die sich brüllend dem Wetter entgegenstürzte und aus ihrer Trägheit aufgewacht war. Der Himmel verfinsterte sich. Das kleine Boot tanzte über schaumgekrönte Wasserberge, neigte sich in blauschwarze Täler mit grünen Rändern, stieß wie ein blitzender Fisch durch alle Fluten und Sturmangriffe und taumelte dann triefend und ermattet an das sichere Ufer des Fangplatzes, der seinen Namen vom Fischreichtum seiner Gründe bekommen hatte. Grischka lachte immer noch, als sei das alles, der Sturm, die rollende, grollende Wolga und der schwarze Himmel, ein liebliches Spiel. Der Hund Natascha faßte neuen Mut, als er feste Erde unter sich spürte, und raste nach den rauchenden Feuern, die am Strande wie Signale aufblühten. An einem solchen Feuer saß der junge Tatar Ali und kochte Tee. Der große Kupferkessel hing mitten im Rauch und Feuer. Weiter hinten knallten zwei große Wohnzelte im Sturmwind. Rechts von den Zelten am Ufer der Wolga arbeiteten dreißig tatarische Fischer am Schleppnetz.

Maxim Petrowitsch, der russische Fangleiter, eilte herbei.

»Die englischen Netze sind gut,« sagte er. »Die Fische beginnen zu ziehen. Aber der Sturm, der verfluchte Sturm! Dieses Netz holen wir noch herein, aber was dann wird, weiß ich nicht,« Er machte ein verzweifeltes Gesicht, als sei er Herr der Fischerei und für Glück oder Unglück verantwortlich. Den bärtigen Muschikkopf drehte er nach den schwarzen Sturmwolken und den gelben Wüstenstreifen des anderen Ufers.

»Wir werden es schon schaffen,« brüllte Bessemer durch den Sturm zurück. »Und wenn es sein muß, legen wir alle Mann an das Schleppnetz.«

»Ist gut,« antwortete merkwürdig still der Russe und ging nach seiner kleinen Hütte und kam nach einer Weile wieder. Er hatte seinen Schafpelz angezogen, denn mit dem Sturm war plötzlich empfindsame Kälte gekommen.

Grischka lief ohne ein Wort zu sagen an das eine Feuer, an dem der tatarische Knabe Ali saß und Tee kochte. Der Hund Natascha saß inmitten seiner Brüder und Schwestern und fraß gebratene Fische.

Gegen den dunklen Himmel, der die Sonne besiegt hatte und noch hier und da ein wenig ockergelb aufflammte, standen die noch schwärzeren Figuren der dreißig Fischer, die sich um das Schleppnetz bemühten. Viele von ihnen standen bis an die Brust im schäumenden Wasser. Andere hatten sich an das Zugseil gespannt und berührten mit ihren Stirnen beinahe die Erde. Endlich war die Arbeit getan, das Schweigen löste sich, das Schweigen der dreißig Mann im lauten Sturm: das große Netz lag dicht am Strande und wimmelte von den zuckenden Leibern der silbernen, grünen, schwarzen, blauen und rotgetupften Fische. Die große Barke schleppte den Fang hinüber nach dem Blockhaus. Aber ehe die Fahrt durch den Sturm begann, wurde das zweite Netz ausgeworfen. Eine neue Arbeitskolonne stand in Sturm und Wetter. Die Fischer des ersten Zuges lösten sich vom Wasser und trotteten nach den rauchenden Feuern, tranken aus flachen Schalen dampfenden Tee und verkrochen sich in die wehenden Zelte. Ali strahlte mit gelbem Elfenbeingesicht Grischka und Bessemer an und reichte mit vollendeter Feierlichkeit auch ihnen heißen Tee. Grischka hatte sich einen großen rotgetupften Fisch geholt und briet ihn am offenen Feuer. Bessemer trank Tee, aß von dem Fisch und ging dann zu der Barke, die bis an den Rand mit den Fischen des ersten Zuges gefüllt war.

Diese Barke war ein Schiff des Sterbens und des Gestorbenseins, ein Schiff der Opfer und der Opferung. Nichts war zu sehen als ein schmerzhaftes Kiemenaufreißen, ein wildes mit den Schwänzen schlagen, ein gedrängter Haufen sicherer Tod und lebendigstes Leben, ein gleißender Schimmer von Rot, Grün, Blau, Schwarz und Silber und Lichtgrün, eine Überfahrt nach den spitzen Schlachtmessern der Frauen und Mädchen an den niedrigen Bänken. Manche Fische lebten noch und einigen von ihnen glückte wohl auch der Sprung in den freien Strom, aber auch das war ja ein Sprung in das Verderben, denn bergaufwärts senkte sich ein Netz an das andere, ein Tod an den anderen. Die Fische aber verachteten den Tod, solange sie noch die runden Mäuler aufreißen konnten. Sie zuckten und schlugen mit den Schwänzen, und durch den gleißenden, kühlen Berg wühlten sich die großen, schwarzen Welse ans Licht. Diese Welse mit den klugen Köpfen und den langen Bartfühlern lebten am längsten. Die kleinen stachlichen Sterletts waren sofort tot.

Lange starrte Bessemer auf das tödliche Schiff. Dabei dachte er an das unbegreifliche Gesetz der Natur, das diese schimmernden Fischmillionen aus dem Meer hinaufjagte, wenn die Laichzeit kam. In sagenhaften Zügen schwärmten die Fische, und ihre Eier häuften sich zu hohen Milliarden. Viele Geschlechter zogen aus, viele Arten, Heringe, Störe, Welse, die Fische Wolba und Sterlett, Lesch und Sudack, und das Geschlecht und die Art blieb doch erhalten, wenn auch hunderttausend oder hundertmillionen Fische im Frühling oder im Herbst gefangen wurden. Dem kleinen Menschen an der Wolga schwindelte bei dieser Vorstellung. Ein neues Gedicht formte sich in seinem Herzen: das Gedicht vom großen Fischzug.

Nun begann der Sturm mit neuer Wut zu brüllen. Immer dunkler wurde der Himmel, immer weißer und greller schäumte die Wolga und es war, als werfe sie ihre ganze Schwere und Leidenschaft in das neue englische Netz. Wie Tiere lagen die Fischer an dem Zugseil, wieder berührten ihre Stirnen die Erde, aber plötzlich begannen die Männer mitten in Sturm und schwerer Arbeit mit einem Gesang. Sie sangen eines der uralten Arbeitslieder, die schon in Ägypten um den Bau der Pyramiden geisterten, sie stimmten eines von jenen schwermütigen Liedern an, die nur im tiefsten Dunkel aufkommen können und die erst dann sterben, wenn der helle und samtne Schrei der Dynamos zu singen beginnt.

»Los, Grischka, zeige, was du kannst,« sagte Bessern er. »Komm, mein Freund, auch wir gehen an das Seil.«

Der Knabe war nicht besonders entzückt davon, aber er hatte ja schon viele Narrheiten gesehen, und wenn es dem fremden Mann Vergnügen machte? Also spannte er sich neben Bessemer an das Seil und versuchte, wie er die dunkle Melodie des tatarischen Liedes einzufangen. Wohl tropften die Tränen der armen Leute durch das Lied, das Leid ganzer Geschlechter, aber durch die Tränen und durch das Leid hämmerte das unverzagte Herz des Volkes. Endlich hatte Bessemer die Sprache des Liedes gefunden und sang mit den Fischern:

»Und noch einmal
Und noch einmal
Und jetzt und jetzt
Und noch einmal
Zieht und zieht den Strick!«

Das dunkle Lied kämpfte mit dem Sturm und der brüllenden Wolga. Schritt um Schritt kam das Netz an den Strand, aber nun blieb es unbeweglich in der Tiefe des Stromes hängen. Wie eine Mauer stand das Wasser vor dem englischen Netz. Jeder Ruck und jedes Lied war vergeblich. Das neue Netz saß fest auf dem Grund der Wolga. Maxim Petrowitsch sauste nach dem Wohnzelt der anderen Fischer und holte sie heraus in den Sturm. Auch Ali schleppte er heran. Sechzig Tataren spannten sich in das verdammte Seil. Sechzig Nacken beugten sich zur Erde, hundertzwanzig Fäuste rissen an den Stricken, das Arbeitslied war nicht mehr ergeben, es brüllte wie der Sturm und war finster wie der Himmel, zerfetzte dann und zuckte wie ein wildes Pferd in einer Schlinge, aber das Netz kam nicht frei.

»Der Teufel hat den Sturm losgelassen, Bruder,« sagte Maxim Petrowitsch zu Bessemer. -- Der schwarze Teufel -- Ich glaube, wir müssen den Fang schwimmen lassen, um das Netz zu retten. Der russische Sturm zerreißt auch das englische Netz!« fügte er lachend hinzu.

»Der Schturm iss nich gutt,« begann plötzlich der Tatar Achmed, der neben Bessemer am Seil hing, zu reden. »Schturm iss nich gutt auf Mütterchen Wolga. Arme Tatar iss kaputt. Arme Tatar nich Wodka. Rossia nich gutt Wodka. Deutschland gutt. Deutschland gutt Wodka!«

Da mußte Bessemer mitten in seiner Wut und Anstrengung laut lachen. Achmed war einige Jahre als Kriegsgefangener in Deutschland gewesen, und an die untere Wolga mußte man reisen, um die Vorzüge seiner Heimat zu hören. Wie einfach brach sich in den Augen eines Tataren das Bild der Welt! In einem Schnapsglas brach sich für Achmed das Bild der Welt.

Plötzlich lachte der Mann am Seil nicht mehr. Plötzlich dachte er, und war über diesen Gedankengang selbst verwundert, an die Neger in Afrika und an die Indianer in Amerika, die ihre Freiheit und ihre Jagdgründe auch für einen Schluck Feuerwasser verkauft hatten. Da entschleierten sich, als er mit an Zugseil hing, die Geheimnisse der Kolonisation. Bessemer erkannte und wußte nun, daß die Macht des Kaufmanns über den fremden Mann größer ist als die Macht des Missionars. Aber auch diese Erkenntnisse rückten das Netz keinen Zentimeter näher ans Ufer. Maxim Petrowitsch brüllte, die groben, roten Hände als Schalltrichter vor dem bärtigen Mund, dem Kontrollboot, das auf dem Wasser tanzte, seine Befehle zu. Da draußen beugten sich nun zwei Männer über die Bordwand, öffneten das Fangnetz und ließen die Fische in die brüllende Freiheit der Wolga blitzen.

»Dreihundert Pud schwimmen dahin,« sagte der Russe mit klagender Stimme,« und das alles am ersten Tag des Fischzugs!«

Das geöffnete Netz hereinzuholen war ein Kinderspiel. In einer halben Stunde war alles erledigt. Die Tataren verkrochen sich in ihre Zelte. Die Dunkelheit wogte immer dichter heran. Der Russe schlachtete für seine Gäste einen edlen Stör, brachte Kaviar und setzte sich mit Bessemer und Grischka an ein rauchendes Feuer. Ali kam mit dampfenden Tee.

»Komm in meine Hütte,« bat Maxim Petrowitsch, als das Mahl beendet war, »komm und erzähle von Deutschland.«

»Auch in Deutschland wird jetzt gefischt,« sagte Bessemer, als er in der Hütte des Russen saß und den Sturm heulen hörte, »auch wir in Deutschland sind an den Netzen. Wir fangen die goldnen Fische des Reichtums, Maxim Petrowitsch, die großen Haie der Industrie...«

»Wir warten schon viele Jahre darauf, Bruder,« antwortete der Alte, »aber wir haben mit der Arbeit im eignen Lande begonnen. Wir bauen unser Land auf, räumen die Trümmer beiseite und an der Wolga fangen wir Fische...«

»Ja, Wobla und Lesch, Rotfisch und Hering,« sagte Bessemer, »und willst du immer bei den Fischen bleiben, Maxim Petrowitsch?«

»Vielleicht, ich weiß es nicht. Es kommt darauf an, daß der Mensch überhaupt etwas tut. Warum nicht der Fischfang? Weißt du,« setzte er nachdenklich hinzu, »der Fischfang ist eine große Arbeit. Eine Arbeit bis auf den Grund, Bruder... Auch unsere Revolution war wie ein großer Fischzug. Wir haben den Grund des Landes aufgewühlt, und wenn viel Schlamm und ekles Gewürm emporgestiegen ist, kann das unsre Schuld sein? Wir haben nichts als den nackten Menschen gesucht, und wenn wir die heilige Erde entweihen, so taten wirs, damit sie geweiht werde ... Der große Fischzug! Ja, die Wolga färbte sich rot vom Blute des Volkes.«

»Ich weiß es, Maxim Petrowitsch,« sagte Bessemer schwermütig. »Aber wie die Fische nicht sterben, so ist auch das Volk unsterblich. Trotz aller Opfer. Der nackte Mensch, sagst du!«

»Der nackte Mensch!« antwortete nachdenklich der Russe. »Reiß alle Fetzen ab und alle Uniformen, stelle den Menschen dem Tod gegenüber, stelle ihn in den Blitz der Entscheidung... Das ist der Sinn aller Revolutionen. Der träge Unsinn der satten Ruhe ist tödlicher als der Tod.«

»Der Blitz der Entscheidung, aber was kommt dann?« »Alles, was du willst. Dann ist wieder Schöpfungstag,« sagte Maxim Petrowitsch.

Der Gast schwieg. Immer noch heulte der Sturm.

»Dann ist wieder Schöpfungstag,« wiederholte Bessemer leise und dachte an sein Lied vom großen Fischzug. Als er das Gespräch weiterführen wollte, öffnete sich die Tür der Hütte und der junge Tatar Ali kam und brachte eine feierliche Einladung von Sultan Khanow.

»Komm, Bürger,« ließ er melden, »komm und mach unsre Wohnung hell.«

Bessemer ging gern, denn das Gespräch mit dem Russen hatte ihn trotz des großen Ausblicks traurig gemacht. Maxim Petrowitsch knurrte zum Abschied und war auf die Tataren eifersüchtig, aber er ließ seinen Gast doch abziehen.

Die Dunkelheit lagerte nun wie eine Mauer über der brüllenden Wolga. Die Feuer waren erloschen. Nur aus den tatarischen Zelten schimmerte Licht. Auch vom jenseitigen Ufer zuckten tanzende feurige Spritzer. Ein tanzendes Feuer schien über das schwarze Wasser des Stromes zu schwimmen, stand aber plötzlich still und verschwand. Das Feuer kam von der Laterne der großen Barkasse, die trotz des Sturmes die Fahrt wagte, um Bessemer und Grischka nach dem Blockhaus zu holen. Aber der Sturm am Kaspischen Meer trieb das Schiff immer und immer wieder zurück. Glaserin und Charly Moser waren mit Mühe und Not von Fangstelle Neun zurückgekehrt. Sie hatten Wasiliy Sergejwitsch gesund angetroffen. Der Wolgadeutsche hatte auch den Kosaken von den Besuchen des Rumänen erzählt. Glaserin war nun der Dritte im Bunde und brannte auf die Entscheidung. Er war es, der die Barkasse über die aufgewühlte Wolga nach den Tataren hinüberhetzte. Er stand selbst an der Steuerung und dreimal wurde das Schiff vom Sturm zurückgetrieben.

Bessemer wurde von den Tataren großartig begrüßt. Sie erhoben sich von der Erde und verbeugten sich vor ihrem Gast. Das Zelt war kahl und kalt. An schmalen Gerüsten hingen große Lampen. Auf den Gerüsten war auch der kleine Hausrat der Fischer aufbewahrt. Der späte Gast setzte sich neben Achmed auf die strohbedeckte Erde und ließ seinen Tabak herumgehen. Achmed zerriß die letzte Moskauer »Prawda« und verteilte Zigarettenpapier. Dabei führte er das Wort in rauher tatarischer Sprache. Er war der Held der Stunde und erzählte von Deutschland. Die Augen der Kameraden gingen von dem Erzähler hin zu den Mann aus Deutschland, wo auch der Fischer Achmed drei lange Jahre wohnte. Deutschland, das war das Land, wo die Wagen ohne Pferde fuhren und wo sich die Leute viele tausend Werst durch einen Kupferdraht unterhalten konnten. Deutschland, das war das Land, wo der Affe erfunden war. Es waren geschickte Leute, diese Deutschen!

Unter den Fischern war auch ein alter Mann im weißen Silberbart, der wie eine glühende Flamme um das dunkle Gesicht wehte. Am frühen Morgen war dieser Alte in der Steppe aufgebrochen, um Sohn und Enkel an der Wolga zu besuchen. Und jetzt saß er in dem knatternden Zelt. Nacht stieg aus dem Wasser, Sturm brüllte, aber er saß gut und warm bei den Genossen und trank Tee und aß Fische, Sterlett und Lesch. Inmitten der zerlumpten und verwilderten Arbeiter an dem Schleppnetz saß der Alte wie ein Mullah da. Sein heller Wolfsblick ging zu dem weißen Mann aus Deutschland.

Achmed kannte Deutschland. Das heißt, er kannte das Dorf in Westfalen und den Bauern, bei dem er gearbeitet hatte. Er kannte auch in Berlin die Straße Unter den Linden, wo die Russische Botschaft stand. Sonst kannte er wenig von Deutschland. Er kannte auch einen Füllfederhalter nicht, den Bessemer jetzt herumgehen ließ. Für ihn war es nur eine schwarze Röhre, aus der Finsternis tropfte. Aber für Ali tropfte Licht daraus. Ali konnte schreiben. Er nahm ein Stück Papier und malte schwerfällig drei russische Worte hin, seinen Namen, den Namen seines Steppendorfes und den Namen der Stadt Moskau. Darunter schrieb er schnell und gelenkig eine verschnörkelte Reihe tatarischer Buchstaben. Ali war der Enkel des Alten. Der konnte nicht lesen und schreiben. Er stammte ja noch aus einer Zeit, in der Lesen und Schreiben eine Geheimwissenschaft für Auserwählte war. Ali wusch sich ganz selten, aber er konnte sehr gut Tee kochen und Fisch braten und von seinem Bruder Achmed lernte er Deutsch und konnte schon zählen: »Ein, tswei, drei vier, fünf, sets, sieben, ach, nein, tsehn.« Darin und in einem ausgewachsenen Fluch bestand seine Kenntnis der deutschen Sprache. Von jenem Fluch und von jenen Zahlen war aber Bessemer so sehr begeistert (denn das war ja Bewegung an der unteren Wolga, war Jugendbewegung), daß er dem jungen Tataren eine deutsch-russische Grammatik schenkte.

»Gib mir auch ein Buch,« bettelte Grischka, »auch meine Augen wollen sprechen lernen!«

»Nich du!« sagte Achmed, der die Bitte mit dem feinen Ohr des Halbnomaden gehört hatte, »Ali soll abbe Buch. Ali soll lernen daitsch!« Dann beugte er sich zu Bessemer und sagte: »Ich kann singe viel schönes Lied von Lippe-Ettmoll, die viel schöne Stadt.«

»Singe das Lied von der viel schönen Stadt!« sagte der Gast. »Singe, Achmed, in der Steppe von Astrachan das Lied aus Deutschland!«

Das Gespräch der Tataren verstummte. Nur der Sturm schüttelte das Zelt. Achmed setzte sich unter das Licht einer Lampe und begann das Lied von Lippe-Detmold, der wunderschönen Stadt, in einer seltsamen Sprache, die aus Deutsch und Tatarisch bestand, zu singen. Dabei plusterte er sich auf wie ein Pfau und sah triumphierend auf seine Kameraden, die mitten im Lied haltlos zu lachen begannen. Ja, es war ein Teufelskerl, der Achmed, früher hatten sie ihn als Lügner verschrien, wenn er von Deutschland erzählte, aber jetzt glaubten sie ihm. Er hatte die Wahrheit gesprochen. Allah hatte ihn ausgezeichnet. Er konnte sich ja mit einem fremden, sonderbaren Mann mit einer großen Brille in einer fremden, sonderbaren Sprache, die wie das Schreien wilder Kamele klang, verständigen. Achmeds Ansehen stieg bis in die Sterne.

Dann aber stürmte Bessemer gegen den Ruhm an und wiederholte noch einmal das alte Soldatenlied. Achmed, der seinen Stern sinken sah, fiel in den Gesang mächtig ein und hielt sich auf seiner stolzen Höhe. Dann sangen die Fischer. Sie sangen monotone Lieder mit endlosen Einzelstimmen, die plötzlich in dunklen Chören erstarben. Sultan Khanow spielte dazu auf einer kalmückischen Balaleika. Auch der Alte mit dem Silberbart stimmte ein Lied an. Er sang einen Heldengesang auf die tatarischen Khans, die früher das weite Rußland beherrscht hatten. Die armen Fischer fielen rauschend in das Lied ein. Bessemer hatte die Füße unter dem Leib gekreuzt, hörte die Lieder und Gesänge der braunen Rotte und seinem Gedicht wuchsen neue Flügel. Moskau und Nathan und Nora hatte er vergessen. Auch an Paulitsch dachte er nicht mehr, nicht an die Wüste und an den Rumänen Take Marculescu. Er war namenlos glücklich. Auch Grischka hatte blanke Augen.

Immer noch schrie der Sturm. Die Sonne war schon lange untergegangen. In der Asche der freien Feuer lagen die wilden Hunde. Auch der Hund Natascha lag dort. Aber plötzlich fiel in sein Herz die Angst. Die Nacht war wie ein Urwelthund und heulte. Wo war der weiße Gott mit der tröstlichen Stimme? Wo war der Herr und Freund mit dem weichen Lager? Da erhob sich der Hund und verließ seine Art und kam in das Zelt. Er fand seinen Herrn und legte sich zu seinen Füßen. Bessemer aber war nicht auf dieser Welt. In seinem Herzen war Sturm. Er dachte an den großen Fischzug und an das Gespräch mit Maxim Petrowitsch.

»Das sind die großen Fischzüge,« dachte er. »die gleißende Kolonne aus dem Meer. Die silbernen Gegenströme wandern flußaufwärts, jeden Frühling und jeden Herbst, überall in der Welt und nicht nur in der Wolga. Überall wandern die Fische, der lichtgrüne Hering mit dem blauen Schimmer, der kluge, schwarze Wels, der rotgetupfte Stör und dann die großen Raubfische. Die Raubfische! Die Raubfische ...«

Plötzlich begann er zu singen wie damals in der Wüste.

Er sang sein Lied vom großen Fischzug.

»Wir alle verließen das warme Haus
Und warfen die schleppenden Netze aus
In den brüllenden Fluß,
Wir Fischer vom Meer bis zum Kaukasus,
Wir Fischer von Astrachan oder Rom.
Wir fangen den gleißenden Gegenstrom
Der Fische bei Astrachan oder Rom ...

Wir fangen Hering für den hölzernen Tisch,
Wir fangen auch manchen edlen Fisch Im brüllenden Fluß,
Am Meer und schimmernden Kaukasus,
Wir Fischer von Astrachan oder Rom.
Wir fangen den silbernen Gegenstrom
Der Fische bei Astrachan oder Rom.

Wir fangen auch Menschen im Strome der Zeit.
Wir Fischer sind immer zum Fischzug bereit Im brüllenden Fluß,
Am Meer und schimmernden Kaukasus.
Wir Fischer von Astrachan oder Rom,
Wir fangen den goldenen Gegenstrom
Der Menschen in Berlin oder Rom.

Die Tataren hatten eigentlich nur aus Höflichkeit zugehört. Als der letzte Ton verklungen war, stürzten sie sich in ihre monotonen Lieder und Gesänge. Nur der Hund Natascha, der vor der Dunkelheit geflohen war, erhob auch jetzt noch seine glühenden Augen. Grischka beugte sich zu Ali und erzählte von jenem Lied in der Wüste. Achmed sann auf neue Überraschung.

»Willst du, teurer Gast, kalmützki Tanz sehen?« fragte er den Mann aus Deutschland.

»Ja,« antwortete Bessemer und war noch bei seinem Lied, »ja, Achmed, ich will kalmückischen Tanz sehen.«

Sultan Khanow klatschte in die harten Hände. Aus der dunklen Ecke des Zeltes schoß ein dicker, weibischer Tatar und stellte sich starr in das Licht einer Lampe. Dann fügte er seine aufgeschwemmten Glieder zum kalmückischen Tanz. Der Tanz war eine Entlarvung und Verhöhnung. Die Tataren haßten die Kalmücken. Auch das wurde sichtbar. Lange waren sie die Herren Rußlands gewesen, aber die Kalmücken? Was waren die Kalmücken? Ein armes Helotenvolk, Nomaden der Steppe, Mädchenräuber, Fischer im Kaspischen Meer, Seehundjäger in den wüsten Lagunen, Fischdiebe in der Wolga.

Der Tanz, den nun Bessemer zu sehen bekam, war ein vollkommen asiatischer Tanz. Der träge, feiste Tatar drehte sich wie ein Kreisel, ließ seine Hände wie wilde Schlangen wirbeln und erstarrte wie auf ein geheimes Zeichen in unheimlicher Ruhe. Der Tanz war ein götzenhafter Tanz, aber als der Tatar still stand und nur die Füße leicht bewegte und sein Oberleib bei Buddha oder Allah war, da griff er blitzschnell hinter sich und hob und senkte sich in tollen erotischen Bewegungen, hob und senkte sich mit so schamlosen Gebärden, daß die neuen Tänze, die man in Europa zu sehen bekommt, weiter nichts als harmlose Sonntagsspiele keuscher Jungfrauen sind. Das Gesicht des Tänzers blieb steinern erstarrt, als sich sein Leib auflöste und preisgab. Die tatarischen Fischer im Zelt klatschten mit harten Händen Takt und Beifall.

Grischka hatte mit brennenden Augen diesen Tanz gesehen, aber als der Tänzer einen Augenblick ermattet anhielt, sprang er in den freien Kreis und begann mit einem ukrainischen Tanz, in dem die Füße wie wähnsinnig zuckten. Dazu stieß er kleine wilde Schreie aus, wie es junge Pferde tun, wenn sie im Frühling über blühende Wiesen jagen. Grischka, der kleine Mann aus der Ukraine, verschlagen in das Tatarenzelt an der unteren Wolga, war in jenen Augenblicken wie ein tanzendes Herz, auf und ab, auf und ab, auf und ab ... Die Balaleika verstummte.

Auch die Tataren standen still. Der feiste Tänzer mit dem Götzengesicht stand neben Achmed und ließ seine schiefgestellten Augen funkeln. Grischka aber tanzte noch immer, auf und ab, auf und ab, und zeigte mit seinen wilden Sprüngen die große Kluft zwischen den trüben Kalmücken und den heiteren Ukrainern. Als er noch tanzte, kam Maxim Petrowitsch in das Zelt.

»Ich habe mit Feuer an Glaserin telegraphiert,« sagte er, »die Barkasse ist zum viertenmal unterwegs. Ich habe ihr Licht gesehen. Diesmal wird sie's schaffen. Es ist schon spät ...«

»Du hast wie der Wüstenwind getanzt!« sagte lächelnd Ali zu Grischka.

Die Tataren schrien wild durcheinander und lobten den kleinen Tänzer. Auch der Mann mit dem Götzengesicht klatschte Beifall. Grischka war glücklich. Maxim Petrowitsch lächelte.

»Lebt wohl, tatarische Fischer,« sagte Bessemer zum Abschied, »ich werde immer an diese Stunde denken.«

»Auch wir danken dir, teurer Gast,« sagte Sultan Khanow, der Führer mit der weißen Lammfellmütze, und verbeugte sich. »Auch wir danken dir. Du hast uns die Stunde süß wie Honig gemacht.«

Bessemer mußte viele Hände schütteln, harte tatarische Fischerhände, die nur aus Schwielen zu bestehen schienen, und ging dann mit dem Russen, mit Grischka und dem Hund Natascha aus dem Zelt. Viele Fischer folgten ihm. Der Sturm hatte nachgelassen. Die Wolga schäumte noch, aber sie brüllte nicht mehr. Die Dunkelheit war zerfetzt. Lichter des jenseitigen Ufers flammten. Am Himmel waren kleine glühende Sterne sichtbar.

In der Hütte von Maxim Petrowitsch warteten zwei Fischermädchen auf das Schiff. Der alte Fischer wollte es diese Nacht weich und warm haben, er tanzte wie ein Faun um die breithüftigen Mädchen. Aber sie lachten nur. Das Licht der Barkasse taumelte immer näher. Plötzlich hielt es an. Der Schattenriß des Dampfers war zu sehen. Von ihm löste sich ein kleines Boot nach dem Ufer. Glaserin, Charly Moser und ein russischer Fischer sprangen an das feste Land.

»Mann Gottes, Mann Gottes, Mann Gottes,« sagte Moser, immer nur »Mann Gottes«, und schüttelte Bessemers Hände, als sei er nur knapp dem Tode entronnen, »Mann Gottes, wir haben Marculescu gesehen, aber der Hund ist uns entwischt.«

»Wir werden ihn einfangen,« sagte Glaserin, »wie wir heute Wasiliy Sergejwitsch eingefangen haben.«

»Der große Fischzug hat begonnen,« antwortete Bessemer, »aber darüber wollen wir im Blockhaus reden. Los, abfahren, Genossen.«

Das kleine Boot lag tief im Wasser, denn auch die Mädchen fuhren mit, als es vom Strand abstieß, und die Tataren brüllten »Hurra! Hurra!«, als das Boot nach der Barkasse hinüberschwamm.

Die Wolga war besänftigt. Das Blockhaus war bald erreicht.

»Wir dachten schon, die Tataren hätten dich verschleppt,« sagte Glaserin, als er mit dem Heimkehrer beim Tee saß. »Ich hätte es ihnen wohl zugetraut. In ihnen ist immer noch die Wildheit von früher, als sie Moskau besiegt hatten.«

»Nein, sie haben uns nicht verschleppt,« antwortete Bessemer. »Wir haben viel gesehen und erlebt. Achmed hat mich in sein Dorf eingeladen und mir seine Frau für eine Nacht versprochen. Man hat uns einen kalmückischen Tanz gezeigt. Grischka hat alle übertrumpft ... Aber was ist mit Marculescu? Warum ist die Barkasse nicht früher gekommen?«

»Der Sturm, der brüllende Sturm!« sagte der Kosak. »Wir haben es dreimal versucht und wurden immer wieder zurückgetrieben ... Achmed hat dich in sein Dorf eingeladen? Er hat dir seine Frau versprochen? Ich will dir sagen, wen du dort getroffen hättest: Take Marculescu!«

»Marculescu?« fragte Bessemer entsetzt.

»Ja, den Rumänen,« antwortete Moser. »Wasiliy Sergejwitsch hat alles verraten, als er sah, daß er gefangen war. Nun, wir werden auch den Rumänen fangen ... Wie war der letzte Fang, Felix?«

»Wir haben die Fische schwimmen lassen müssen, um das neue Netz zu retten,« sagte Bessemer. »Morgen früh muß ein neues Netz nach der ›Goldenen Grube‹. Wir haben,« fügte er mit leuchtenden Augen hinzu, »wir haben viel Arbeit vor uns. Die große Beluga und den Bandit Marculescu. Aber wie hängt der Rumäne mit den Tataren zusammen? Erzähle, Glaserin!«

»Das ist bald erzählt. Wir kamen gegen Mittag nach der Fangstelle Neun. Der Wächter Schmidt lief uns entgegen. ›Der Rumäne ist da!‹ sagte er zu Moser. Der Rumäne! Ich wußte kein Wort davon, daß ihr unterrichtet sei dl Lassen wir das. Gut, wir laufen nach dem Wohnhaus. Es ist verschlossen. Wir klopfen an. Keine Antwort. Wir sprengen die Tür, ja, zum Teufel, Wasiliy Sergejwitsch liegt im Bett und hat Malaria und ein Fenster steht offen. Wir kannten seine Malaria! In zehn Minuten wußten wir Bescheid. Die Sache ist die, daß Marculescu bis jetzt achttausend Pud Fische von Fangstelle Neun mit Hilfe seiner Freunde gestohlen hat und mit Hilfe anderer Freunde in Astrachan auf der schwarzen Börse verkauft. Wassilenko ist nach der Stadt unterwegs trotz Sturm und Wetter und bringt den Schuft nach der Tscheka. Wir haben Schmidt die Leitung der Fangstelle Neun übergeben ... Aber die achttausend Pud Fische sind trotzdem kaputt.«

»Ja,« erklärte Charly Moser weiter, »der Rumäne ist futsch, aber er hat seine Brieftasche verloren. Wir fanden tausend Rubel und einen Plan des Schmuggelweges. Er führt in das tatarische Steppendorf. Es kann nur das Dorf von Achmed sein. Sobald wir Zeit haben, werden wir alle mitgehen. Auch aus Astrachan kommt Miliz. Es lebe der große Fischzug!«

»Und was gibt es sonst Neues?« wollte Bessemer wissen.

»Erfreuliches,« sagte Paulitsch, »Gurow hat heute viertausend Pud Heringe und dreihundert Pud Stör verkauft.«

»Und wir haben Mehl aus der Stadt bekommen,« sagte Granach. »Mehl, Naphtha, Tabak und Salz. Als du da drüben warst, kam eine Barkasse.«

Bis spät in die Nacht saßen die Männer im Blockhaus zusammen. Sonja brachte Tee, Springer wurde sentimental und stimmte ein Lied vom deutschen Rhein an, und Claudia spielte in der rauhen Männerkommune an der Wolga die zwitschernde Dame. Bald erfüllte Gelächter das kahle Zimmer.


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