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Einundzwanzigstes Kapitel

Katoya geht auf Reisen

Der Herbst war gekommen, allerlei Gerüchte schwirrten in der Luft. Es war die Zeit der Reisen und der Reisevorbereitungen, da tagsüber Schwingen aus dem Norden kamen und Stimmen bei der Nacht. Berghuhn und Schneehuhn brachen aus ihren sommerlichen Unterschlüpfen hervor und begannen sich in den offenen Lichtungen von Beeren zu ernähren. Die Wölfe fingen an, die Ufer der Sümpfe und Teiche zu umlauern, wo sie ihre nimmersatten Bäuche schlau im Schilfe versteckten, sobald der Sonnenuntergang über den einsamen Wassern brannte; denn jetzt trafen zu Tausenden die Wildgänse und Wildenten ein, und die Regenpfeifer verdunkelten auf ihrem Heimwärtsfluge aus Labrador in zahllosen Schwärmen die Luft. Und allen Augen verborgen, mischte der Kältemacher, großer Künstler, der er war, seine Farben in die Farbtöpfe der Verwesung und tünchte die ernste Landschaft dunkelrot und scharlach und gold.

Doch trotz dieses Wandels und Wechsels und trotz der Pracht der Verwesung nahmen die uralten ewigen Dinge, deren eines der Hunger ist, ihren unabänderlichen Verlauf. Fischer zogen zum Fischzug aus. An diesem besonderen Morgen waren zwei Meister ihres Gewerbes an den Ufern des Sees geschäftig. Der eine war Quosk und der andere Katoya. Beider Resultate waren einander sehr ähnlich, obwohl ihre Methoden sich in vielem unterschieden. Während Katoya zum Beispiel auf kunstvolle Weise mittels eines Angelhakens aus dem Unterschenkelknochen eines Hasen sich ihre Beute sicherte, fischte Quosk sozusagen mit sich selber, indem er sich ganz einfach seines Schnabels bediente.

Er pflegte dabei auf einer seiner langen Stelzen an irgendeiner schattigen Stelle zu stehen, wo das Wasser gerade die richtige Tiefe hatte, so daß seine ahnungslose Beute nichts weiter sah als einen Stock, der aus dem schlammigen Grund emporzuwachsen schien. Dort verharrte er regungslos und ohne ein Zeichen von Leben, mit zurückgebogenem Hals und listig zwischen den Schultern herabgezogenem Kopf, wie im tiefsten Schlafe. Wehe jedoch dem Fisch oder Frosch, der Kaulquappe oder Bisamratte, die nahe genug heranschwammen, um von Quosks tödlich lauerndem Speer aufgespießt zu werden! Ein einziges Blinzeln zwischen halbgeschlossenen Augen, ein blitzschneller Hieb von oben, stark wie von dem Vorderhuf eines Elches, und des unglücklichen Opfers Schwimmtage waren für immer vorbei, während weit oben in den Lüften sein Begräbnis stattfand.

Trotz seiner scheinbaren Einsamkeit wußte Quosk ganz genau, daß er hier in dem See nicht der einzige Fischer war. Da jedoch das indianische Weib sich stets an ihrem eigenen Angelplatz aufhielt, ohne je in seinen Gewässern zu wildern, gönnte er ihr einen Anteil an seiner Fischereigerechtsame, die aus der prähistorischen Zeit der Sintflut auf ihn überkommen war.

Also fischten diese beiden nach Herzenslust, Katoya mit ihrem Hasenknochen und Quosk mit seinem furchtbaren Schnabel, und teilten sich friedlich in den Sport.

Bei ihrer Rückkehr in das Lager nach beendetem Fischzug fand Katoya Thunderboy nicht zu Hause. Das nahm sie aber nicht weiter wunder. Er pflegte häufig die Kreuz und Quere allein durch den Wald zu streifen, und jetzt, da er sich in der Gegend gut auskannte und die verschiedenen Wegzeichen ihm alle vertraut waren, ließ sie ihm so ziemlich seine Freiheit. Als jedoch der ganze Morgen verstrich, ohne daß er heimkehrte, fragte sie sich im stillen, wo er wohl stecke. Da sah sie ihn ganz plötzlich zwischen den Bäumen hervorbrechen. An der Art seines Laufens erkannte sie sofort, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sei.

»Indianer!« stieß er hastig hervor, als er atemlos in das Lager stürzte. »Viele Indianer! Sie reisen sehr rasch. Und unter ihnen befindet sich ein Bleichgesicht, obwohl sein Antlitz durchaus nicht bleich ist.«

Katoya warf ihrem Enkel einen durchdringenden Blick zu.

»Woher weißt du, daß es ein Bleichgesicht war?« erkundigte sie sich.

»Weil sein Antlitz in seinem Schnitt dem eines Bleichgesichtes gleicht,« antwortete er. »Und er schreitet auch mit seinem Körper, wie ein Bleichgesicht schreitet.«

»Warst du nahe genug, um sein Gesicht zu sehen?« fragte Katoya.

»Ja. Ich versteckte mich in dem Gestrüpp, und die Gesichter kamen mir so nahe, daß ich mich fürchtete. Sein Gesicht war breiter als das eines Indianers, und es lächelte mit den Augen.«

Wieder blickte ihn Katoya mit einem sonderbaren Ausdrucke an. Unbewußt schilderte er des weißen Mannes Antlitz, wie man sein eigenes geschildert haben würde.

»In welcher Richtung gingen sie?« erkundigte sie sich.

Thunderboy deutete nach Nordwesten.

Dann fragte sie ihn genau über die Stelle aus, an der er sie hatte vorbeigehen sehen, und verfiel in Schweigen; er erkannte, daß sie tief in Gedanken versunken war. Nach einer Weile begann sie allerlei Vorbereitungen für eine Reise zu treffen. Er fragte sie, ob sie von hier fortziehen würden.

»Ich gehe allein,« lautete die Antwort. »Du bleibst hier, bis ich wiederkomme. Sorge dich nicht, falls ich morgen bis zu der Zeit, da die Sonne untergeht, nicht heimgekehrt bin. Komme ich auch übermorgen nicht heim, so weißt du, daß ich eine zweitägige Fährte verfolge. Bin ich aber nicht zurückgekehrt, wenn die Sonne zum viertenmal untergegangen ist, so wirst du wissen, daß ich einer sehr langen Fährte folge. Habe indes keine Furcht. Ich komme erst wieder, wenn ich gesehen habe, was ich zu sehen ausgezogen bin.«

»Und Manu?« forschte Thunderboy, einen Blick auf den Silberlöwen werfend, der sich behaglich putzte.

»Manu bleibt hier,« entgegnete Katoya. »Ich nehme Manu nicht mit.«

Thunderboy wußte, es hatte keinen Zweck, seine Großmutter zu bitten, ihn und Manu auf diese ungewisse Reise, deren Dauer sie nicht abzuschätzen vermochte, mitzunehmen. Ihr Verhalten verriet ihm ganz klar, daß das ganze Unternehmen ein Geheimnis bleiben sollte; und daß alle Fragen oder Einwände nur ihr Mißfallen erregen würden.

Sie beendete ihre knappen Vorbereitungen und verschwendete auch keine Zeit mit Abschiednehmen. Statt dessen wiederholte sie lediglich ihrem Enkel den Befehl, unter keinen Umständen bis zu ihrer Rückkehr das Lager zu verlassen; dann schritt sie ohne ein weiteres Wort direkt auf den Wald zu und entschwand sofort dem Gesichtskreis des Knaben.

Thunderboy stand längere Zeit und blickte auf die Stelle, wo seine Großmutter verschwunden war; er fragte sich, welch neues Geheimnis wohl in der Luft läge. Die einzige Erklärung, die er für ihre plötzliche Abreise fand, war die, daß sie sich seinetwegen betreffs der Fremden Sorgen machte, und daß sie ausgezogen wäre, um sich zu vergewissern, daß diese ein für allemal die Gegend verlassen hätten.

Jetzt, da sie gegangen war, wurde es plötzlich sehr einsam in der kleinen Niederlassung. Das Schweigen des Nachmittags schien mit seinen Flügeln allerlei zuzudecken, was jetzt in Schlummer lag, was jedoch sehr bald aufwachen und sich regen würde. Keine Welle kräuselte den See, kein Lufthauch bewegte sich zwischen den Bäumen. Thunderboy war zwar an das Alleinsein im Walde gewöhnt, aber das war doch etwas ganz anderes, als so völlig einsam in dem Lager zurückgelassen zu werden.

Er wandte sich Trost suchend an Manu. Der Silberlöwe reagierte sofort in der gewünschten Art, legte sich auf den Rücken und trat ihn spielerisch und laut schnurrend mit den Pfoten. Thunderboy hatte seine helle Freude an Manu, sobald dieser sich zum Spielen aufgelegt fühlte, und die beiden tummelten sich oft stundenlang auf dem Boden herum; heute jedoch nahm ihr Vergnügen bald ein Ende, denn Thunderboy erinnerte sich, daß ihm ja die Obhut über das Lager anvertraut wäre. Allerdings gab es dort nicht allzuviel zu hüten, denn seine und Katoyas Hütte waren nur sehr klein. Zwar war da noch ihre Lagerausrüstung, doch diese bestand in der Hauptsache aus einem eisernen, alten Kochtopf, einem Zinnbecher, zwei Decken und einem Löffel aus Kuhhorn; sie stellte daher an festen Werten kein so besonders großes Vermögen dar, obwohl niemand die Echtheit des Kuhhornlöffels bestreiten konnte. Trotzdem bedeutete sie gegenüber dem barbarischen Leben jener, welche weder einen eisernen Kochtopf noch einen zinnernen Becher besaßen, einen bedeutenden Fortschritt der Zivilisation; und schließlich und endlich bildete sie den einzigen Reichtum, den er und seine Großmutter, ihre Kleider und Waffen und vor allem das Kanu ausgenommen, auf der Welt besaßen. Das Kanu war natürlich an sich so viel wert, wie alles andere zusammengenommen, denn es allein gab ihnen die Möglichkeit, sich auf der ungeheuren Welt der Gewässer, welche die noch unentdeckten Landstriche umspülten, ungehindert fortzubewegen. Was immer auch dem übrigen Gerät zustoßen mochte, das Kanu mußte unter allen Umständen in Sicherheit gebracht werden. So spürte Thunderboy trotz der geringen Zahl der seiner Fürsorge unterstellten Habseligkeiten tief die Last der Verantwortung, während er sich nach seiner Balgerei mit Manu ausruhte und sich fragte, wie lange seine Großmutter wohl fortbleiben würde. Und plötzlich begann er Manu alle diejenigen Fragen zu stellen, die er Katoya gegenüber nicht zu äußern gewagt hatte.

»Wo ist sie nur hingegangen, Manu?«

Als Antwort fing Manu an, mit seiner Zunge seinen zerzausten Pelz zu glätten; jetzt hob er den Kopf, als sei er tief überrascht über eine derartige Frage und blickte aufreizend überlegen drein. Im nächsten Augenblick fuhr er jedoch sogleich wieder fort, sich zu lecken, als sei das Ganze einer Antwort nicht wert. Allein Thunderboy hatte nicht die Absicht, sich durch Manus gut gespielte Überlegenheit abspeisen zu lassen. Er wiederholte seine Frage in noch eindringlicherem Tone.

Diesmal blickte der Silberlöwe in ungeheucheltem Erstaunen auf. Seine Miene sagte unverkennbar: »Ich muß mich wirklich wundern, zum zweitenmal eine solch dumme Frage zu hören,« und Thunderboy begann schon ganz kleinlaut zu werden. Manu jedoch durfte in keiner Weise dieses Zusammenschrumpfen seiner Person merken, er setzte daher mit einer Miene aufgeblasener Wichtigtuerei hinzu: »Ich werde bis zu ihrer Rückkehr das Lager nicht verlassen.«

Des Kuguars Haltung besagte eindeutig:

»Niemand hat dich dazu aufgefordert.«

»Du mußt aber auch hierbleiben,« bemerkte Thunderboy streng.

Wenn Manu jetzt auch nicht tatsächlich das eine Auge zukniff, hatte es doch ganz den Anschein, als wolle es sich fast unmerklich schließen. Kurz danach riß er es jedoch mit einem glasigen, starren Ausdruck wieder sperrangelweit auf, daher konnte das Ganze auch nur ein Spiel der Muskeln gewesen sein. Zwar hätte Manu antworten können: »Ich werde ganz nach Belieben gehen oder bleiben,« aber das wäre nicht gerade höflich gewesen; und was immer Manu auch tat oder nicht tat, seine Manieren waren stets tadellos. Außerdem enthielt er sich der Bemerkung – zu der er vollauf berechtigt gewesen wäre –: »Ich weiß recht gut, daß man mich hier zurückgelassen hat, um auf dich aufzupassen!«, statt dessen hielt er dieses Bewußtsein fest in den unergründlichen, glasigen Tiefen seiner Augen verschlossen, und blickte so einfältig drein, wie ein soeben zur Welt gekommenes Kätzchen.

Mit Recht könnte man die Frage stellen, wie Manu zu seinem Wissen gelangt sei, denn Katoya hatte bei ihrem Aufbruch auch nicht ein Wort mit ihm gesprochen. Erst kurz ehe sie sich in Bewegung setzte, hatte sie eine Sekunde lang kaum merklich gezögert und ihm einen Blick zugeworfen, der bis tief in sein Hirn drang. Zwar hätte ein dummes Geschöpf von langsamer Auffassungsgabe sich über die Bedeutung dieses Blickes täuschen können, aber Manu war kein solches Geschöpf und pflegte keine Irrtümer zu begehen. Ihm war nicht gerade viel daran gelegen, hier müßig in dem Lager zurückzubleiben; denn trotz seiner leidenschaftlichen Anhänglichkeit an Thunderboy zog er es vor, sich jenen anzuschließen, die irgendeiner Fährte folgten, statt als Zeitvertreib seinen Pelz zu lecken und dem Daheimgebliebenen Gesellschaft zu leisten. Aber Katoyas Wille war nun einmal ein unumstößliches Gesetz, und sie pflegte mit ihm auf instinktive Art, ohne erst ihre Energie in Worten zu verschwenden, Mitteilungen auszutauschen.

Manu sprang daher nach beendeter Toilette mit einem eleganten Satz auf die Felsnische am Ufer der kleinen Bucht, ließ sich hart an ihrem Rande nieder und blickte aus leuchtenden, starren, grünen Augen, soweit wie nur möglich, in die Welt hinaus, wobei er eine geradezu übergescheite Miene aufsetzte.

Umsonst versuchte sich Thunderboy einzureden, es sei ihm ganz gleichgültig, ob Manu da wäre oder nicht. Es war ihm durchaus nicht unangenehm, allein gelassen zu werden. Oh nein! Und er fühlte sich auch nicht im geringsten einsam. Gar keine Spur! Es war nur der See mit seiner flüsternden, weiten Wasserfläche, der jetzt recht einsam aussah; der war ja auch viel zu groß und öde, nur um Vater Reiher zur Versorgung der Kinderstube in der Schierlingstanne als Fischteich zu dienen. Ja, und auch der Wald schien jetzt, da er Katoya in seinen weiten, düsteren Schlund aufgenommen, irgendein Geheimnis zu hüten, das er auszuplaudern sich hartnäckig weigerte. Als dann gar das gelbe Licht des Nachmittags gelber und gelber wurde und der Abend sich unter den Bäumen zu verdichten begann, betrachtete Thunderboy Manu immer weniger als einen rechten Plagegeist, ja er hörte auf, ihn ins Pfefferland zu verwünschen. Aber das geschah keineswegs, weil er sich einsam fühlte. Oh, beileibe nicht! Endlich kam die Nacht, und er legte sich in der Hütte auf sein Lager aus Tannenzweigen schlafen, während Manu sich unmittelbar vor der Hütte so fest wie nur möglich zusammenrollte und mit seinem Schwanz seine Nase vor dem Tau schützte. Obgleich er die Augen schloß und die Schnauze bedeckte, hielt er doch die Ohren offen; ja, sie waren wohl derjenige Teil seines Körpers, der am wenigsten schlief.


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