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Zwölftes Kapitel

Wie Thunderboy den Verstand verlor

Aus völlig unerfindlichen Gründen verschlimmerte sich die Behandlung, die Thunderboy seitens seines Onkels ertragen mußte, von Tag zu Tag. Er erhielt den ausdrücklichen Befehl, die Siedelung nicht zu verlassen. Der Wald, ja selbst der äußere Saum der Lichtung – eine Art Niemandsland, voller Baumstümpfe und groben Grases – verwandelten sich in verbotenes Gebiet. Selbst sein Kommen und Gehen im Hause wurde auf bestimmte Tätigkeiten beschränkt, wie zum Beispiel Wasserholen, Holzhacken oder die Erfüllung anderer kleinerer Aufträge, die man ihm anbefahl. Dabei verging kein Tag, ohne daß sein Onkel ihn für etwas, das er getan oder nicht getan hatte, verfluchte, und meist wurden diese Flüche von einem Fußtritt oder von einem Schlage begleitet. Schließlich gelangte Thunderboy zu der peinlichen Erkenntnis, daß Kennedy aus reiner Freude am Quälen allerlei Vorwände hierzu erfand.

Endlich kam ein Tag, da er fühlte, daß seine Widerstandskraft dem Ende nahe sei. Er hatte an jenem Morgen einer Sache wegen, deren man ihn zu Unrecht beschuldigt hatte, eine gründliche Tracht Prügel erhalten, und jetzt gegen Abend schien jeder einzelne Knochen seines Körpers unter der Wirkung der Schläge und Püffe, die auf ihn niedergeregnet waren, zu schmerzen. Er saß vor dem Blockhause mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, zu müde und niedergeschlagen, um irgend etwas anderes zu tun, als mit todunglücklichen Augen in die Ferne zu starren. Er hatte entsetzliches Heimweh, eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dem alten freien Leben mit seinen roten Stammesgenossen, nach dem fröhlichen Dorf, wo trotz aller scheinbaren Trägheit sich ständig etwas ereignete oder irgendein Ereignis bevorstand, nach dem Fischen und Schwimmen mit Kioneska, nach den schattenhaften Urwaldfährten, darüber verstohlene Füße hinhuschten; vor allem aber sehnte er sich nach seiner Großmutter Wigwam mit dessen seltsamen Bemalungen, in dessen Schutz sie ihm an langen Winterabenden die großen Legenden seines Stammes und die wilden Heldentaten seiner kämpfenden Vorfahren erzählt hatte. Wenn er nur dorthin zurückkehren und diesen furchtbaren Alptraum von einer Existenz unter den hölzernen Wigwams vergessen könnte, wo jeder, der ihm mit Freundlichkeit begegnete, seinen Onkel nur noch zu stärkeren Mißhandlungen aufzupeitschen schien! Wenn er nur ... Was war das – dort zu seiner Rechten – am Südende der Lichtung, wo seine Augen leeren Blickes geweilt hatten? Unter den Bäumen begann es dämmrig zu werden, denn die Sonne war hinter der riesigen Mauer des Waldes untergegangen, und die Lichtung lag jetzt im Schatten, aber Thunderboy war überzeugt, daß seine Blicke ihn nicht trogen und daß die Gestalt seiner Großmutter sich zwischen den Bäumen bewegt hatte. Er warf einen hastigen Blick in die Runde. Niemand beachtete ihn. Sein Onkel war nach dem Mittagessen fortgegangen und bisher nicht zurückgekehrt. Thunderboy beschloß, das Wagnis auf sich zu nehmen. Er erhob sich und schritt eilig an der Blockhütte vorbei auf die Stelle zu, wo er die Gestalt gesehen. Dort entdeckte er zu seiner Freude, daß er sich nicht geirrt hatte. Unter den Ästen einer Schierlingstanne stand seine Großmutter und wartete seiner.

»Noch nicht,« sagte Katoya, nachdem er ihr sein Herz ausgeschüttet und sie angefleht hatte, ihn auf Nimmerwiedersehen den verhaßten Bleichgesichtern zu entführen. »Halte nur noch kurze, ganz kurze Zeit aus. Selbst wenn sie nicht gut zu dir sind, werden sie dich doch nicht töten. Es sind aber solche unterwegs, die dich töten würden, falls sie uns beide allein auf der Wanderung anträfen. Sobald man wieder ungefährdet durch den Wald wandern kann, werde ich zurückkehren. Fasse dich noch ein Weilchen in Geduld und fahre fort, des weißen Mannes Medizin zu lernen.«

»Des weißen Mannes Medizin sind Schläge,« lautete Thunderboys rasche Entgegnung. »Der ganze Leib schmerzt mich bereits davon. Sieh nur!«

Und er zeigte seiner Großmutter einen großen dunklen Fleck auf seinem Arm.

Katoyas Augen flammten auf, als sie die Verletzung sah.

»Gut!« sagte sie, »sehr gut! Das wird dich lehren, tapfer zu sein und hart wie Eichenholz. Es wird ein Tag kommen, da der weiße Mann es nicht länger wagen wird, dich zu schlagen. Dann wirst du kraft seiner eigenen Medizin ein großer Medizinmann sein, und er wird dich fürchten. Zeige ihm, daß ein Indianerknabe kein Feigling ist, und daß er in diesem großen Dorfe gelernt hat, Schmerz zu ertragen.«

»Ich habe viele Dinge von den Bleichgesichtern gelernt,« erklärte Thunderboy stolz. »Ich kann bereits vieles von ihrer Sprache. Aber es ist schwer zu verstehen, was sie einander sagen, wenn sie glauben, allein zu sein.«

»Das eben mußt du noch erlernen. Was sie unter sich sprechen, darauf kommt es vor allem an. Der weiße Mann hat eine Sprache für sich und eine Sprache für den Indianer. Versuche stets die Sprache zu lernen, die der weiße Mann unter sich redet.«

Danach erzählte ihm Katoya von ihrem Lager, das sie am Ufer des großen Sees aufgeschlagen hatte, bis die Zeit gekommen wäre, ihn zu holen. Es wurde dunkel unter der Schierlingstanne, so dunkel, daß die beiden den Ausdruck ihrer Gesichter nicht länger zu erkennen vermochten. Aber Thunderboy dünkte es ein gutes Dunkel, da er die Gegenwart seiner Großmutter spüren konnte, ja, er wäre bereitwillig die ganze Nacht dort geblieben, hätte sie es ihm nur erlaubt. Aber sie hatte geheime Wege zu gehen; daher flüsterte sie ihm zu, sie würde sehr bald wiederkehren. Dann wandte sie sich eilig ab und verschwand so geräuschlos, als löse sie sich in der Dunkelheit in Nichts auf.

Eine Woche verging, eine zweite Woche verging. Unablässig suchte Thunderboy mit seinen Augen den Wald ab, niemals aber entdeckte er die wohlbekannte Gestalt zwischen den Bäumen. Kennedy mißhandelte ihn nach wie vor. Eingedenk seiner Großmutter Worte ertrug es der Junge, so gut er es eben konnte. Sie hatte ihm ja versprochen, bald wiederzukommen. Schon ging der Monat zu Ende, und noch immer hatte sie kein Zeichen gegeben, da gewahrte er eines Abends, etwa um die gleiche Zeit wie bei ihrem ersten Kommen, eine gebeugte Gestalt unter der Tanne, die er als die ihre zu erkennen glaubte. Eine zweite Gestalt, die fünfzig Schritt davon entfernt in dem Schatten lauerte, entging seiner Beobachtung.

Wieder schien das Glück ihn zu begünstigen, denn er erreichte die Tanne, scheinbar ohne irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen. Als er im Schatten der Bäume untertauchte, schlug ihm das Herz höher vor Hoffnung. Jetzt würde doch seine Großmutter ihr Versprechen wahr machen!

Als hätte sie seine Gedanken erraten, redete sie ihn an:

»Heute nacht noch nicht. In sechs Tagen wird es Vollmond sein. Mit dem Mondaufgange am sechsten Tage werde ich mich einfinden. Dann treten wir zusammen die Wanderung an.«

Er war furchtbar enttäuscht, aber er wußte, es hatte keinen Zweck, es mit Überredungskünsten zu versuchen. Er hätte jedoch gerne noch ein wenig geschwatzt, um die guten, indianischen Kehllaute zu hören, die ihm so teuer waren, jetzt, da er Tag für Tag nichts als das zischende Geplapper der Bleichgesichter vernommen hatte, welches so rasch zwischen ihren Zähnen hervorschoß, daß sein Verstand kaum mitkommen konnte. Doch Katoya zeigte ihm deutlich, daß sie nicht den Wunsch hätte zu bleiben, und noch im Reden blickte sie sich unruhig um, als fürchte sie, jeden Moment ertappt zu werden. So unverhohlen war ihre Besorgnis, daß er gleichfalls unruhig zu werden begann, aus Furcht, irgendein Ansiedler könne sie überraschen; daher atmete er trotz seines Widerwillens, sie ziehen zu lassen, erleichtert auf, als er sie endlich zwischen den Bäumen verschwinden sah.

Während dieser kurzen Unterredung hatte die andere lauernde Gestalt unter der Sykomore ihre Anwesenheit durch keine Bewegung verraten.

Thunderboy wartete noch eine Weile, nachdem seine Großmutter gegangen war. Er spürte eine unbestimmte Angst und wollte sich zuvor überzeugen, daß sie, ohne entdeckt zu werden, die Nachbarschaft verlassen hätte. Erst als er jede Gefahr vorüber glaubte, trat er aus seinem Versteck hervor und schlich sich behutsam nach der Blockhütte zurück. Furcht packte ihn, daß sein Onkel vor ihm angekommen sein könnte, und ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er das Haus leer fand. Nachdem er sich also überzeugt hatte, daß alles in Ordnung wäre, kauerte er sich wieder in seiner früheren Stellung auf der Türschwelle nieder.

»Marsch, hinein!« Den Worten folgte ein brutaler Fußtritt. Kennedy war von der Rückseite des Hauses so eilig herangekommen, daß Thunderboy keine Zeit zur Flucht blieb. Der Knabe keuchte vor Schmerz, unterdrückte aber jeden Aufschrei. Er wagte es nicht, dem Befehle ungehorsam zu sein. Drinnen verschloß und verriegelte Kennedy die Tür, dann entzündete er eine Kerze, die in einer leeren Whiskyflasche stak und die ihm, wenn der Petroleumvorrat zur Neige ging, als Lampe diente. Darauf holte er aus einer Ecke neben dem Ofen einen dicken hölzernen Knüppel hervor. All diese Vorbereitungen gingen absolut schweigend und mit größter Langsamkeit vor sich, als wünsche er die Wirkung dessen, was er plante, noch zu erhöhen. Endlich stand er mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt und blickte seinen Neffen wortlos an, indem er mit der linken Hand langsam den Stock streichelte. Thunderboy beobachtete die bedächtige Bewegung der Finger wie fasziniert und holte tief Atem, um sich gegen die kommende Folter zu stählen. Während dieser wenigen schweigenden Minuten wuchs die Spannung in der Blockhütte, bis sie zu zerreißen drohte.

Nichts knisterte in dem ungeheizten Ofen, die Stimmen des Holzes waren verstummt; nur die Uhr an der Wand tickte einförmig ihre Medizin.

Kennedy öffnete den Mund und feuchtete, ehe er zu reden anhub, seine wulstigen Lippen an.

»Du bist im Walde gewesen. Du hast die Indianerin dort unter den Bäumen getroffen!« Ruckartig deutete er mit dem Daumen in die Richtung der Schierlingstanne, so daß der Sinn seiner Worte nicht mißzuverstehen war, und wartete auf eine Antwort. Aber Thunderboy entgegnete nichts, sondern blickte ihn nur verzweifelt an.

»Ich sagte dir doch, du solltest dich dem Walde fernhalten,« fuhr Kennedy in ruhigem Tone fort. »Ich sagte dir, du solltest diese Lichtung nicht verlassen, sonst würde ich dir eine Tracht Prügel geben, um dir auf lange Zeit die Lust, irgendwohin zu gehen, zu nehmen. Du hast sie verlassen! Gut! Wollen sehen, ob du morgen oder übermorgen noch Lust haben wirst, herumzuvagabundieren. Ich werde dich lehren, unfolgsam zu sein!«

Während dieser ganzen Rede blieb Kennedys Stimme so tonlos wie zuvor. Ein Teil seiner Worte besaß für den Knaben keinerlei Bedeutung, aber wo Worte versagten, erfüllte die Stimme ihren Zweck. Ihr gemessener Klang trieb ihm das Blut zum Herzen. So pflegte sein Onkel zu sprechen, wenn er das Allerschlimmste im Schilde führte. Es war klar, Kennedy hatte seine Zusammenkunft mit seiner Großmutter belauscht. Thunderboy wußte daher, was ihm bevorstand. Auch ohne die Stimme hätte der Ausdruck seines Peinigers ihn genügend darauf vorbereitet. Kennedys klobiger Unterkiefer sank herab und ließ die Zähne – oder deren Stummeln – braungefärbt von Tabaksaft, hervorschimmern; seine Oberlippe kräuselte sich vor unterdrückter Wut, und sein verzerrter Mund erweckte den Eindruck eines lautlosen Knurrens; all diese Zeichen redeten für des zitternden Knaben Ohren eine beredte Sprache. Und erst jene Augen! Schon einmal hatte Thunderboy in solche Augen geblickt, aber damals waren es die Augen eines Wolfes, nicht die eines Menschen gewesen.

In der kurzen, inhaltschweren Pause, die auf Kennedys Rede folgte, während Mann und Knabe einander wortlos musterten, stieg aus der Richtung des Sees ein klagender, langausgezogener, unheimlicher Schrei auf. Es war ein schauerlicher Laut, – er schien diesen furchtbaren Momenten des Wartens angepaßt, als habe die noch ungeschehene Tat plötzlich eine Stimme bekommen. So unirdisch der zitternde Schrei auch war, Kennedy hatte ihn allzuoft gehört, um sich durch ihn von seinem Vorsatz abbringen zu lassen, und auch Thunderboy war er von Kindheit an vertraut – der altbekannte wilde Ruf des Eistauchers. Dieser Ruf galt ihm; er brachte eine dringliche Mahnung von den unheimlichen Gewässern dort draußen im Dunkel der einsetzenden Nacht. Dort, wo der mächtige See schimmerte und der Fluß sein Bett grub, dort, jenseits der Gefängnismauern der hölzernen Wigwams, lag die Freiheit, die Freiheit jener urwüchsigen indianischen Welt, wo des weißen Mannes Wille endete ... Der Eistaucher rief ihn, die stillen Wasser lockten, all jene fessellosen Schwingen und Füße draußen in der dämmrigen Unendlichkeit zogen ihn an! ... Aber er konnte ihnen nicht folgen ... Er saß hier gefangen, eingesperrt, so hilflos vor seinem Wärter wie ein Wolfsjunges in der Falle.

Er sah, wie sein Onkel einen Schritt näher kam, sah, wie er langsam den schweren Knüppel hob. Noch eine Sekunde und der erste erbarmungslose Streich würde niedersausen und die Tortur ihren Anfang nehmen. Aufkeuchend hielt er den Atem an, die Augen fest auf den Stock geheftet.

Draußen fielen Schritte, die Türklinke rasselte. Mit zornigem Stirnrunzeln senkte Kennedy den Prügel.

»Wer da?« rief er gereizt.

»Ich,« entgegnete eine rauhe Stimme. »Soapy.« Soapy ist ein unübersetzbares Wortspiel. Der Ausdruck bedeutet gleichzeitig seifig und soviel wie schleimig, ölig.

Wieder rasselte die Klinke, als hätte der Redner es sehr eilig. Kennedy warf seinem Opfer einen wild enttäuschten Blick zu, stellte den Stock in die Ecke zurück und riegelte die Tür auf, um seinen Besuch einzulassen. Soapy war ein untersetzter Mann mit breitem, tiefem Brustkasten. Er war ein alter Kamerad Kennedys und hatte sich den größeren Teil seines Lebens in den verschiedenen Urwaldniederlassungen herumgetrieben, wo er seinen Spitznamen mehr seiner äußeren Sanftmut als einer besonderen Reinlichkeitsliebe verdankte, denn seine Person starrte von Schmutz. Seine gegenwärtige Ungeduld entstammte zum Teil der Tatsache, daß sein Vorrat an Kautabak erschöpft war, und daß er »ohne das verdammte Zeugs« würde auskommen müssen, falls sein Kamerad ihm nicht »für einen halben Cent davon leihen« würde, bis die nächste Sendung einträfe. Als jedoch Kennedy seinen eigenen Tabak hervorgeholt und widerstrebend ein so großes Stück davon abgeschnitten hatte, als er bei der außerordentlichen zweifelhaften Aussicht, den Gegenwert je wieder zurückzuerhalten, »zu leihen« für gut befand, rückte Soapy mit dem zweiten Grund für seinen Besuch heraus, der Thunderboy die Ohren spitzen machte.

»Man braucht dich dort unten in Running Willys Gasthaus,« bemerkte er plötzlich. »Es hat in Three Rivers was gegeben; ein Weißer ist dabei ums Leben gekommen. Rothäute natürlich. Schlangenindianer, heißt es. Bei Running Willy soll so 'ne Art Kriegsrat stattfinden, um zu besprechen, wie man sich verhalten wird, falls unsere lieben Freunde Gelüste auf unsere Skalpe bekommen und wir sie zu einer freundschaftlichen Tasse Tee einladen müßten.«

Trotz Soapys charakteristischer Ausdrucksweise blickte Kennedy ernst drein. Mit unangenehmem Nachdruck erinnerte er sich der Warnung, die ihm Katoya wenige Wochen zuvor überbracht hatte. Er erzählte Soapy von der alten Indianerin plötzlichem Auftauchen.

»Etwas braut sich zusammen, darauf kannst du deinen letzten Dollar verwetten,« meinte Soapy; »sonst würde sie hier nicht herumschnüffeln.«

»Ich habe ihr gesagt, sie solle sich nicht wieder blicken lassen,« versetzte Kennedy, »aber sie ist wie all das übrige verdammte rote Geschmeiß. Das einzige Nein, das die verstehen, ist ein Stückchen kalten Bleies zwischen die Rippen.

»Stimmt,« bestätigte Soapy. »Es ist Zeit, daß man mit ihnen aufräumt. Aus dem Jungen ist wohl nichts herauszukriegen? Würde mich gar nicht wundern, falls er durch seine roten Verwandten über allerlei unterrichtet wäre.«

»Ich wollte gerade in aller Ruhe ein paar Worte mit ihm reden, als du kamst,« entgegnete Kennedy trocken. »Aber höchstwahrscheinlich würde er doch nichts weiter als lauter Lügen vorgebracht haben. Sie sind allesamt Lügner – Männer, Weiber und Kinder.«

»Vermutlich ist der Bengel so eine Art Spion,« meinte Soapy, während er sich einen Priem in den Mund stopfte. »Warum wäre die Alte sonst wohl so drauf versessen, ihn uns aufzuhalsen?«

»Ha, das ist also auch deine Ansicht?« rief Kennedy. »Mir ist in letzter Zeit öfter der gleiche Gedanke gekommen. Stimmt das, so räumen wir besser heute als morgen die Alte aus dem Wege.«

»Und der Junge da?« forschte Soapy. »Etwas muß auch mit ihm geschehen.«

»Zerbrich dir seinetwegen nicht den Kopf,« erwiderte Kennedy in vielsagendem Tone. »Ich werde dem Lümmel schon einbläuen, den Mund zu halten!«

Beide Männer blickten Thunderboy an, jeder auf seine besondere Weise. Er hatte ihr Gespräch nur zum Teil verstanden, aber das wenige, was er begriff, verbunden mit der Art, wie sie ihn anschauten, überzeugte ihn davon, daß ihrem gegenwärtigen Gedankenaustausch weder für seine Großmutter noch für ihn selbst Gutes entspringen könnte. Von jetzt an unterhielten sie sich so leise, daß er nur hier und dort ein Wort zu erhaschen vermochte, obwohl er sich nach Kräften bemühte, dem Gespräche zu folgen. Trotzdem wurde das eine für ihn zur Gewißheit: die Gefahr, die seiner Großmutter drohte, nahm zu.

Nach einer Weile erhoben sich beide Männer, um zu gehen. Thunderboy beobachtete jede ihrer Bewegungen. Zwar hütete er sich wohl, nach der Türe zu blicken, doch sein ganzer Körper und mit ihm auch sein Geist lechzten danach, den verzweifelten Sprung in die Freiheit zu wagen, sobald sich ihm die geringste Gelegenheit dazu böte. Allein Kennedy schien etwas Derartiges zu ahnen, denn als er Soapy herausließ, öffnete er die Tür nur halb und befahl dem Jungen barsch, zu bleiben, wo er wäre. Dann trat er selber hinaus und verschloß eilig hinter sich das Haus. Der Knabe hörte, wie draußen der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.

Alleingelassen, sank ihm der Mut. Was für Pläne man auch gegen seine Großmutter schmiedete, er vermochte sie nicht zu warnen. Er war hier so sicher gefangen, wie ein Vielfraß in einer von seines Onkels kräftigen stählernen Fallen. Soviel er verstanden hatte, befanden Kennedy und sein Gefährte sich jetzt auf dem Wege nach Running Willys Kneipe, um der dortigen Versammlung Katoyas Besuch bekanntzugeben und irgendeinen Plan auszuhecken, sie aus der Gegend zu vertreiben oder zu ermorden, falls sie sich zu gehen weigerte. Sie aber wußte nichts von dieser Verschwörung. In sechs Tagen, sobald der Mond voll wäre, würde sie zurückkehren und in die Falle hineinstolpern, die man inzwischen für sie vorbereitet hätte. Verzweifelt schaute er sich in der Hütte um. Er sah die verschlossene Tür, sah das durch schwere hölzerne Stäbe von innen und außen gesicherte Fenster. Nie zuvor hatte er des weißen Mannes Hütten so bitter gehaßt. Es war, als wollten diese aus Baumstämmen errichteten Wände seinen in ihrem engen Raume eingesperrten Geist zum Wahnsinn treiben. Und jede Minute, die jetzt tatenlos verstrich, bedeutete eine neue Schlinge an dem Lasso, der seine Großmutter in ihr Verderben reißen sollte.

Plötzlich stürmte er in einem Ausbruch verzweifelter Wut zur Tür und warf sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers gegen die Füllung. Diese krachte zwar ein wenig, aber das starke Holz widerstand. Er sprang an das Fenster und riß verzweifelt an den Gitterstäben. Sie waren so ausgetrocknet und so fest an ihren Platz genagelt, daß sie nicht einmal knisterten. Da packte ihn eine Art Raserei, wie er sie nie zuvor gefühlt. Er tobte wie ein Irrer durch den Raum und zertrümmerte alles, was ihm im Wege stand. Er schlug nicht etwa aus kleinlicher Rachsucht des Bleichgesichts Hab und Gut in Stücke. Im Augenblick hatte er aufgehört, ein Knabe zu sein, ja, er hatte jedes Gefühl der Menschenzugehörigkeit verloren. Er war kein zorniger junger Indianer mehr, der seiner Wut die Zügel schießen ließ. Ein Orkan blindwütiger Leidenschaft war hier Mensch geworden und zerschmetterte mit der hemmungslosen Kraft des Schneesturms, der heulend vom Nordpol daherfegt, des weißen Mannes Gerät zu einem Chaos. Dem Anscheine wie der Absicht nach war Thunderboy toll geworden. Er war besessen – besessen von Kräften, die er nicht verstand. Geister waren in ihn eingezogen, Geister, welche der Menschen Blutströmungen bewegten, lang ehe das Dämmerlicht der Zivilisation die Augen ihres Morgens verdüsterten. Die ›Medizin‹ seiner Ahnen, zu keiner Zeit von jenem Dämmerlicht ereilt, war wieder in ihm aufgelebt und mit ihr auch die Medizin der Wildgeschöpfe – Wolf, Bär, Berglöwe und Elch – die jetzt die menschliche Schale durchbrachen und sie, über Tausende von Monden zurückeilend, in Trümmer schlugen. Die Seele der Wildnis und der Wildnis Kinder riefen ihn mit der mächtigen Gewitterstimme heroischer Kämpfe und Abenteuer zurück in den Urwald der Zeit.

*

Als er wieder zu sich selber kam, stand er zitternd neben dem umgeworfenen Ofen und betrachtete mit entsetzten Blicken das Chaos, als habe ein fremder Mensch dieses Unheil angerichtet. Das Innere der Hütte glich einer Ruine. Alles Zerbrechliche lag, kurz und klein geschlagen, hier und dort in einem einzigen Trümmerhaufen.

Doch wenn auch Kennedys häusliche Penaten polternd ins Chaos zurückgestürzt waren, ein einziger Gegenstand hatte in erhabener Isoliertheit die Verwüstung überdauert und tickte immer noch unerschütterlich und im Takt über der allgemeinen Auflösung. Dort oben an der Wand zog dieses Etwas des racheübersättigten Knaben Blicke auf sich. Hatte denn das ewige Medizinmachen noch immer nicht aufgehört? Scheinheilig, mundlos, fraß es mit unsichtbar knirschenden Zähnen das Schweigen!

Jene verhaßte Verkörperung von des weißen Mannes Tücke und Schläue, der Chronometer seines unbarmherzigen Willens, stachelte Thunderboy zu erneuter Wut an. Er stürzte zu der Wand hin, packte das Pendel und die Kette zum Aufwinden mit beiden Händen und riß daran mit aller Kraft, bis die Uhr krachend zu Boden stürzte. Dann trat er das zu ihm aufgewandte Antlitz mit Füßen, zertrampelte es, bearbeitete es mit dem Stock und schlug das Uhrwerk in taufend Stücke.

Allmählich wurde er ruhiger, sein Verstand gewann wieder die Oberherrschaft. Er brauchte nicht erst nachzudenken, um zu wissen, was ihm bei Kennedys Rückkehr drohte. Der Stock, der ihm als Werkzeug der Zerstörung gedient, hatte selbst jedem Vernichtungsversuch widerstanden. Jetzt versteckte ihn Thunderboy unter den Überresten. Aber er wußte ja, daß er noch da war und auf Thunderboys Verderben lauerte, bis sein rechtmäßiger Eigentümer ihn entdeckt hätte. Todesangst schärfte des Knaben Geist.

Fast das einzige, was er nicht in Stücke geschlagen hatte, war die Flasche mit der Kerze in ihrem Hals, die Kennedy offenbar auszulöschen vergessen hatte und die immer noch trübe schwelte und ein unsicheres Licht auf den Schauplatz der Verwüstung warf. Thunderboy erkannte klar: seine einzige Aussicht auf Flucht bestand in totaler Finsternis, ehe noch sein Onkel bei der Rückkehr ein Streichholz anzuzünden vermöchte. Sorgfältig berechnete er die Entfernungen zwischen den verschiedenen Trümmern, dann schichtete er die einzelnen Teile eines zerbrochenen Stuhles und andere Bruchstücke von Möbeln so auf, daß jeder, der im Dunkel die Hütte betrat, unbedingt darüber stolpern mußte. Die übrigen Gegenstände brachte er in verschiedenen Winkeln des Raumes unter. Endlich blies er die Kerze aus und kauerte sich, dicht an die Wand geschmiegt, zwischen Fenster und Tür hin.

Es war jetzt sehr dunkel, und der Mond würde erst in einer Stunde aufgehen. Draußen verbreiteten die Sterne ein mattes Licht, aber vom Flusse stieg Nebel auf und hüllte den ganzen Erdboden in Kniehöhe in ein wanderndes Leichentuch. Im Innern der Hütte herrschte tiefste Finsternis.

Während Thunderboy so am Boden hockte, war es ihm, als zählten die Schläge seines Herzens die Stunden, welche die verhaßte Uhr nicht länger zu schlagen vermochte. Die Nacht trieb dem Mondaufgang entgegen, und mit ihm würden die Schwierigkeiten der Flucht sich noch erhöhen ... Würde Kennedy denn niemals wiederkehren?

Ah! Das waren Schritte, – endlich – schwere Schritte, die der Knabe nur allzugut kannte. Sie kamen näher und näher ... Thunderboys Herz trommelte mit gedämpftem Schlage, der ihm bis in die Ohren dröhnte.

Näher, immer näher! ... Jetzt waren sie ganz nah! Jetzt stand Kennedy vor der Tür!

Eine Pause. Während dieser qualvollen Wartezeit glich Thunderboys Herzschlag dem Trommeln von Polikopi, dem großen Medizinmanne, wenn er am Krankenlager eines Patienten den bösen Geist austrieb.

Jetzt wurde der Schlüssel in das Schloß gesteckt, jetzt mit einem klirrenden Geräusch umgedreht! Kennedy stieß die Tür auf, und die kühle Nachtluft strömte in das Zimmer. Gleichzeitig war es ihm, als verwandle sie sich in einen festen Körper, um mit explosiver Gewalt wieder in das Freie zu stürmen. Die Explosion traf Kennedy mitten in der Magengrube und raubte ihm den Atem. Er keuchte, krümmte sich zusammen, taumelte, verfing sich mit dem einen Fuß in dem zerbrochenen Stuhl und stürzte polternd zu Boden.

Als er sich wieder aufgerafft und seinen Atem zurückgewonnen hatte, erkannte er die beschämende Wahrheit: Thunderboy war entflohen.

Außer sich vor Wut, jagte er in die Lichtung hinaus und brüllte seines Neffen Namen. Ebensogut hätte er den Nachtschwalben pfeifen können, deren Ruf hoch zu seinen Häupten in ihren sternerhellten Jagdgründen ertönte, sie möchten sich auf seine Hand niederlassen. Nichts antwortete ihm aus der Leere. Sein zorniges Gebrüll wurde von der gewaltigen Strömung der Nacht aufgesogen.

Er rannte in die Hütte zurück, schlug der Länge nach hin, stieß sich über einem zweiten Trümmerhaufen wund und zündete die Kerze an. Ein, zwei Minuten verschlug das Schauspiel, das sich seinen wütenden Blicken bot, ihm die Rede. Dann aber legte er los, und selbst die Einwohner am anderen Ende der Siedlung traten vor ihre Haustüren, um seinen Flüchen zu lauschen!

Doch während er so raste, flohen eilige Mokassins tiefer und tiefer in die Dunkelheit hinein, und der Nebel verbarg ihre Spur unter seinem feuchten, wandernden Leichentuch.


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