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Sechstes Kapitel

Katoya hat Visionen

Das eine stand fest: als Großmutter war Katoya, verglichen mit anderer Leute Großmüttern, ein wenig schrullenhaft. Thunderboy fand das schon ziemlich früh heraus und hatte im Laufe der Zeit auch keinen Grund, seine Meinung zu ändern. Während anderer Leute Großmütter, zum Beispiel, den größeren Teil ihres Daseins im Dorf oder in seiner Nachbarschaft mit Bemalen von Büffelfellen, dem Gerben von Häuten oder dem Flechten von Fischleinen aus Fasern der Weidenrinde verbrachten, hatte Katoya die Gewohnheit, auf ganze Tage im Urwald zu verschwinden. Selbst bei den seltenen Gelegenheiten, da sie Thunderboy mitnahm, konnte er an all ihren Wanderungen kein anderes Ziel entdecken, als das, in möglichst einsamen Gegenden herumzustreifen und auf Dinge zu warten und zu lauern, die niemals kamen. Gewöhnlich aber ließ sie ihn in der Obhut irgendeiner anderen Indianerin zurück mit der Anweisung, bis zu ihrer Wiederkehr das Dorf nicht zu verlassen, und da es daheim reichlich Gelegenheit zu dummen Streichen gab, wenn man nur geduldig danach ausschaute, gewährte diese Abmachung Thunderboy meist größere Befriedigung als jenen, denen er zur Obhut anvertraut war.

Es war bei einer dieser Gelegenheiten an einem Morgen zu Beginn des Mondes der Rosen, als Katoya bei ihrem Verschwinden Thunderboy unter der Obhut von ›Fettschmelzerin‹, der Allerweltstante, zurückließ. Wie sich später herausstellte, war es ein wichtiger Tag in Katoyas Leben, ein Tag, der mit weitreichenden Händen in die Zukunft griff und deren Schicksalsmantel lüftete. Auch für ›Fettschmelzerin‹ war der Tag aus mehr als einem Grunde denkwürdig, und sie ihrerseits grub ihn wieder mit ihren weitreichenden Händen Thunderboy ins Gedächtnis!

Kaum glaubte sich Katoya dem Gesichtskreis des Dorfes entschwunden, da veränderte sich ihre ganze Haltung. Ihre Augen schienen überall zugleich zu sein und durchforschten die Dickichte mit durchdringendem Blick. Sie schritt auf verstohlenen Sohlen in Mokassins, die nur den leisesten Hauch eines Geräusches hinterließen, und trat so behutsam auf, daß kein Zweiglein knackte. Diesem lautlosen Vorwärtsstreben, verbunden mit Stunden geduldigen Wartens neben den Wildfährten, verdankte sie ihr Wissen um die innersten Geheimnisse des Waldes, Geheimnisse, wie selbst die weisesten Indianer sie kaum kannten und mit denen Katoya Mond um Mond ihre Kenntnisse bereicherte.

Einer ihrer Lieblingswachtposten war ein hoher Hügel östlich des Cut-bank-Canyons, an dessen Fuß verschiedene Wechsel sich trafen. Hier pflegte sie mit dem Rücken gegen einen alten Fichtenstumpf so vollkommen regungslos zu sitzen, daß selbst die schärfsten Augen die beiden Dinge nicht zu unterscheiden vermochten und sie für ein und dieselbe Bildung aus dem Pflanzenreiche hielten. An diesem Ort bezog sie auch heute wieder ihren Beobachtungsposten.

Es war um die Stunde, da die Geschöpfe der Wildnis nach ihrer mittäglichen Ruhepause sich wieder ins Freie wagten. Aus den Föhrendickichten auf den Berghängen trat vorsichtig ein Rudel Hirsche, die zuckenden Nüstern dem Winde zugewandt, um behutsam die verräterischen Düfte zu sichten, die er mit sich führte. Gemächlich trabte ein großer Fuchs seines Weges, um den Wald, der ihm tagsüber als Deckung diente, gegen seine nachmittäglichen Jagdgründe am Westabhange des Hügels zu vertauschen. Ein Kaninchen rührte sich in seinem Bau und hielt gerade noch rechtzeitig inne, als es keine drei Sprünge unter sich das rotbraune Fell seines Todfeindes über dessen Flanken erzittern sah. Eine kleine gelbbraune Gestalt, mit boshaft gekrümmtem Buckel, etwa von der gleichen Farbe wie die dürren Kiefernnadeln, war die nächste, ihren Unterschlupf zu verlassen, und das Kaninchen erhielt einen zweiten Schreck, als es diesen anderen Mörder, das Wiesel, eilig im Grase untertauchen sah. Winzige Feldmäuse huschten gleich kleinen, graubraunen Erdgeistern mit leisem Rascheln und Knistern zwischen den Gräsern und welkem Laube dahin und verwechselten mitunter sogar Katoyas Mokassins mit einem Teile der Landschaft. Aber von all jener verstohlenen Welt, die ihrem heimlichen Geschäft des Tötens oder Nichtgetötetwerdens nachging, erkannte auch nicht ein Geschöpf die regungslose Gestalt neben dem Fichtenstumpf, deren wachsamen Augen keine Bewegung entging.

Doch alles, was Katoya sah, waren lediglich vertraute Erscheinungen und Geräusche einer uralten indianischen Welt, die sie von Kindheit an kannte, wie Generation für Generation von Rothäuten sie gekannt, bis hinauf in jene Zeit, da der Mensch erst zur Hälfte Mensch geworden war und sich kaum aus seinem tierischen Dasein emporgerungen hatte.

Allmählich jedoch begannen andere Gestalten Katoyas Geist zu bevölkern, – Gestalten aus einer verklungenen Vergangenheit, Ereignisse, die sich lange vor ihrer Geburt zugetragen hatten. Und wie stets, wenn ihre Seele gleichsam mit den Wurzeln der Jahrhunderte verschlungen war, fiel Katoya in einen tiefen Trancezustand.

Diese Sehergabe kam und ging ohne ihren bewußten Willen. Manchmal schlummerte die betreffende Eigenschaft wochen- und monatelang, dann wieder nahm sie, ohne jede vorherige Warnung, restlos von ihr Besitz, und vor Katoyas Augen entrollten sich die Geschicke ihrer Rasse. Was sich in Wirklichkeit um sie herum begab, blieb alsdann ohne Wirkung auf sie; und wiewohl sie die Formen ihrer Umwelt noch wahrnahm, verschmolzen deren Gestalten und Geräusche so vollständig mit denen ihrer Entrücktheit, daß zwei Welten in ihrem Blickfeld durcheinander wogten. So war es auch jetzt; als daher ein Hirsch, der ahnungslos am Fuße des Abhanges geäst hatte, plötzlich einen Luftsprung tat und mit einem Pfeil in seinem Herzen zu Boden stürzte, vermochte dies Geschehen das Geisterrudel, das in Katoyas Hirn weidete, nicht zu verjagen.

In der nämlichen Sekunde tauchte aus dem Gestrüpp ein Indianer auf und lief auf das erlegte Wild zu. Kaum war das geschehen, als ein zweiter Indianer aus dem Unterholze hervorbrach.

Aus der Tiefe ihrer Entrücktheit gewahrte Katoya genau, was weiter geschah, so klar, als wäre sie hellwach und all ihrer Sinne mächtig, und nur ein einziger Unterschied war dabei: Wohl waren ihr die Gesichtszüge der beiden Indianer vertraut, aber sie war außerstande, beide mit ihrem Wachleben in Verbindung zu bringen. Sie sah der Männer zornigen Zusammenstoß, hörte, wie sie sich über dem Hirsche stritten, der anscheinend von dem ersten Indianer getötet worden war, derweil der zweite ihm nachgestellt hatte; und Katoya begriff, daß diese beiden, ganz abgesehen von ihrem gegenwärtigen Zwist, uralte Feinde waren. Sie wußte genau, was kommen mußte, noch ehe es geschah. Und obwohl sie ihren ganzen Willen aufbot, um den zweiten Indianer zu warnen, daß sein Feind zum Streiche ausholen würde, versagte ihre Stimme, und ihr ganzer Körper verharrte in Erstarrung. Katoya gewahrte die rasche Aufwärtsbewegung des Armes, sah die Sonne auf einer Messerklinge funkeln, hörte einen schrillen Schrei; dann brach die Flut ihrer Visionen über sie herein, die gegenwärtige Szene unter sich begrabend.

Als Katoya ihrer Sinne wieder mächtig wurde, war der Nachmittag weit vorgeschritten; die Sonne warf bereits lange Schatten. Quälender Zweifel voll, trat die alte Indianerin den Heimweg an. Sie versuchte, sich an etwas zu erinnern, das sie in ihrer Entrücktheit gesehen, an etwas, das sich trotz aller Mühen in ihrem wirren Hirn verfangen hatte, gleich einem Tier im Waldgestrüpp, und das, wie dieses, sich wehrte, ans Tageslicht gezerrt zu werden. Je nebelhafter alles wurde, desto mehr verstärkte sich Katoyas Überzeugung, daß es von höchster Wichtigkeit sei, diesem Unbestimmten in dem Dickicht ihres Gemütes nachzuspüren.

Sie erreichte das Dorf und fand Thunderboy auf das Abendessen wartend. So tief war sie in Gedanken versunken, daß sie ihn nicht fragte, wie er in ihrer Abwesenheit den Tag verbracht hätte. ›Fettschmelzerin‹ hätte sie über diesen Punkt sehr wohl aufklären können, war aber zum Glück für Thunderboy im Augenblick mit der Zubereitung ihres eigenen Abendessens beschäftigt, so daß der Bericht seiner Missetaten hinausgeschoben wurde. Da der Knabe obendrein merkte, daß seine Großmutter in tiefes Grübeln versunken war, erachtete er es für das Klügste, den Mund zu halten. Er hoffte, ›Fettschmelzerin‹ würde erst spät am Abend, wenn er schon wohlgeborgen im Bette läge, vorsprechen.

Kurz danach machte er seine Großmutter auf einen Krieger aufmerksam, der mit einem erlegten Wild auf dem Rücken in das Dorf zurückkehrte. Katoya blickte von ihrem Kochtopf auf und sah die Gestalt eines Mannes, der sich unter dem Gewicht eines großen Hirsches krümmte, welchen er nach Indianerart, Vorder- mit Hinterfüßen zusammengebunden, trug. Durch den so gebildeten Winkel hatte der Mann seine Arme gesteckt, so daß des Tieres Kopf ihm im Gehen über die Schulter baumelte. Als er an Katoyas Wigwam vorbeischritt, wo diese ihr Essen kochte, trafen sich ihrer beider Augen, und kaum hatte sie sein Gesicht erblickt, da fand ihr Gedächtnis das wieder, was zu ergründen sie sich so verzweifelt gemüht hatte. Sogleich spielte sich die Szene im Urwald vor ihrem geistigen Auge von neuem ab. Sie sah den Hirsch zusammenbrechen, sah den raschen Hieb, sah das Messer in der Sonne aufblitzen und das Opfer zu Boden stürzen.

›Narbengesicht!‹

Jetzt, wahrlich, wußte sie Bescheid!

»Der ›Rennende Wolf‹ ist auch jagen gegangen,« fuhr Thunderboy fort, sobald ›Narbengesicht‹ außer Hörweite war. »Ich wollte ihn begleiten, aber er erlaubte es mir nicht. Er sagte, er ginge ein sehr großes Wild jagen; er wollte einen Grizzly erlegen. ›Narbengesicht‹ würde keinen Grizzly töten. Dazu ist er nicht tapfer genug. Er kann nur einen Hirsch töten!«

»Woher weißt du, was ›Narbengesicht‹ töten oder nicht töten kann?« fragte ihn Katoya schroff. »Du hast ihn ja nicht einmal einen Hirsch töten sehen.«

»Doch, ich habe ihn töten sehen!« lautete die ebenso scharfe Antwort. »Ich habe gesehen, wie er das kleine Hündchen von ›Viele Beeren‹ tötete. Er hat ihm den Hals umgedreht, ganz fest umgedreht, und es dann in den Fluß geworfen. ›Viele Beeren‹ weinte sehr, weinte so sehr, daß ihr viel Wasser aus den Augen lief. Aber ich sagte zu ›Viele Beeren‹, ›Narbengesicht‹ habe keine Angst, das Hündchen zu töten, weil er wisse, daß es noch nicht beißen könnte. ›Narbengesicht‹ war nicht zufrieden in seinem Inneren, als er das hörte. Er sagte, er würde mich dem Hündchen nachwerfen, aber da kam der ›Rennende Wolf‹ das Ufer entlang geschritten, und ›Narbengesicht‹ wagte es nicht.«

»Es ist besser, ›Narbengesicht‹ in Ruhe zu lassen,« entgegnete Katoya. »Er ist ein schlechter Mensch. Gehe nicht in seine Nähe. Auch ich habe ihn töten sehen.«

Als aber Thunderboy sich erkundigte, was sie ihn hätte töten sehen, befahl sie ihm, sein Abendbrot zu essen und keine weiteren Fragen zu stellen, und bald darauf jagte sie ihn schleunigst ins Bett. Er ging widerwillig, denn er wollte den ›Rennenden Wolf‹ mit einem toten Grizzly auf dem Rücken heimkehren sehen; andererseits aber konnte, wenn er nicht folgte, jede Minute ›Fettschmelzerin‹ erscheinen, und wenn sie auch keinen leibhaftigen toten Grizzly trüge, so würde sie doch vielleicht noch etwas viel Schrecklicheres mitbringen. Daher nahm Thunderboy seiner Großmutter das Versprechen ab, ihn sofort zu wecken, falls der ›Rennende Wolf‹ mit dem toten Grizzly heimkehrte, und Katoya gab das Versprechen bereitwillig, da sie nur allzu gut wußte, daß der ›Rennende Wolf‹ niemals heimkehren würde.

Kaum war Thunderboy eingeschlafen und die Dunkelheit eingetreten, da schlich sich Katoya heimlich zu ›Adlerfeders‹ Wigwam. Sie fand ihn rauchend vor dem Eingang neben einem lustig brennenden Feuer sitzen, über dem seine Frau Sokomix das Essen kochte. Ohne ein Wort deutete Katoya nach dem Innern des Wigwams, und beide merkten, daß die Alte ihnen eine vertrauliche Mitteilung machen wollte, ohne die Aufmerksamkeit der übrigen Stammesmitglieder zu erregen. Sie gingen mit ihr hinein, und Katoya sprach:

»Dein Sohn, der ›Rennende Wolf‹, ist heute früh auf die Jagd gegangen.«

»Ja,« antwortete ›Adlerfeder‹ unruhig, denn er merkte aus Katoyas Gebahren, daß hinter ihren Worten Ungewöhnliches lauere. »Wir glaubten, er würde mit der Nacht zurückkehren. Es ist nicht gut, nachts zu reisen.«

»Ich kam, um euch zu sagen, daß er heute nacht nicht heimkehren wird,« lautete Katoyas gedehnte Antwort. »Er folgt einer langen Fährte. Aber ›Narbengesicht‹ ist wiedergekehrt. Auch er ging heute früh jagen.«

»Ich weiß es,« erwiderte der Häuptling. »Ich sah ihn vor kurzem mit seiner Beute heimkommen.«

»Ja,« bestätigte Katoya mit Betonung. »Ich sah ihn töten.«

Im Reden nahm sie eine Stellung ein, daß der durch den Eingang des Wigwams dringende Feuerschein voll auf ihr Gesicht fiel.

»Du bist gekommen, uns zu sagen ...?« unterbrach Sokomix sie mit heiserer Stimme, die in einen leisen Schrei ausklang.

»Ich bin gekommen, euch zu sagen,« antwortete Katoya langsamer denn je, »daß ›Narbengesicht‹ nicht alles, was er tötete, heimgebracht hat.«

Im flackernden Feuerschein, der Katoyas Gesichtsausdruck eine furchtbare Bedeutung verlieh, erkannten ›Adlerfeder‹ und Sokomix den Grund, weshalb ihr Sohn, der ›Rennende Wolf‹, nie wieder den Heimweg antreten würde.

*

Sehr früh am folgenden Morgen, bei Tagesanbruch, verließ ein Trupp Indianer mit Katoya an der Spitze geräuschlos das Dorf. Sie führte sie auf geradem Wege nach der Stelle, wo sie ›Narbengesichts‹ Angriff auf sein Opfer mit angesehen hatte. Ganz in der Nähe in einem Farndickicht wurde die Leiche des ›Rennenden Wolfs‹ gefunden.

Unverzüglich kehrte der Trupp ins Dorf zurück, um ›Narbengesicht‹ gefangen zu nehmen und ihn des Verbrechens zu bezichtigen. Doch Schläue, geboren aus Furcht und Schuldbewußtsein, hatte ›Narbengesicht‹ gewarnt: er war geflohen. Er hatte beobachtet, wie sich der Trupp unter Katoyas Führung aus dem Dorfe fortgestohlen, und hatte begriffen, daß die Frau unsichtbar Zeugin seiner Tat gewesen sein mußte.


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