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Achtzehntes Kapitel

Thunderboys neuer Kamerad

Als Katoya sehr früh am folgenden Morgen an das Seeufer hinunterging, um Wasser zu schöpfen, gewahrte sie am Waldessaum einen großen Kuguar, der sie unablässig beobachtete. Sie zweifelte keine Sekunde, daß es der gleiche sei, der tags zuvor ihren Enkel überrumpelt hatte. Eine Zeitlang stand sie, ohne sich zu rühren, und blickte das Tier an, und der Kuguar erwiderte ihren Blick nicht minder starr. Dann schritt sie langsam und bedächtig auf ihn zu, ohne ihn auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Als sie so nahe an ihn herangekommen war, daß sie ihn nach den nächsten paar Schritten hätte berühren können, blieb sie abermals stehen und sah ihm tief in die Augen. Während dieser ganzen Zeit stand der Silberlöwe regungslos und beobachtete fasziniert ihr langsames Näherkommen; ja selbst jetzt, da sie ihn fast erreicht hatte, schien er nicht im geringsten erschreckt zu sein, sondern begegnete Katoyas Blick mit einem ebenso festen Blick aus seinen leuchtenden grünen Augen. So standen sie, das Weib und das wilde Tier, eine ganze Weile, wohl eine Viertelstunde lang nach der Uhr von Greenwich oder Washington; für sie jedoch waren diese Augenblicke zeitlos, von irgendwoher aus der Mitte zahlloser Monde auf die Erde heruntergefallen. Und in diesem ungemessenen, unmeßbaren Teil ihres Daseins erwuchs zwischen Tier und Frau ein Verständnis, das keiner von beiden hätte in Worte kleiden können, das jedoch den ganzen Verlauf ihres Lebens von Grund auf ändern sollte. Worin eigentlich dieses Verständnis bestand und wie sie dazu gelangten, das freilich vermag niemand zu sagen. Es war der Anfang einer seltsamen Kameradschaft, wie sie in der Wildnis des öfteren vorkommt, eines jener tausend Geheimnisse, die sich zwischen den Urwaldstämmen für immer dem menschlichen Wissen entziehen.

Als Thunderboy an jenem Morgen aufstand, mußte er entdecken, daß die Bevölkerung der kleinen Niederlassung in der überraschendsten Weise gewachsen war; ja, seit seinem Zubettgehen hatte sie sich um ein Drittel vermehrt. Das erstaunlichste aber war: während der ältere Teil der Einwohner sich angelegentlich mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigte, starrte ihn der Bevölkerungszuwachs mit unerschütterlicher Ruhe aus glasharten grünen Augen an und schien sich bereits so vollständig mit seiner neuen Umgebung verwachsen zu fühlen, wie sein eigener Schwanz mit seinem Körper. Zum Glück waren Thunderboy und der Löwe sich ja schon einmal begegnet, daher bedurfte es nicht erst einer förmlichen Vorstellung. Katoya überließ sie außerdem gänzlich sich selber und schien nur Augen für ihren Kochtopf zu haben; also versuchte Thunderboy auf seine eigene Weise, dem Ankömmling einen Willkommensgruß zu entbieten, und es dauerte nicht lange, da kraulte er ihm bereits entzückt den dichten Pelz. Des Silberlöwen Freude war sogar noch größer als die des Knaben. Auf Thunderboys Liebkosungen antwortete er mit jedem nur erdenklichen Ausdruck des Wohlbehagens. Er legte sich auf die Seite und dehnte und streckte seinen elastischen Körper nach allen Richtungen, bis sein glattes Fell sich in so feinen Abtönungen von Licht und Schatten über seinen kräftigen Muskeln wellte, daß sein ganzer Leib förmlich dahinzufließen schien.

Von jenem Tage an war Manu ein anerkanntes Mitglied der kleinen indianischen Siedelung an den Ufern des großen Sees. Sein Benehmen ähnelte, solange er daheim war, in jeder Hinsicht dem einer Hauskatze, das Schnurren nicht ausgenommen, nur daß dieses Schnurren der Größe seines Erzeugers entsprechend etwa zwanzigmal so kräftig wie das einer gewöhnlichen Katze war. Außerdem blieb Manu im Gegensatz zu dem so beliebten Haustier im Grunde seines Herzens stets ein unausgewachsenes Löwenjunges. Sobald er Thunderboy nicht zum Spielen bewegen konnte, pflegte er einen dürren, abgebrochenen Ast mit der gleichen raffinierten Weidmannskunst zu begleichen, wie zum Beispiel ein Rebhuhn, oder aber er machte sich unsäglich lächerlich, indem er seinem eigenen Schwanz nachlief. Außerhalb der Niederlassung jedoch verwandelte er sich im Handumdrehen in einen Silberlöwen und wurde wieder der furchtbare Manu, der auf den Hängen des Tanukberges um seine Jagdgründe gekämpft hatte. Sein Können als Jäger war unermeßlich groß, und da er nicht alles, was er tötete, verzehren konnte, schleppte er ständig allerlei Beute herbei, die zusammen mit Katoyas Erträgnissen aus dem Fischfang den Mundvorrat der Siedlung bildete. Mit Vorliebe jagte Manu des Nachts. Dazu wartete er aber nicht erst den Mondaufgang ab. Für Manu war die Dunkelheit durchaus keine tote Finsternis, sondern nur ein listiges Schattengewand, das die Nacht, diese mächtigste aller Jägerinnen, über den Kopf des Tages warf. Und jenes Schattengespinst erhellten die grünen, funkelnden Feuer, welche in den Stunden der Helligkeit in Manus Haupte schlummerten, Feuer, in denen zur Nachtzeit das tödliche Jagdlicht erglänzte, welches auch das dichteste Dunkel durchdrang.

Wieder und immer wieder lag Thunderboy auf der Lauer, um diese plötzliche Wandlung in Manu zu beobachten. Den ganzen Tag über war dieser eine große verspielte Katze, die häufig um die Mittagszeit recht schläfrig wurde, mit einem dichten, wundervoll weichen Pelz – falls man gerade ein Ruhekissen brauchte – und einem tiefen, vibrierenden Schnurren, dessen volle, rauhe Musik ein herrliches Schlummerlied bildete. Kaum aber verlängerten sich die Schatten und rührte sich allerlei unsichtbares Leben in dem Urwaldgestrüpp, da wurde Manu die verkörperte schlanke, biegsame Rastlosigkeit. Dann lauschte und spähte er nach allen Richtungen zugleich aus, seine gepolsterten Sohlen juckten, auf und davon zu gehen, und seine Pupillen verwandelten sich aus zwei schläfrigen, starren Glaskugeln in zwei unergründliche funkelnde Smaragde, die in der rotbraunen Dämmerung leuchteten. Wann genau diese Wandlung einsetzte und wie sie sich vollzog, das konnte Thunderboy dem Kuguar nicht ablauschen. In einer einzigen Sekunde, noch ehe man mit der Wimper zu zucken vermochte, war die Veränderung da; die schnurrende, kindische Katze mit dem glatten Fell und dem fast lächelnden Gesicht war wieder zu dem furchtbaren Silberlöwen geworden, dem arroganten Beherrscher der Jagd, der selbst dem Grizzlybären seine Schranken zog.

Trotzdem hatte Manu unter einem geheimnisvollen Nachteil zu leiden, dessen Ursache er nie zu ergründen vermochte. Selbst wenn sein Körper noch so listige Schleicharbeit leistete und das weichgepolsterte Schweigen seiner Sohlen sich so behutsam wie die Hufe eines Rehkalbes auf die Wildwechsel senkte, kochte doch mitunter ein Teil seiner Gefühlsregungen, der sich vollständig seiner Gewalt entzog, über und verriet seine Gegenwart den anderen Geschöpfen. So kam es, daß Manus Beute, noch ehe Auge und Ohr eine warnende Botschaft senden konnten, mitunter auf irgendeine geheimnisvolle Weise die Gefahr erriet und sich aus dem Staube machte, bevor noch der Kuguar die mächtigen Hinterschenkelmuskeln zum Sprunge zusammenzog. Und jedesmal, wenn dieses eintrat, war Manu so verwirrt wie das erstemal und pflegte die Stelle, an der seine Beute noch eine Sekunde vorher geweidet hatte, genau zu beschnuppern, als gelte es, durch seine Sinne den Beweis zu erbringen, daß sie sich auch wirklich dort befunden hatte.

Es war Thunderboys heißester Wunsch, Manu einmal auf dessen nächtliche Expeditionen begleiten zu dürfen. Manu jedoch besaß trotz seiner leidenschaftlichen Zuneigung zu dem kleinen indianischen Kameraden, und so sehr er zu anderer Zeit Thunderboys Gesellschaft liebte, seine eigenen Anschauungen über die Art Beute, die er, behaftet mit einem menschlichen Wesen, aller Wahrscheinlichkeit nach erlegen würde. Daher lehnte er, höflich wie er war, Thunderboys Begleitung zwar nicht ab und ließ auch nicht das leiseste Mißfallen durchblicken, während er anmutig auf den elastischen Fußkissen, die seine Krallen verbargen, seines Weges schritt, aber er war so ungemein listig in all seinem Tun und Handeln, daß Thunderboy früher oder später unweigerlich allein zurückblieb, ohne die leiseste Ahnung, wie das eigentlich zuwege gegangen war. Auf welche Weise Manu es fertigbrachte, ihm vor der Nase zu verschwinden, darüber hätte nur Manu selbst Aufschluß geben können. Thunderboy war und blieb es trotz seiner Weidmannskunst ein unlösbares Rätsel. Wieder und wieder pflegte er auf diesen unterbrochenen Jagdausflügen, die stets so vielversprechend anfingen und bei denen Manu jedesmal den Eindruck erweckte, als habe er sein Vorurteil gegen die Einzeljagd endlich überwunden, verwundert den leeren Raum anzustarren, wo noch eine Sekunde zuvor der Silberlöwe neben ihm einhergetrabt war, nur um voller Ärger zu erkennen, daß er wieder einmal genasführt worden war. Augenscheinlich war die einzige Möglichkeit, Manu nicht aus den Augen zu verlieren, die, sich fest an seinen Schwanz zu klammern und diesen die ganze Nacht über auch nicht eine Sekunde loszulassen. Doch wiewohl er volle drei Fuß lang hinter Manus vier Fuß langem Körper einherbaumelte und Thunderboy häufig, zu des Silberlöwen größter Begeisterung, sich tatsächlich daran festklammerte – nämlich, sobald sie in der Niederlassung ihre Spiele miteinander trieben – war eine derartige Marschordnung auf der Jagd doch nicht gerade das Gegebene, wo es eine unerläßliche Vorbedingung zum Heranpirschen an eine schwer zu erlegende Beute ist, sich in dem Bruchteil einer Sekunde ohne Hindernis von der Erde loslösen zu können und sich als vereinigte Büchse und Geschoß über eine zwanzig Fuß lange Entfernung zu schnellen.

Nach wiederholten Fehlschlägen hatte Thunderboy seine Lektion gelernt und sich mit seiner Niederlage abgefunden. Was hatte es für einen Zweck, mit einem Geschöpf zu streiten, das in der einen Sekunde ein höchst greifbarer Silberlöwe und in der nächsten nichts als dünne Luft war? Nur ein ausgemachter Hansnarr hätte es auch fernerhin versucht, diese dünne Luft beim Schwanz einzufangen; und wiewohl Thunderboy Mensch genug war, um ein ganz klein wenig eingebildet zu sein, war er doch viel zu vernünftig, um nicht einzusehen, daß er sich hier einem überlegenen Gegner gegenüber befände.

Also kehrte er jedesmal, nachdem Manu ihm triumphierend entwischt war, mit heilsamer Beschämung in die Niederlassung zurück.

Jedoch sowie Manu keine Jagdpläne im Schilde führte und Thunderboy Lust zu einem Stückchen Schleicharbeit im Urwald spürte, weigerte sich der Silberlöwe nur selten, seinen Kameraden zu begleiten, natürlich stets unter der klaren Voraussetzung, daß sich das Ganze nur um ein Spiel drehte. Bei solchen Anlässen war Manu wirklich der angenehmste aller Gefährten und brachte dem Knaben auf seine eigene, besondere Weise allerlei schlaue Jagdkniffe bei. Manu irgend etwas beschleichen zu sehen, war eine reine Freude. Mochte es sich auch nur um einen Schmetterling oder um ein dürres Blatt handeln, – Manu war ein so vollendeter Schauspieler, daß er genau so viel Geduld und Geschick bei dem Heranpirschen an ein Blatt aufwandte, wie bei dem Überfall auf einen ausgewachsenen Hirsch bei seiner mittäglichen Rast. Er pflegte dann sein Haupt so tief zu senken, daß seine Schnurrbartspitzen das Gras streiften, und sich hinzukauern, die mächtigen Stahlfedern seiner Hinterschenkel fest unter dem Leib zusammengezogen, während er ganz langsam von einer Seite zur anderen den Schwanz bewegte, wie um irgendeinen Gedanken genau auszubalancieren; dann hob er mit äußerster Vorsicht die eine große, weiche Vorderpranke, als fürchte er, die andere zu stören, und setzte sie zart und behutsam auf den Boden, bis das kleine elastische Gewebe zwischen seinen Zehen sichtbar wurde; endlich beugte er sich knappe sechs Zoll vor und wiederholte den nämlichen Vorgang mit seiner anderen Tatze, nur um sich in atemloser Spannung, jede Muskel seines Körpers gestrafft, von neuem zu ducken. Und so ging es mehrere Male hintereinander mit äußerster Vorsicht, bis der ganze Wald den Atem anzuhalten schien und Manu selbst sich zu einer kompakten Masse zitternder Nerven und Sehnen zusammenballte und seine einhundertsechzig Pfund siegreichen Kuguartums, einem elastischen Donnerkeil gleich, auf das tote Blatt niedersausen ließ.

Thunderboy bekam es nie satt, Manus kindischen Streichen zuzusehen. Er bedauerte lediglich, daß er Manu niemals überreden konnte, seine vollendete Weidmannskunst Quosk gegenüber ins Treffen zu führen. Entweder hatte Manu Quosk nie gesehen, oder aber er besaß einen so tiefen Respekt vor diesem eisgrauen Ureinwohner, der sich nur in den seltensten Fällen überrumpeln ließ, daß er nicht um die Welt in sein Privatleben eingedrungen wäre, lediglich um ihn einem Knaben zu zeigen. Vergeblich schlich sich Thunderboy geräuschlos an das Seeufer und versuchte durch verstohlene Rippenstöße und Fingerzeichen und allerlei leises Geflüster Manu zu bewegen, sich dem Ausflug anzuschließen. Manu pflegte dann zwar mit großer Liebenswürdigkeit nachzukommen, aber er beobachtete Thunderboys heimliches Auf-Zehen-Vorwärtsschleichen und Niederducken und Auf-dem-Bauche-Kriechen mit belustigtem, starrem Augenzwinkern, als wolle er damit sagen: »Wir sind natürlich unendlich schlau, aber all das ist doch bereits vor Tausenden von Monden schon viel besser ausgeführt worden!« Oder aber er blickte in jede Richtung, außer derjenigen, auf die es ankam, und stellte sich so aufreizend dumm, daß Thunderboy mehr als einmal nahe daran war, ihn zu ohrfeigen.

»Er war hier! Ich weiß, daß er hier war!« flüsterte er vorwurfsvoll und deutete auf irgendeinen schattigen Weidentümpel, dem zu nahen er sein ganzes Können als Schattengänger – die Kunst, sich ohne den Hauch eines Geräusches heranzuschleichen – erschöpft hatte. Als Antwort pflegte Manu aus glashellen Augen in die ebenso glashelle Tiefe zu blicken, wobei er eine unendlich resignierte Miene aufsetzte, wie um anzudeuten:

»Die Büffelfische liegen dort unten auf dem Grunde, falls sie sich nicht wo anders aufhalten.«

Mitunter aber vergaß Thunderboy, an Quosk zu denken und legte vor Manus Augen irgendeine überraschende Probe raffinierten Könnens ab, wobei Manu sich verwundert fragen mußte, wo er das nur gelernt hätte. Da Thunderboys Wissen jedoch der alten Schule am Cut-bank entstammte, hütete er wohlweislich das Geheimnis, denn instinktiv erriet er, daß Manu den ›Kleinen Bruder‹ als Lehrer nicht billigen würde – haben doch die Sippen der Kuguare und Coyoten sich seit Anbeginn der Schöpfung, dem Anfang aller Mißverständnisse, da jedes einzelne Tier einem besonderen Schwanze angepaßt werden mußte, nicht so recht verstanden.


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