Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

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Fünfzehntes Kapitel.

Exzellenz Klauer und der Doktor Tewes führten den Vater Furnian vom Begräbnis zurück. Der Oberst ging gewaltsam fest, die steifen dünnen Beine mit harten Tritten auswerfend. Auf den Fersen ging er und jeder Schritt war ein Stoß an seinen alten Knochen. Den Kopf hielt er zurück, der weite Zylinderhut war ins Genick und bis zu den Ohren gerutscht, die leeren Augen standen starr hinaus. Neben ihm wankte die schnaufende Masse der Exzellenz, immer bei jedem Schritt ihr ganzes Gewicht auf den anderen Fuß wälzend. Er hatte sich in den rechten Arm des Obersten eingehängt und hob ihn und trug ihn halb und schob ihn. Links sprang der kleine Doktor vor, zuckend und schnellend, und zog ihn an der Hand nach. Es hatte zu regnen aufgehört. Hinter ihnen klang ein lustiger Marsch der heimkehrenden Veteranen.

Immer wieder sagte der Oberst: »Was habe ich getan? Was habe ich getan, daß mich der Allmächtige so hart straft? Was habe ich getan?«

Die Exzellenz sagte: »Die Teilnahme ist allgemein. Sie sehen doch!«

Sie gingen wieder, die fröhliche Musik trieb sie, sie schritten im Takt.

Der Oberst sagte, mit seiner öden ausgetrockneten leiernden Stimme: »Warum? Was habe ich getan? Ich kann von mir sagen, daß ich es an nichts habe fehlen lassen, was nur irgend in meiner geringen Kraft lag, um mein armes verirrtes Kind auf den rechten Weg zurückzuleiten, nach meinem besten Wissen und Gewissen, Gott ist mein Zeuge! Ich habe wahrhaftig keine Schuld, ich habe es an keinen Mahnungen und Warnungen fehlen lassen, aber was kann denn so ein gebeugter alter Mann wie ich gegen den ungebärdigen und verderblichen Sinn der zügellosen Jugend? Ich bin zu schwach gewesen, ich hätte ihm nicht so viel nachgeben dürfen, eine strenge Hand hätte er gebraucht, ich aber war zu weich, durch meine Güte ist er verdorben worden, es hat sich furchtbar gerächt!«

Klauer sagte: »Es war eine erhebende Feier. Ich kann mich nicht erinnern, daß hier noch je die Laternen mit schwarzen Flor verhängt waren. Denken Sie!«

Der Oberst sagte: »Was habe ich denn getan, daß ich so büßen muß? Ich frage mich und frage mich und kann keine Antwort finden! Von klein auf ist der Bursche behütet und bewacht worden, in den strengsten Grundsätzen habe ich ihn erzogen und wie war ich stets bemüht, jeden schädlichen Einfluß von ihm abzuhalten! Warum denn also? Warum? Warum mir auch noch die Schande? Ich hatte ihn bestimmt, unseren alten Namen, den mein unverdientes Mißgeschick verdunkelt hat, wieder vor der Welt zu Ehren zu bringen! Das hat mich aufrecht gehalten, dieser Gedanke war meine einzige Stütze, alle die Jahre her, in meiner Einsamkeit. Und jetzt endet es so! Warum denn? Warum? Was habe ich denn getan, daß mich Gottes Hand so schwer trifft? Ich hätte den jungen Burschen nicht sich selbst überlassen dürfen, das ist meine Schuld! So kam er aus meiner Zucht und wurde meiner Führung entrissen, da war er verloren!«

Klauer sagte auf einmal: »Ja, das ist es, bei uns ist der Dienst ein Minotauros!« Und er wiederholte, gurgelnd und hustend, um sein Lachen zu verhalten, durch die Nase blasend: »Ein Minotauros! Der k. k. Minotauros!«

Tewes fing zu rennen an und riß die beiden mit, daß sie keuchten.

Der Oberst sagte: »Mein einziger Trost in meinem herben Mißgeschick ist die ergreifende und ehrenvolle Teilnahme in allen Schichten der hiesigen Bevölkerung, die offenbar, wie ich daraus ersehe, in allen Verirrungen und Verfehlungen meines unglücklichen Sohnes doch den angestammten rechtlichen Sinn unserer Familie nicht verkannt hat. Wie wohl mir altem, schwer geprüftem Manne dies tun muß, können Exzellenz sich denken! Zugleich aber vermehrt es noch meinen tiefen Schmerz, weil ich mir sage: Was hätte in einer so verständnisvollen und wohlgesinnten Bevölkerung der Unglückliche nicht alles wirken und zum allgemeinen Besten leisten können, wäre es ihm durch ein unseliges Verhängnis nicht versagt gewesen, seine Vermessenheit zu zügeln!«

Klauer sagte: »Ja, die Trauer um den Verblichenen ist allgemein.«

Der Oberst sagte: »Ich frage mich nur, wie ich es machen soll, allen, die mir ihre Teilnahme in einer so erhebenden und rührenden Weise, die mir immer unvergeßlich bleiben wird, bezeugt haben, nach Gebühr den Dank meines bewegten Herzens zum Ausdruck zu bringen. Wie vortrefflich war für alles vorgesorgt! Wie schön lag er aufgebahrt, mit den seltenen und kostbaren Gewächsen aus dem Glashaus des kaiserlichen Parks! Wie tief hat mich das Beileidstelegramm Seiner Exzellenz des Herrn Ministerpräsidenten erschüttert! Und der schöne Kranz, den er noch eigens durch den Herrn Baron Chrometzky persönlich überbringen ließ. Und der ernste feierliche Gang durch die stillen Gassen mit den schwarzverhängten Laternen, unter dem Schluchzen der gesamten Bevölkerung! Ich muß auch noch ausdrücklich der hervorragenden Leistungen des trefflichen Gesangvereins gedenken. Besonders das wunderbare Tenorsolo des Herrn Apothekers Jautz war von einer wahrhaft hinreißenden Wirkung. Dieser ausgezeichnete Künstler hat eine Stimme, die in die Tiefen des Herzens dringt. Ich werde nicht verfehlen, dem hochverdienten Mann meinen Dank noch persönlich abzustatten.«

Klauer sagte: »Alle waren sie sehr brav. Man darf nur nicht glauben, daß es bloß in den großen Städten Meisterleistungen gibt. Die Kultur hat sich ausgebreitet.«

Der Oberst sagte: »Wenn mich etwas in meinem tiefen Schmerze trösten kann, so wird es die wahrhaft weihevolle Stimmung dieser erschütternden Feier sein. Ich bin ein schmerzgebeugter Mann und bei meinem Alter, dem unsicheren Zustand meiner schwankenden Gesundheit und meinem Kummer muß ich jeden Tag gefaßt sein, daß Gott mich abberuft. Aber die stärkende und erhebende Erinnerung an die ehrende Teilnahme so vieler edler Männer werde ich stets treu bewahren und ich nehme sie dereinst mit ins Grab. So kann ich sagen, daß dieser schwerste und kummervollste Tag meines vielgeprüften Lebens zugleich in einem gewissen Sinne doch auch der schönste für mich gewesen ist, und ich bitte Eure Exzellenz die Güte haben zu wollen, der gesamten Bevölkerung, die ja, wie mir wohl bekannt ist, in Euer Exzellenz einen wahren Vater verehrt, für ihre ergreifende Teilnahme den tiefst empfundenen Dank eines schluchzenden Vaterherzens zu übermitteln.«

Klauer sagte: »Sie haben sich das alles durch Ihr langjähriges, gemeinnütziges Wirken reichlich verdient, Herr Oberst.«

Der Oberst sagte: »Mir ist bitter Unrecht geschehen, Exzellenz.«

Klauer sagte: »Ich weiß. Wem geschieht bei uns kein Unrecht? Aber für jeden kommt ein Tag der ausgleichenden Gerechtigkeit.«

Sie waren an das Hotel zum Erzherzog Karl gelangt. Der Oberst empfahl sich von den Freunden und ging hinein. Der Marsch der Veteranen verklang in der Ferne, durch den stillen alten Platz hin.

Klauer sah dem Obersten nach und sagte: »Das is ein rechter Schwätzer, scheint mir. Aber komm, setzen wir uns noch ein bissel auf das Bankl! Unter dem Dachl sitzt man im Trockenen, und es ist schon ganz schön warm heut.« Er schob sich schnaufend und ächzend auf die Bank und krähte: »Dabei hat er nicht einmal bemerkt, daß der brave Jautz zweimal gegickst hat. Zweimal, ä, ä! Hast nicht gehört?« Und er lachte, gackernd.

Der Doktor sagte: »Du versprichst mir, daß du dich für den Gendarm verwenden wirst? Du hast es mir versprochen!«

»Ja,« sagte Klauer, ächzend, »das ist eine böse Geschichte!«

Tewes wurde heftig. »Ich versteh den Bezirksrichter gar nicht! Hätt der Heiterer die arme Frau in ihrem Blut liegen lassen sollen, während die Steine fliegen?«

Klauer sagte: »Die Vorschrift ist aber –«

»Ich weiß! Der Lokalaugenschein! Aber bis die Kommission gekommen war, hätten sie den Leichnam zerfetzt, in ihrer sinnlosen Wut! Der Mensch ist schließlich wichtiger als die Vorschrift.«

»Sagst du!« gackerte die Exzellenz. »Denn du bist ein Anarchist!« Und er zog und dehnte die letzte Silbe mit dem langen, hellen I, durch die Nase blasend. »Übrigens wird dem Heiterer ja nicht viel geschehen, man is froh, wenn die ganze Geschichte vergessen wird.«

Nach einiger Zeit sagte die Exzellenz: »So ein liebes Lüfterl geht heut! Ganz wohl wird einem. So ein echt österreichisches Lüfterl! In vierzehn Tagen wird der Flieder blühen. Schön is 's schon hier.« Und er streckte die knollige Nase schnuppernd in den leisen, warmen Wind hinaus.

Sie saßen schweigend. Langsam fing es wieder zu regnen an. Leise klopften die kleinen Tropfen an das Vordach.

Plötzlich sagte Tewes vor sich hin: »Und warum? Zwei harmlose nette Menschen, mit allem begabt, um still glücklich zu sein. So sinnlos ist das! Gut, soll euere Gesellschaft Opfer brauchen, das kann ich noch verstehen!! Tausende müssen leiden, damit einer genießt, gut! Aber wer denn? Für wen ist dieses Opfer gebracht worden? Euere eigenen Leute hetzt ihr sinnlos so herum, bis ihnen schwindlig wird! Und jeder ist eines jeden Feind, jeder lauert jedem auf und will ja gar nichts für sich, wenn er nur einem anderen weh tun kann. So sinnlos!«

Klauer lachte aus seinen Gedanken auf. »Der Schwiehack! Erinnerst dich? Ja, das ist die neue Schule, die glorreiche Schule Döltsch, da zeigt sich's! Weil diese jungen Leute niemals Achtung vor irgendeinem Gesetz, Ergebung in irgendeine Pflicht, Mäßigung durch das warnende Gewissen lernen! Wer hat denn das heute noch nötig? Ihr Herr und Meister geht doch voran und gibt das Beispiel! Man würde ja nur ausgelacht! Sich zu bescheiden ist längst nicht mehr Mode, in geduldiger stiller Arbeit auszuharren hat keiner mehr Zeit! Wer sich grad in der Gunst glaubt, dem ist alles erlaubt. Und nun tummelt er sich und kann's nicht erwarten, weil er schon hinter sich wieder einen anderen spürt, der vielleicht noch schnellere Füße hat! Und nur zu, bergauf und bergab, über Stock und Stein; wer's nicht riskiert, daß er sich den Schädel bricht, kommt nicht mit! Die Rechte des Volkes? Die Pflichten des Staates? Das Gewissen?« Seine Fischaugen krochen aus dem Fett, das Gesicht war wie plötzlich ausgeräumt und er sagte, die gacksende Stimme dämpfend, ernst und geheimnisvoll: »Gewissen! Es gab einmal ein altes Wort, das Gewissen hieß.« Er spreizte die gichtischen Finger und horchte hinaus und wiederholte: »Gewissen!« Da fing er zu lachen an und schüttelte sich und krähte: »Aber jetzt sind wir doch modern! Modärrn ist Trumpf! Modärrn! Lustig, lustig! Das Gewissen ist abgesetzt, das kann nicht mehr mit, der Atem geht ihm aus, da haben wir's pensioniiiert!« Und er zerlachte sich und dehnte das I und zog es durch die Nase. »Pensioniiiert! Längst pensioniiiert! Sitzt wahrscheinlich auch irgendwo auf einem Bankl unter einem Dachl und hört dem Regen zu und hat die Gicht! Armes altes Gewissen, sixt, das kommt davon, wenn man nicht rechtzeitig stirbt! Jetzt ham wir halt gar keine Verwendung mehr für dich, in unserer aufgeklärten Zeit, tut uns ja leid, aber mein Gott, was soll man da mit dir tun? Deine Zeit is halt vorbei!« Sein großer Schädel hing vor, die winzigen Augen erloschen im Fett, er wiederholte traurig: »Deine Zeit ist halt vorbei! Vorbei!«

Tewes sprach weiter: »Das ist dann immer so bequem, zu sagen, daß es ja wertlose Menschen waren! Was liegt an den beiden? Ein ungeschickter Streber und eine Landstreicherin! Ja, damit tröstet man sich dann! Ihr Narren, was wißt denn ihr, ob nicht auch in ihnen alles Schöne war? Vielleicht, wenn ihr ihnen geholfen hättet, vielleicht, wer weiß, war alles Gute, was nur ein Mensch vermag, in ihnen da und stand bereit und hat nur gewartet; und nur ein kleines Zeichen von euch, und es war aufgegangen, wunderschön vielleicht, ihr aber habt's erfrieren lassen! Was liegt an zwei so wertlosen Menschen? Aber Menschen doch! Menschen immerhin! Ist euch das so wenig wert? Wißt ihr nicht, daß das bißchen, wodurch der höchste Mensch den geringsten übertrifft, in nichts zerrinnt neben dem ewigen Wunder, das in allen ist, in allen, die Menschen sind? Wißt ihr das noch immer nicht?«

Klauer sagte: »Aber natürlich, wie soll sich denn auch so ein junger Mensch zurechtfinden? Wer hilft ihm denn? Wo kann er sich anhalten? Der Herr und Meister hat doch alles aufgeweicht, überall sinkt man ein in dem Gatsch der allgemeinen Zermürbung! Er hat doch alles deformiert, der große Döltsch, der österreichische Bismarck, alles ist aufgelöst und schwimmt in der großen Suppe der allgemeinen Verwahrlosung herum! Und natürlich und natürlich –.« Er fing wieder zu blasen und zu fauchen an. »Natürlich patscht dann so ein junger Mensch hinein, weil's doch heißt, daß jetzt alles erlaubt sein soll, weil man ja heute mit der richtigen Frechheit alles darf, weil sie doch überall die Beispiele haben, daß alles geht, wenn man sich nur nicht geniert! Bitte, bedienen Sie sich, das ist doch das neue Prinzip! No, da hat er sich halt auch bedient, und man muß doch wirklich sagen, daß er ja noch recht bescheiden war! Wenn man ihn mit den anderen vergleicht! Armer Kerl, wirklich! Aber so geht's, einen trifft's halt schließlich und meistens den Unrechten, einer muß halt dann immer der Dreizehnte sein, armer Kerl! In Jena, hat man mir erzählt, in Jena, ä, ä –« Er lachte gackernd, nahm sein Tuch und schneuzte sich vor unbändiger Heiterkeit. »In Jena haben's eine alte Einrichtung für die Studenten, hat man mir einmal erzählt. Nämlich, die Studenten randalieren in der Nacht und schlagen die Laternen ein, aber die Polizei regt sich gar nicht auf, sondern notiert nur die zerbrochenen Scheiben jeden Tag, laßt sie reparieren und rechnet zusammen, was es ausmacht. No und hie und da begibt sich's aber doch, daß der Nachtwächter zufällig grad dazu kommt, wenn einer eine Latern einhaut, da wird er dann arretiert und muß jetzt alles bezahlen, was seit dem letzten Mal zerbrochen worden ist, seit zum letzten Mal einer erwischt worden ist, verstehst? Eigentlich ist das außerordentlich sinnreich, nicht? Der Schaden wird gutgemacht, der Nachtwächter hat seine Bequemlichkeit, und für den Triumph der Gerechtigkeit ist auch gesorgt, das Verbrechen bleibt nicht ungesühnt. Freilich ist es bitter für den, den's grad trifft, armer Kerl! Den Furnian hat's halt erwischt, das is ein Pech! Da hat er halt die Rechnung zahlen müssen, die aufgelaufen war, und die anderen schmeißen jetzt wieder ein paar Jahr ungestört die Laternen ein. Der Döltsch findet, daß das System sich bewährt. Und ihn feiern's jetzt noch, wegen seiner Unerbittlichkeit, ä, ä.«

Tewes sagte: »Und dann heißt's, ja, der ist jetzt tot, und die Veteranen spielen einen Marsch auf und aus, vorbei, jeder an sein Geschäft zurück! Ich bin doch ein alter Arzt, ich sollt's doch schon gewohnt sein, als alter Geschäftsfreund des Todes! Und immer wieder kann ich's nie begreifen, seltsam ist das. Ich hab eigentlich immer wieder das Gefühl, als würde durch jeden Tod ein Verbrechen an der Menschheit verübt. Ich kann das Sterben nicht begreifen, so furchtbar unnatürlich kommt's mir vor. Wie kann denn die Natur zulassen, daß etwas Unersetzliches zerstört wird? Denn wenn der Tod einen Menschen nimmt, so geht aus der Welt etwas weg, das vorher noch nie war und nachher nie mehr sein wird, dieser eine Mensch mit seinem einmaligen Geheimnis. Versteht ihr denn das nicht? Fühlt ihr das nicht auch? Es scheint, daß daran niemand denkt. Mich wundert's. Denn mich quält das sehr. Ich sitze tagelang und bin davon erfüllt. Und wär's der letzte krätzige lallende Kretin, schon ganz vertiert, ich muß doch immer denken: mit ihm geht etwas aus der Welt, das sie noch niemals gehabt hat und niemals haben wird, und die Welt wird ärmer, wie wenn ein Baum umgeschlagen wird. Denn diesen einen Menschen, diesen da, wie er ist, hat sie noch niemals gehabt, und sie wird ihn niemals mehr haben, er nimmt sein Geheimnis mit, das tief verborgene Geheimnis, das jeder Mensch ist, jeder. Und wäre die Sonne plötzlich ausgelöscht, es wäre nicht ärger, als wenn der gemeinste Mensch stirbt. Es wäre für mein Gefühl nicht ärger. Denn jeder Mensch ist ungemein, ein einziges Wunder, das nicht wiederkehrt. Die ganze Natur müßte weinen, wenn es verlischt. Ihr aber sagt, ja der ist jetzt tot! Das quält mich oft, ich kann's nicht begreifen.«

Die Exzellenz fuhr auf, legte die große grobe Hand auf den Rücken des Doktors und fragte: »Wie meinst du? Hast du was gesagt?«

Der Doktor antwortete: »Es war nicht so wichtig. Man denkt sich allerhand. Schön ist der Abend!«

Langsam klatschten die kleinen Tropfen ins Dach. Still lag der große Platz. An der einsamen Brücke rauschte der Fluß. Drüben hing die Sichel des blassen Mondes in zerrissenen Wolken. Ein warmer Wind zitterte durch die dunkelnde Gasse.

Klauer sagte: »Aus ihm hätte sicher ein ganz brauchbarer Beamter werden können. Aber das soll ja nicht sein, das wollen sie ja nicht, der Bureaukrat muß im Trüben fischen! Und zu unseren berechtigten Eigentümlichkeiten gehört es ja doch, daß in diesem Lande keiner je das wird, wozu er veranlagt wäre.« Und schadenfroh lachend und schmatzend in seiner Wut des Erklärens, fuhr er fort: »Dem armen Kerl hat's halt den Kopf verdreht! Denn da sich hier jeder im Recht glaubt, der sich in der Macht weiß, wird ebenso Freiheit mit Willkür verwechselt, und jeder will in unserer Verwaltung jetzt den kleinen Übermenschen spielen. Da laufen die Renaissancebuberln nur so herum, und manchmal nimmt's halt ein schlechtes End.«

Tewes sagte: »Die arme Frau! Die arme Frau! So viele frohe Zärtlichkeit, so viel Anmut, so viel lieber stiller Frohsinn ist mit ihr dahin!«

Die alte Exzellenz bog sich schnuppernd vor und sagte: »Spürst das Lüfterl? Unser gewisses weiches österreichisches Lüfterl, das einen so lieb streicheln tut! Und gleich zergeht dann alles, was sich im Menschen Schlimmes angesammelt hat! Manchmal im Winter in Wien, da hab ich jetzt schon recht arge Stunden! Wenn ich dann aber nur erst wieder hier bin, in dem lieben kleinen Ort mit seinen friedlichen guten Menschen, und aus dem herzigen Tal herauf dieses gewisse Lüfterl weht, dann is ja gleich alles wieder gut! Das gibt's halt doch nur in Österreich, gelt? Und so einen schönen kleinen Plausch, wo man sich schön gemütlich einmal über alles aussprechen kann, wo gibt's denn das noch?«


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