Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Als Furnian aus dem Amt über die Stiege ging, stieß er auf den Kommissär, der die Hand an die lederne Kappe legte und sagte: »Ich will grad zu Ihnen, Herr Bezirkshauptmann! Hoffentlich kennen Sie mich noch? Wir sind ja gute alte Freunde,« Und er fügte hinzu: »Polizeikommissär Nießner. Wir kennen uns von der Antiduelliga her. Sie erinnern sich?«

»Bitte«, sagte Furnian und kehrte sich um, mit ihm wieder hinauf ins Amt zu gehen.

»Aber nein«, sagte der Kommissär. »Ich will Sie durchaus nicht aufhalten. Wenn's Ihnen recht ist, begleite ich Sie. Gehen wir zusammen ein bissel spazieren.«

»Sie halten mich durchaus nicht auf«, sagte Furnian und öffnete schon die Türe. »Bitte!«

»Wie's beliebt«, sagte der Kommissär. Sie traten ein und setzten sich. Furnian fragte: »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Aber gar nicht«, sagte der Kommissär lachend. »Das ist ein Irrtum, Herr Bezirkshauptmann! Ich will Sie bloß begrüßen und ein bissel mit Ihnen plauschen. Ich störe doch hoffentlich nicht?« Und durch das freundliche Zimmer mit den weißen Gardinen und dem Goldlack im Fenster sehend, sagte er: »Sie haben sich's da ganz gemütlich gemacht. Ja, ja, das verstehen die Herren!«

Furnian fragte: »Sie sind zum Vergnügen hier?«

»Ja«, sagte der Kommissär lachend. »Eigentlich ja! Denn ich muß offen gestehen, daß mir nichts mehr Vergnügen macht als mein Beruf. Ja! Das werden Sie mir gar nicht glauben, was?« Er lachte wieder und sagte, seine starken Hände knetend: »Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen, da kann man nichts machen.« Dann, mit einer Amtsmiene, sagte er leise: »Der König von Spanien soll in vierzehn Tagen kommen. Es ist noch nicht offiziell. Ich bitte es auch noch mit der nötigen Diskretion zu behandeln.« Und wieder in seinem breiten Ton, mit seinem Lachen, das immer eine Zote anzukündigen schien: »No und Sie wissen ja! Ich hab schon das Glück mit solchen Missionen! Das lustigste ist dabei noch, daß man die ausländischen Herren Kollegen überwachen muss, sonst geschehen die größten Dummheiten. So einer ist imstand und laßt den Klauer arretieren. No ja, wenn man sein Gesicht sieht und nicht eingeweiht ist! Das ist ja eigentlich das schwerste bei unserem Geschäft, die erlaubten Verbrecher von den verbotenen zu unterscheiden; Schädel haben sie ganz dieselben! No, ich glaub ja nicht, dass bei der ganzen Geschichte viel herausschauen wird. Ich sag Ihnen, lieber Freund, es gibt viel zuviel Polizeikommissäre und viel zuwenig Anarchisten, wie soll man da Karriere machen? Und in der Not frißt der Teufel halt Fliegen, und man sperrt dann halt ein paar italienische Bahnarbeiter ein, Gott gäb's, daß sich einer findet, der ein bißl danach ausschaut! Seinen guten Willen muss man doch wenigstens zeigen, sonst heißt's gleich, man hat keine Ambition. No, in Ihrer Branche wird's ja auch nicht viel anders sein, Herr Bezirkshauptmann, nicht? Mein Gott!« Er fing wieder zu lachen an und, da Furnian achselzuckend schwieg, sagte er: »Pardon, pardon! Das haben die Herren nicht gern, ich weiß schon. Und grüße mich nicht unter den Linden! Das kennt man ja. Und seien Sie nur ganz beruhigt, Herr Bezirkshauptmann, ich werde die Distanz zu wahren wissen, das gehört bei uns zum Einmaleins. Aber unter guten alten Freunden schließlich, nicht? Ich darf mir wohl ein Zigarrl anzünden. Vielleicht auch gefällig?« Er hielt Furnian die Tasche mit den Zigarren hin.

»Danke«, sagte Furnian ablehnend. Und, indem er die Hand an die Stirne legte und sich die Schläfen rieb, fragte er: »Woher kennen wir uns eigentlich, Herr Kommissär?«

»Gott«, sagte Nießner lachend. »Eigentlich haben wir uns doch schon an der Universität gekannt, erinnern Sie sich doch! Da haben wir sogar einmal eine unangenehme Geschichte miteinander gehabt, erinnern Sie sich nicht? Sie waren ein etwas kitzlicher junger Herr und leicht in der Höh. No, seitdem sind wir ja beide hoffentlich gescheiter worden, und ich trage niemandem was nach, fällt mir nicht ein, da käm man nicht weit. Und jetzt sind Sie ja sogar selbst ein Gegner des Duells, was? Da haben wir uns doch das letzte Mal gesehen, in der Sitzung, wissen Sie?«

»Ich war im Auftrag des Ministers dort«, sagte Furnian. »Das hat mit meiner Meinung gar nichts zu tun.« Er war ärgerlich. Nun drängte sich dieser Mensch wieder an ihn, den er nicht leiden konnte. Nießner hatte das schon als Student gehabt, überall aufzutauchen, sich ungerufen einzumischen und, wenn man noch so deutlich wurde, nichts zu merken. Er gehörte zu den Menschen, die einem auf der Straße mit der Hand winken und Servus zurufen oder im Theater plötzlich vertraulich auf die Schulter klopfen. Jeder ließ es sich gefallen, weil es sich alle gefallen ließen. Jeder sagte: Ich kenne den Menschen eigentlich gar nicht, mir ist er unsympathisch, aber man findet ihn überall, er ist mit allen Leuten bekannt, was wollen Sie? Jeder redete sich auf die anderen aus. Versuchte man, ihn abzuschütteln, und verbat sich die Freundschaft, so nahm er es nicht übel und fragte höchstens: »Was ist Ihnen denn heut übers Leberl gelaufen?« Und er trug es einem so wenig nach, dass man dies eigentlich doch wieder sehr nett von ihm fand, ihn für einen guten Kerl hielt, sich rühren ließ und schließlich alles wieder beim alten blieb. Auch hieß es, dass er gern jedem im Kleinen gefällig war, und man hatte dabei doch das Gefühl, ihm zuzutrauen, dass er unter Umständen auch sehr unangenehm werden könnte, weshalb man es rätlich fand, sich lieber für alle Fälle mit ihm zu verhalten; wer weiß denn, ob er die Polizei nicht morgen braucht? Dies sagte sich Furnian auch, ärgerte sich aber zugleich darüber, weil ihm das so feig vorkam, war dann mit ihm schroffer, als er eigentlich vor sich selber verantworten konnte, und darum das nächste Mal wieder freundlicher, als nötig gewesen wäre, fiel in jedes Extrem und hatte nicht die Geduld, weder mit ihm gut zu sein noch bös zu bleiben. In Wien lag daran schließlich nicht soviel; in der Stadt schwemmt der Tag Beziehungen her, der nächste reißt sie weg. Hier aber, wo man sich täglich dreimal zwischen die Beine lief, hatte er gar keine Lust, sich jemanden anhängen zu lassen, der ihm nun einmal höchst zuwider war; und schließlich hat doch jeder Mensch das Recht, sich seine Gesellschaft nach seinem Belieben zu wählen. Wozu noch kam, dass es ihm ein peinliches Gefühl war, sich mit einem von der Polizei zu zeigen. Er kannte die Stimmung des Österreichers, dem schlecht wird, wenn er einen Polizeimenschen sieht, und der lieber jede Unbill erträgt, wenn er nur mit der Polizei nichts zu tun hat. Bei Döltsch war voriges Jahr eingebrochen worden; der Minister, durch ein Geräusch geweckt, hatte Licht gemacht und den Dieb erwischt, der eben daran war, die Kredenz auszuräumen; er sagte ihm: »Das Service kann ich Ihnen leider nicht lassen, weil es ein Andenken ist, da haben's hundert Kronen, mehr ist es nicht wert, aber dafür müssen's mir Ihr Ehrenwort geben, wenn Sie jemals erwischt werden, ja nicht zu sagen, daß Sie auch einmal bei mir eingebrochen haben, ich mag keine Scherereien haben.« Döltsch erzählte dies selbst gern, indem er jedes Mal hinzufügte: »Der Kampf ums Recht ist eine schöne Sache, aber nicht in Österreich. Wir sind dafür nicht eingerichtet. Man muß den Landesbrauch ehren.« Und nun wünschte sich Klemens doch nichts mehr, als das dumpfe Mißtrauen, das die Leute gegen ihn hatten, und ihre Befangenheit vor ihm allmählich zu erweichen; sie sollten ihren guten Freund in ihm sehen. Es wäre wirklich töricht gewesen, sich durch den Kommissär zu verdächtigen. Nein, er war entschlossen, ihn sich hier vom Halse zu halten, höflich, aber entschieden; er durfte nur nicht wieder so gutmütig sein.

Nießner sagte: »Natürlich kann man seine eigene Meinung haben. Haben schon! Was kann der Mensch nicht alles haben? Zeigen möcht ich sie aber lieber nicht. Was? Da sind wir doch einig, lieber Freund, nicht? Allerdings, wenn man so in der Gnad ist wie Sie! Nein wirklich, ich kann Sie versichern, und Sie wissen doch, auf mich kann man sich verlassen, ich habe meine Quellen, ich weiß, was ich weiß.« Er rieb sich mit der Hand die knollige Nase und lachte. »Ich weiß mehr, als manchem angenehm ist. Und ich kann Sie versichern, was Sie betrifft: Eins A! Der Döltsch hat einen Narren an Ihnen gefressen. Da kann noch soviel gehetzt werden, Sie können ganz ruhig sein.«

»Wer hetzt?« fragte Furnian rasch.

»Gott, wer hetzt nicht?« sagte Nießner lachend. »Zweifeln Sie daran? Aber was macht das Ihnen? Sie sitzen schön im Fett und können lachen. So gescheit werden Sie ja schon sein, sich manchmal ergebenst in Erinnerung zu bringen. Diese hohen Herren vergessen schnell. Aber das wissen Sie ja besser als ich, um Sie ist mir nicht bang, lieber Freund, Sie werden sich schon in Evidenz zu halten wissen, Sie sind einer, der das Werkl versteht! Da sollen die guten Freunderln nur bohren! No, Sie können sich doch denken, dass es da manchen gibt, der gern möcht! Ich sag aber immer, ihr werdt's euch nur die Zähn ausbeißen, gegen den Furnian ist nichts zu machen; wenn der Döltsch einmal einen mag, gibt's nix! Da sollten's die langen Gesichter sehen, es macht mir einen Mordsspaß!«

»Die Herrn Kollegen scheinen's ja nicht erwarten zu können, dass ich mir das Haxl breche«, sagte Furnian. Indem er sich Mühe gab, gleichgültig und unbekümmert zu scheinen, ging er unwillkürlich auf den Ton des zudringlichen Partners ein. Ihm wurde bang. Der ganze Dunst der Stadt mit allen lächerlichen kleinen Intrigen von Strebern und Neidern stieg plötzlich wieder auf. Er war es gar nicht mehr gewohnt. Er lebte hier so still vor sich hin. Es war vielleicht nicht klug. So hohe Herren vergessen schnell, der Kommissär hatte Recht. Und mancher, den er für seinen Freund hielt, war vielleicht ärger als der Kommissär; schlechte Manieren sind noch nicht das schlimmste, und man kann von einem Schwätzer manches erfahren, man ist dann wenigstens auf der Hut.

»Lassen's ihnen doch die Freud«, sagte Nießner. »Ihnen schad't es ja nix, Sie brauchen es ja nicht zu tun. Die freuen sich, weil sie glauben, Sie werden sich das Haxl brechen, und Sie freuen sich, weil Sie wissen, Sie brechen sich das Haxl nicht, und so hat jeder was. Man glaubt gar nicht, wie leicht es ist, die Menschen glücklich zu machen.« Er lachte und wechselte plötzlich den Ton, mit herzlichem Bedauern fragend: »Sie sind mir doch nicht am End bös, dass ich Ihnen das erzählt hab? Das war wirklich ungeschickt, lieber Freund! Sie haben's doch wahrhaftig nicht nötig, so was tragisch zu nehmen! Was? Wär nicht übel! Ein Mensch wie Sie, dem das Glück aus der Hand frißt! Was soll denn dann unsereins sagen? Sie können doch wirklich auf die ganze Gesellschaft pfeifen.«

»Mit Vergnügen«, sagte Furnian. »Das Pfeifen werd ich schon besorgen. Ich möcht nur gern genauer wissen, auf wen. Wer hat's denn da so besonders eilig? Wer will sich denn an mir wetzen?«

»Wissen's was?« sagte Nießner. »Ich würde Ihnen raten: pfeifen's auf alle! Und glauben's mir, es wird keinen unschuldig treffen. Es ist einer wie der andere. Aber das wissen Sie ja so gut wie ich. Wir kennen die Gesellschaft doch! Was? Wir kennen uns doch aus, wir zwei beide, nicht?«

Diese Gewohnheit Nießners, immer »Wir« zu sagen und den anderen ungefragt mitzunehmen, ärgerte Furnian. Er hätte gegen den Kommissär eigentlich gar nichts gehabt, es ging ihn ja schließlich nichts an, was man alles über Nießners Vater und Nießners Schwester erzählte, man weiß doch auch, wie die Leute jeden verleumden, der seinen Weg macht, und jeder hat auch am Ende bloß für sich selbst einzustehen, das alles wußte Furnian aus eigener Erfahrung am besten. Wenn der Kommissär sich nur abgewöhnt hätte, einen mit jedem Blick und jedem Ton sozusagen zu duzen! Dieses »Wir«, das er noch dazu dort am liebsten anwendete, wo man am wenigsten Lust hatte, ihm zuzustimmen, war unausstehlich. Wenn er eine Meinung aussprach, die man gemein fand, konnte man sicher sein, dass er sie mit der Beteuerung schloß: »Ja, mein lieber Freund, wir sind schon eine saubere Gesellschaft, wir sollten uns schämen!«

Furnian zog den Kopf zurück und sagte: »Ich muß eigentlich gestehen, daß ich, ich für meinen Teil, mich bisher nicht zu beklagen habe. Ich habe bisher eigentlich, das muß ich schon sagen, mit meinen Kollegen noch gar keine schlechten Erfahrungen gemacht. Was mich betrifft, könnte ich wirklich nicht behaupten, dass ich sie von dieser Seite kenne.« Obwohl dies keineswegs seine Meinung war.

»Abwarten«, sagte Nießner lachend. »Wird schon kommen! Das glaubt man gar nicht, wie schnell das geht! No, vielleicht, wenn wir nächstens einmal gemütlich beisammen sind, erzähl ich Ihnen schon noch das eine oder das andere Geschichterl, nur damit Sie sehen, wie nett die Menschen sind, denn gegen Sie ist das doch wirklich eine Gemeinheit, Sie, der doch wahrhaftig keinem was tut, Sie sind ja wahrhaftig eine Ausnahme, das sag ich immer, ich sag immer: Meine Herrn, in meiner Gegenwart laßt's den Furnian gefälligst in Ruh, das bitt ich mir aus! No und Ihnen kann's ja auch wirklich gleich sein, was kann das Ihnen schaden? Dem Döltsch macht man nicht so leicht den Kopf warm. Aber es ist immer ganz gut, wenn man seine Freunderln kennt. No, davon reden wir noch einmal, Sie werden lachen, denn das glaubt man ja gar nicht! Jetzt aber möcht ich nur noch, wenn Sie noch einen Augenblick Zeit für mich haben, um ein paar Informationen bitten. Ein Bezirkshauptmann ist doch allwissend, und so ein armes Hascherl von der Polizei weiß nie genug. Ach ja, lieber Freund, Sie wissen ja gar nicht, wie gut Sie's haben! Einmal möcht ich acht Tag an Ihrer Stelle sein! Was wißt's denn Ihr?«

Er zog ein schmutziges Heft heraus und begann allerhand zu fragen, allerhand zu notieren. Er erkundigte sich nach dem Doktor Tewes. Dann sagte er: »Ich hab's ja gewußt. Wer Bücheln schreibt und Reden hält, ist ungefährlich. Mir kommt nur vor, daß man es ganz gern sehen möcht, wenn er in eine Schlamastik käm, weil das dann doch auch für den braven Klauer sehr zuwider wär. Der arme Teufel braucht doch jemanden, dem er predigen kann. Lustig wär so eine Verhaftung, womöglich auf dem Bankerl vor dem Hotel; das Gesicht vom Klauer möcht ich sehen! No, wir werden ja sehen, was sich machen läßt. Dann sprachen sie die Honoratioren durch. Nießner machte sich über den Bergrat lustig, der immer nach Wien berichte, welche hygienischen Maßregeln in den Salinen notwendig seien, während man in Wien lieber wissen wolle, was gegen das Anwachsen der Sozialdemokratie in den staatlichen Betrieben zu tun sei. »Es nutzt uns viel, wenn die Sozialdemokraten gesund sind, sonst haben wir keine Sorgen! Der brave alte Herr!« Besonders aber kam er schließlich auf die Hofrätin Zingerl und den Domherrn lange zu sprechen, denen man zumute, wieder allerhand zu spinnen. Dieser Domherr, der, aus Rom zurück, plötzlich sein Lehramt aufgibt, um sich in den besten Jahren in dieses Nest zu setzen und den Landwirt zu spielen, sei zu verdächtig. »Da geht was vor, da zettelt sich was an, den Schlag kennt man doch!« Sein breites Gesicht mit den hängenden Wangen quollen von Gier auf. Klemens, dem es widerlich war, fragte hochmütig: »Seit wann haben Sie solche Missionen auch? Da wäre mir noch lieber, den spanischen König zu bewachen.«

»Aber Sie glauben doch nicht, dass ich einen Auftrag dazu habe?« sagte Nießner lachend. »Aber, lieber Freund! Bloß zu meinem Privatvergnügen! Man will doch auch sein Privatvergnügen haben. Was?«

»Geschmackssache«, sagte Furnian.

»Der Domherr interessiert mich«, sagte Nießner sehr lebhaft. »Mein Gott, das ist so ein Sport von mir, ich sammle gern merkwürdige Menschen. Und ein merkwürdiger Herr muss der Prälat schon sein. Was? Ich denk mir! Und da Sie ihn kennen, sogar irgendwie verwandt mit der Familie sind und also sicherlich –«

»Ich komme manchmal in das Haus,« fiel Furnian ein, »aber ich habe nicht die Gewohnheit, Leute, bei denen ich verkehre, auszuspionieren.«

»Schad!« sagte Nießner, frech den hochmütigen Blick Furnians aushaltend. »Schaun's, das soll man immer. Es kostet nix, und man weiß nie, ob man's nicht noch einmal sehr gut brauchen kann.« Und lachend fuhr er fort, mit jener Vertraulichkeit, die Klemens so sehr auf die Nerven fiel: »Ich bitt Sie, wir werden uns doch nix vormachen, wir zwei beide! Wer es zu was bringen will, muss schauen, von möglichst vielen Menschen möglichst viel zu wissen, was man nicht wissen soll. Das ist das ganze Geheimnis, dann geht alles wie geschmiert. Dabei kann man dann der anständigste Mensch sein, das gehört sogar zum Geschäft. Ein Angeber sein? Pfui Teufel, wie dumm! Es genügt, dass die Leute wissen, dass man was von ihnen weiß. Und wenn man sich dann schön still verhält, finden die Leute, dass man wirklich ein anständiger Mensch ist, und das ist die einzige Art von Anständigkeit, die sich heute noch rentiert. Denn es ist nämlich gar nicht wahr, wenn man immer sagt, die Welt ist undankbar. Man glaubt gar nicht, wie dankbar sie sein kann, wenn sie was davon hat; natürlich muß es dafür stehen. Sehn's, das ist mein System, lieber Freund!«

Furnian stand auf und sagte: »Ich habe leider noch eine Verabredung, vielleicht daß wir ein anderes Mal –« Er brach ab, ärgerlich, daß er unwillkürlich, während dem er den Kommissär abzuschieben dachte, ihn im selben Augenblick wieder eingeladen hatte. Er nahm sich vor, sich nächstens einfach vor ihm verleugnen zu lassen.

Nießner stand auf und sagte: »Nur einen Moment noch! Sein wir doch aufrichtig, das ist immer das gescheiteste! Was? Schaun's, lieber Freund, Sie können mich nicht leiden! Nein, nein, machen's kein verlogenes Gesicht, glauben's, daß ich das nicht weiß? Und dafür kann ja kein Mensch, vielleicht ist Ihnen meine Nase zuwider, das weiß man ja selbst nicht, Gott, das sind so Sympathien und Antipathien! Und vielleicht, wenn ich nicht gescheiter und wenn ich nicht ein Mensch wär, der sich in der Hand hat, vielleicht würde ich Sie dann auch nicht leiden können, lieber Freund, es kommt mir fast so vor, nur daß ich, wie gesagt, gescheiter bin als Sie, Sie entschuldigen schon! Denn schaun Sie nur einmal, wie ungeschickt das von Ihnen ist! Es muß doch einen Sinn haben, wenn man jemanden nicht leiden kann. Man muß sich die Menschen aussuchen, denen man schaden will. Was haben wir zwei beide davon, wenn's mit dem anderen schief geht? Nichts is dümmer, als wenn sich die kleinen Leute untereinander zwicken, Sie entschuldigen schon, Sie sind ein Herr Baron, mein Vater war ein Fiaker, der daneben bei der Polizei den Vertrauten gemacht hat, ein Naderer, hat man damals gesagt, und meine Stiefschwester ist bei dem reichen Herrn herumgereicht worden, bis sie's nicht mehr nötig gehabt und der Pater Wedel sie bekehrt hat, bitte ich weiß, daß da schon noch ein gewisser Unterschied zwischen uns ist, ich werde das nicht vergessen, Herr Baron, aber schließlich sein wir aufrichtig, es hört uns ja niemand zu, schließlich sind das Unterschiede, die sich weiter oben stark verwischen, täuschen Sie sich nicht, lieber Freund, für die Herrschaften oben sind wir zwei beide ganz dasselbe, für die Herrschaften oben gibt's nur zwei Gattungen von Menschen, solche, die zu ihnen gehören, und solche, die sie nicht hereinlassen, für die Herrschaften oben sind wir zwei beide jeder nichts als ein armer Teufel, der hinauf will und den man zappeln laßt! Zappeln wir doch zusammen, statt gegeneinander! Sein's doch nicht so dumm!«

»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?« schrie Furnian, so zornig, dass er sich gleich wieder schämte.

Der Kommissär trat auf den Bezirkshauptmann zu und sagte, aufrecht vor ihm: »Nix will ich. Ich will gar nichts. Ich weiß nur gern, wie ich mit den Leuten stehe. Ihre lieben Herrn Kollegen tun Ihnen heute schön und morgen schimpfen's über Sie, und dabei hat das eine so wenig einen Zweck wie das andere. Ich will eine Ordnung in meinen Gefühlen haben. Wir zwei beide können nebeneinander unsern Weg machen, es ist Platz genug für alle zwei. Und keiner kann wissen, ob es nicht für ihn noch einmal ganz gut sein wird, wenn er sicher ist, daß der andere gegen ihn nichts tut; in dem kleinen Land begegnet man sich ja immer wieder. Daß wir uns als Studenten einmal gehachelt haben, geht uns nix an, und daß wir uns alle zwei eigentlich nicht leiden können, macht auch nix, wenn wir so gescheit sind einzusehen, daß es für jeden besser ist, nicht zu vergessen, daß eine Hand die andere wäscht, unter Umständen, denn es kann ja sein, daß es nie dazu kommt, aber für alle Fälle, meine ich halt. Ich bin ein Mann der Ordnung, der gern weiß, woran er ist.« Und indem er den Hut nahm, fragte er Furnian: »Sie wollen nach Hause gehen?«

»Ja, ich geh nach Haus«, sagte Furnian.

»Ich geh noch ein Stückerl mit Ihnen«, sagte Nießner. »Wir haben denselben Weg.«

Als sie aus dem Hause traten, sagte Furnian: »Sie haben mich offenbar mißverstanden. Es wäre mir natürlich unmöglich, bei der Hofrätin und dem Domherrn jemanden einzuführen, der in das Haus meiner Verwandten mit geheimen Absichten käme. Aber irgendeine Feindseligkeit gegen Sie liegt mir ganz fern. Die dumme Studentengeschichte hab ich doch längst vergessen, das können Sie mir wirklich glauben. Und wie man am besten Karriere macht, darüber kann man schließlich auch verschiedener Meinung sein. Jeder versucht es halt in seiner Art. Und darin haben Sie ja gewiß recht, daß die jüngeren Beamten, statt einer dem anderen ein Bein zu stellen, besser täten, zusammenzuhalten.«

»Aber lieber Freund,« sagte Nießner, »Sie dürfen das auch nicht alles wörtlich nehmen, bei mir sprudelt's dann so heraus, wenn ich einmal anfang; und immer besser ins Gesicht als hinterm Rücken, was? Nicht? Und ich hab schon lang das Bedürfnis gehabt, mich einmal mit Ihnen auszusprechen, das kann nie schaden. Sie werden schon sehen, wir werden uns noch ausgezeichnet verstehen. Und damit Sie gleich einen Beweis haben, was für ein seelenguter Kerl ich eigentlich bin, kommen's doch morgen nach dem Essen ins Café Lanner, ich hab mir auf der Fahrt zwei Mäderln aufgezwickt, Sie können sich aussuchen, welche Ihnen lieber ist, und dann rutschen wir irgendwo hinaus, es gibt nichts Besseres für die Freundschaft als so eine kleine Landpartie mit Weiblichkeit. Wollen's?« Und da Furnian nicht gleich antwortete, sah er ihn lustig an und fragte: »Oder schamen's ihnen vielleicht? Is hier Tugend Usus? Denn Angst brauchen's keine zu haben, die Mädln reisen übermorgen wieder ab. No und: einmal ist keinmal! Dann werden's bei den hiesigen Damen erst einen Anwert haben. Abgemacht?«

»Schad,« sagte Furnian, »daß ich morgen eine Kommission hab. Es wär ganz lustig.«

»Schad«, sagte Nießner. »Die Mäderln sind sehr nett. Künstlerinnen, selbstverständlich. Die eine hat sogar schon in der Josefstadt einmal sagen dürfen: Es ist serviert, Madame! Früher hat man ja von so was schon leben können, jetzt sind halt schlechte Zeiten: Börseaner gibt's keine mehr, und der Hochadel ist doch bloß fürs Gemüt da, da zahlen's ja noch drauf. Also Kleinbetrieb, Hausindustrie; die G'schicht hat kein'n Zug mehr. No, und da gastieren's halt ein bisserl in der Provinz herum. Und solche Mädln sind ja nie netter als im Grünen, wenn's von der Stadt ein bißl ausdunsten und lyrisch werden: O du himmelblauer See! Und gar, lieber Freund, unter meiner Führung! Ich bin da ja gewissermaßen amtlich beteiligt, nicht wahr? Herrn Bezirkshauptmann dürfte ja bekannt sein, daß man diese Damen, von wegen des patriarchalischen Ansehns des Orts, eigentlich hier nicht dulden darf, außer jene Damen von diesen Damen, die zum Gefolge von Respektspersonen gehören. Nun wechseln aber die Respektspersonen ab, und das Gefolge wechselt auch, und jetzt können Sie sich denken, wieviel Takt und Zartgefühl und Sachkenntnis einer bei dem G'schäft braucht! Deshalb muß der Polizei natürlich immer ein gewisser Spielraum gelassen werden, nicht wahr, was? No und da spieln wir halt ein bißl, in dem Raum; sonst wär man doch dumm, was? Also kommen's nur und spieln's mit, die Kommission lauft Ihnen nicht davon! Was?«

»Ich glaub leider nicht, daß es sich machen lassen wird«, sagte Furnian. Sie waren an der Ecke der Kreuzgasse. Nießner, der zur Promenade ging, sagte: »Na, wie Sie wollen! Sie finden uns jedenfalls im Café Lanner, so gegen zwei. Vielleicht überlegen Sie sich's noch! Servus, lieber Freund! Vielleicht kommens doch! Servus!«

Furnian kam doch. Er war abends daheim geblieben, ganz allein. Er hatte zuweilen ein solches Gefühl, lieber gar niemand mehr sehen zu wollen. Menschen wie Nießner verdarben ihm die Lust am ganzen Geschlecht. Denn er mußte sich ja sagen: dieser Nießner hat doch recht, so kommt man noch am besten durch die Welt, es ist die einzige Art, so muß man's machen, so muß man sein, ein Narr, wer zimperlich tut! Aber eine Stimme war in ihm, die sagte: Lieber noch ein solcher Narr sein! Nein, er wollte nicht mittun, wenn das Leben so war! Gewiß, Nießner hatte recht, aber dann lieber – ja was? Kann man auswandern aus dem Leben? Das war doch, wie die kleinen Kinder tun, die plötzlich gekränkt sind und trotzen: ich spiel nicht mehr mit, nein, ich spiel nicht mehr mit! Und dann spielen halt die anderen allein, und der Bub steht in der Ecke und wird ausgelacht, das hat er davon. Die Welt nehmen, wie sie nun einmal ist, und Unrecht, Roheit und Gewalt, ohne die's nun einmal nicht abgeht, lieber tun als leiden, man wäre doch dumm! Es half ihm nur nichts, sich dies vorzusagen. Menschen wie Nießner machten ihn ganz schlaff. Er hätte solchen Menschen ausweichen müssen. Er hätte gar nicht wissen dürfen, daß es solche Menschen gibt. Er bemühte sich dann, gerecht gegen sie zu sein, um nicht seiner törichten Abneigung nachzugeben, und da verlor er sich dann ganz, geriet aus sich und wußte nicht mehr, wohin. Und er lachte sich selbst aus: wenn du die Augen zumachst, wird die Welt nicht anders! Nein, im Gegenteil, Menschen wie Nießner waren sehr gut für ihn, sie weckten ihn auf, er hätte sich nur an sie halten sollen! Aber ihm saß halt immer noch seine Kindheit im Genick, mit diesen jämmerlichen Lehren des Vaters, von Ergebung und Entsagung! Und der hatte das ja am eigenen Leibe erfahren, wieweit man damit kommt! Ergebung und Entsagung, und man steht am Ende vor der Türe, während die Nießners zu Tische gehen! Und bereut es, wenn es dann zu spät ist und man es sich noch zur Ehre machen muß, einem kleinen Wucherer zu hofieren, das war dann noch das Ende von aller Ergebung und Entsagung, denn schließlich kriegt das Leben doch jeden mürb und klein! Dann doch lieber gleich mit den Nießners geheult und seinen Pakt gemacht und zugegriffen, wie's gerade kommt, du wirst das Leben auch nicht ändern!

Er lag rauchend auf dem Diwan. Die kleine Lampe gab ein stilles Licht. Über dem Schreibtisch war eine Miniatur von Daffinger, den alten Hofrat Furnian darstellend, mit dem kleinen spitzen Kopf eines bösen Vogels, die langen dünnen Beine in ganz engen Hosen, staatsmännisch ausgestreckt, mit sämtlichen Orden, ein Taschenmetternich. Ja, der! dachte Klemens, der hat's verstanden, der hat sich nicht lange bedacht, der hat's mit beiden Händen angepackt! Und hat man's nur erst erreicht, dann ist alles gut und schön, dann gilt für weltmännisch und lebensklug, was eben noch erbärmlich und feige war! Wer weiß, wie lange dauert's, und aus dem verächtlichen Nießner wird ein verehrter Hofrat Furnian? Nein, man darf nur nicht wehleidig sein! Der dort war's nicht! Nein, der genierte sich nicht, man sah's dem grimmigen alten Männchen noch an, da war keine Spur von Angst oder Scham in dem verschmitzt devoten Gesicht, der hatte das Leben durchgemacht! Und der hätte sich wohl auch nicht erst lange geziert, mit den zwei Mädln! Der war dafür bekannt. »Ja, der Hofrat!« hatte die Tante Zingerl neulich noch gesagt, mit so merkwürdigen Augen, zwischen den ehrwürdigen Löckchen durchblinzelnd. »Ja, der Hofrat! Das war wohl ein ausgezeichneter, ein hochverdienter Mann. Aber den alten Adam wird halt keiner los. Nun, jetzt ruht er längst selig in Gott.« Klemens aber war der Narr und quälte sich mit wilden Wünschen und konnte nicht schlafen und sehnte sich, wenn in der Früh die Vögel im Garten so gierig durcheinander schrien, und sah weg, wenn die Apothekerin wogte, und oft abends, wenn er in der Ferne eine Gestalt durch die dunkle Gasse schlüpfen sah, irgendeine Magd, die um Bier ging, lief er hinter dem Schatten her und schämte sich doch und wagte nichts. War er dumm! Und die goldenen Äpfel des Lebens hingen ihm zum Fenster herein! Und auf einmal wird er ein alter Mann sein, und dann ist es versäumt! Worauf wartet er denn? Soll das Glück vielleicht an seine Türe klopfen und ihn erst noch schön bitten, daß er es mitnimmt? Aber da war diese dumme Furcht, an der er immer litt: es könnte dann vielleicht am Ende doch nicht ganz so schön sein, wie er es sich erwartet hatte! Das ließ ihn zaudern und zagen. So dumm, so dumm! Statt zu nehmen, was sich bot, bis es besser kam, wie die anderen es machten! Er aber fragte sich immer erst und verglich alles mit seinem Traum, und indessen war es wieder weg, und er hatte nichts und dann kamen solche Stunden der Verlassenheit, daß er hätte weinen mögen, vor Einsamkeit und Bangigkeit, und da trieb es ihn dann in die Nacht der großen Stadt hinaus, nach schändlichen Gassen, und er versank, im Ekel. Er, der, wenn er seine Kollegen mit ihren Mädchen sah, so hochmütig dachte: Nein, meine Geliebte muß einmal anders aussehen! Er, der, wenn eine Dame mit ihm äugelte, sich gleich warnte: Ist sie es denn wert? Er, der sich jetzt wieder zu gut war, mit Choristinnen zu bandeln! Und er kannte sich doch, nächstens rennt er dann doch wieder plötzlich fort, mit dem letzten Zug nach Wels oder Linz, und in die dunklen Gassen! Und er will den Nießner verachten? Warum denn? Der hat bloß Mut und tut vor sich selber nicht besser, als er ist! Ein Narr, wer sich vormacht, nicht gemein zu sein; der Mensch hält es ja doch nicht aus! Und ist man denn gleich gemein, wenn man auch einmal auf sein junges Blut hören muß? Mögen ein paar alte Tanten zetern! Er war doch sonst nicht so, was kümmern ihn die Leute! Und was ist das für ein dummer Stolz vor dem Kommissär? Der ging lustig auf das Leben los, er kannte die Menschen, wie sie sind, der log sich nichts vor! Er hätte sich nur gewünscht, auch so zu sein; mit empfindsamen Flausen geht's heute nicht mehr. Dabei konnte man ja bessere Manieren haben, Nießner war vulgär. Aber immer noch lieber vulgär mit der Kraft und Klugheit des Nießner als so hilflos albern wie sein böhmischer Graf und der kleine Bierbaron mit ihren guten Manieren. Und vielleicht war das das ganze Geheimnis, ein Nießner zu sein, aber von höherer Art, mit mehr Geschmack, dem angeborenen Takt der alten Familien und der Geschmeidigkeit einer sicheren weltmännischen Bildung. Nein, es war sicher nur gut für ihn, sich eine Zeit an den Nießner zu halten. Der Kluge nützt solche Menschen aus, an der nächsten Station kann man ja die Pferde wechseln. Und er brauchte so einen Menschen, der ihn aus seiner Trägheit riß! Es war die Gefahr für ihn, sich zu versitzen; das Leben aber ist kein Gedicht. Der alte Hofrat dort, der hat's verstanden! Den hätte der Nießner nicht erschreckt! Der biß mit festen Zähnen in die goldenen Äpfel! Und manchmal dachte Klemens, daß er eigentlich doch viel mehr von diesem Großonkel hatte als vom Vater und vom Großvater. Wie schon zuweilen in Familien Neigungen und Begabungen seltsam springen und die Art, die in der geraden Linie schon verloren scheint, plötzlich auf der Seite wiederkehrt. Mit solchen Gedanken schlief er ein. Und in der Früh vom Schreien der Vögel im Garten geweckt, sagte er sich: Ich kann mir ja die Mädln jedenfalls anschauen.

Er fand sie ganz hübsch. Nießner zeigte sie vor und sagte: »Die da, die Lange mit den schmachtenden Augen, heißt das Engerl, weil sie so was hat, als ob's gleich flieg'n möcht. Und das da, das Rundliche, daß sich der Klimt schamen muß, das ist das Bengerl. Eigentlich heißen's anders, ich aber hab's Engerl und Bengerl tauft, ich kann mir die vielen Likserln und Gikserln und Pipserln nicht alle merken, die's heute gibt; die kommen einem nur durcheinand. Also macht's die Nasn auf und zeigt's die Zähn her, daß sich der Herr Bezirkshauptmann die Seinige aussuchen kann. Welche Ihnen lieber ist, lieber Freund! Mehr nach'm G'wicht oder fürs Gemüt. Mir ist es wurscht. Ich bin ein sachlicher Mensch. Klarinette oder Bombardon; mir kommt's auf die Musik an, nicht aufs Instrument. Und jetzt, 's Wagerl ist da, also vorwärts! Kellner, zahl'n! Z'erst tun wir euch ein bißl auslüften. Steigt's ein, Hopp!«

Als sie fuhren, sagte Nießner: »Und jetzt bitt ich mir aus, nehmt's euch z'samm, macht's mir kei Schand vor dem Herrn Bezirkshauptmann! Das ist wie ein Theater paré! Zeigt's, was könnt's! Lustig, Engerl, mach deine Gosch'n auf! Lustig, Bengerl, laß deine G'spaß los! Nachher kriegt's ein Schampus!«

Klemens lehnte sich zurück, er wäre lieber ausgestiegen. Aber er wollte nicht lächerlich sein. Und er ärgerte sich über sich: er war doch kein Bub mehr, er mußte das auch einmal lernen und das Leben nehmen, wie es ist. Und er schrie plötzlich: »Also los, was ist denn? Seid's nicht fad! Heute wollen wir einmal lustig sein, los!« Und Nießner zwickte die Mädchen und sagte: »Also macht's nicht ein Gesicht wie eine saure Gurken, sondern unterhalt's uns, erzählt's was!«

Die Mädchen kicherten und kreischten. Sie waren verlegen und zupften an ihren Kleidern. Sie blinzelten zu Furnian hin und dann stießen sie sich an und kirrten. Und das Engerl sagte zum Bengerl: »Na, hast net g'hört? Erzähl'n sollst was!« Und das Bengerl sagte zum Engerl: »Na, du! Fang nur du an!« Und so stritten sie kichernd und kirrend. Und das Bengerl sagte: »I kann erst red'n, wann i b'soff'n bin. Wann i net b'soff'n bin, schäm i mi.« Und das Engerl schrie: »Jessas na! Jetzt möcht's vorn Herrn Bezirkshauptmann die Unschuld mach'n! Schaut's die an!« Und sie stießen sich an und kicherten. Der Kommissär zog eine Feldflasche mit Kognak heraus und sagte: »Da habt's! Sauft's! Stimmung braucht der Künstler.« Die Mädchen tranken gierig. Das Bengerl fragte: »Is vielleicht dem Herrn Bezirkshauptmann auch gefällig?« Nießner sagte lachend: »Der Herr Bezirkshauptmann wird schon allein wissen, was ihm gefällig ist, der wird dich net erst viel frag'n, mein liebes Bengerl.« Die Mädchen lachten, schreiend. Furnian trank. Es tat ihm wohl. Das Schreien, das Lachen, das Stoßen des Wagens, der warme Schnaps, der Staub von der Straße, die Nähe der Mädchen mit den heißen Gesichtern und ihrem Dunst von Parfüm und Schminke, dies alles war ihm so betäubend und erregend, daß er, zwischen Ekel und Begierde, nur immer mehr davon verlangte. Er bekam Lust, roh zu sein, jemanden zu schlagen, laut zu schreien. Der Kommissär nahm das Engerl am Kinn und zog es her, sie schmatzten sich ab. »Au«, schrie das Engerl, »der Schnurrbart sticht.« Und sie fühlte mit den Fingern die Stacheln des borstigen rotblonden Barts und wand die Schultern, wie fröstelnd, und schrie. »No,« sagte Nießner, »du wirst ja schon öfter gestochen worden sein.« Die Mädchen schrien. Klemens trank die Flasche leer. Nießner nickte und sagte: »No, lieber Freund, es geht ja.« Und jetzt fing das Engerl zu erzählen an und gab Rätsel auf und wieherte, wenn man einen schmutzigen Witz nicht gleich begriff. Und dann fing das Bengerl an. Und da ging's um die Wette, wer gemeiner war. Und sie wieherten und kicherten und kirrten. Und Nießner hetzte und hußte sie noch. Und er sagte: »Ehret die Frauen, sie flechten und weben.« Und dann zu Furnian: »Ich freue mich nur, bis wir das Frauenwahlrecht haben werden.« Und er fragte die Mädchen: »Engerl, Bengerl, Wählerinnen! Wen werd's ihr wähl'n?« Das Engerl, mit seinen Veilchenaugen, sagte: »Mir ist ein jeder recht. Aber eine Hetz wird's schon sein!« Da setzte sich das dicke Bengerl auf und zog das runde Gesicht zusammen und sagte: »Wer weiß? Vielleicht wird dann einmal noch alles anders. Zeit wär's.« Nießner sagte lachend: »Schau, schau! Bengerl, Bengerl!« Aber sie wiederholte, trotzig: »Vielleicht hört sich das dann auf, daß man einem jeden sein Bengerl sein muß.« Das Engerl gab ihr einen Stoß und sagte: »Hast schon wieder einen Schwips? Das is ihr Unglück, daß 's gar so leicht an Schwips kriegt, und dann hat sie der Teufel, da wird's ganz rabiat und red't die dümmsten Sachen daher. Was ma da oft lach'n!« Das Bengerl sagte, lachend: »Na na! I bin schon wieda gut. Manchmal wird mir halt auf einmal ganz verdreht im Kopf. Und wahr is es ja. Fallt aber den sogenannten anständigen Weibern net ein, daß sie was für uns täten! Ärger sind's als wir, da muß man nur die Männer erzähl'n hör'n, uns erzähl'ns doch all's.« Nießner fragte: »Was erzähln's denn?« »Ui je!« schrie das Engerl. Und das Bengerl schrie: »Ui je!« Und lachend fingen beide von allerhand Damen, die sie nannten, Geschichten zu erzählen an, wie die es trieben, und versicherten mit heißen Augen, daß es ein Skandal ist, was man da alles hört, pfui Teufel, die sollen nur still sein! Furnian aber sah sich das dicke Bengerl an, denn merkwürdig war ihm das, wie, während ihr Mund Zoten schrie, ihre großen grauen Augen da weit draußen irgendwo in den tiefen Wald zu gehen schienen.

Sie fuhren nach dem Bachl. Das war ein kleines altes Wirtshaus im Wald, durch die Forellen des hellen Wassers berühmt. »Jetzt, meine Herrschaften,« »kann ich euch nicht brauchen. Eine Bowle muß man mit Andacht brauen. Herr Wirt, richten's uns oben ein Stüberl her, für uns allein. Abends wird's immer ein bisserl kühl, das is nix für so heiße junge Leut wie wir.« Er klopfte dem alten Wirt auf die Schulter und sagte: »Das ist mein alter Freund, der Bachlwirt, Herr Bezirkshauptmann! Ein braver Mann, der sein Geschäft versteht.«

»Man tut halt, was man kann«, sagte der alte Wirt, auf Furnian schielend. »Manchmal geht's schon recht lustig her bei uns. No und wiar ma halt sagt, auf der Alm gibt's ja koa Sünd, g'wissermaßen, da paßt scho der liabe Herrgott selber auf, er hat ja net weit, aber a bißl G'spaßln, das macht ihm nix, dös mag er ganz gern, war selm a amal jung. Gel, Herr Bezirkshauptmann?«

»Schaun's nur,« sagte Nießner, »daß 's mir Ehr mach'n, vorm Herrn Bezirkshauptmann!«

»Is mir net bang«, sagte der Wirt, aus den runzligen Lidern hervor auf die Mädchen schielend. »Mit mir sollens kan Faschee hab'n, Herr Kommissär! Bei uns geht all's noch nach 'n guten alten Brauch. Ma woaß schon, was ma solchen Herrn schuldig is. Aber wenn die Fräul'n vielleicht mitgehn woll'n, zuschaun, wia i die Forell'n abschlag? Dös is sehr beliebt bei denen Fräul'n, da krieselt's ihnen so g'wiß bis ins Herzerl hinein, daß 's frei an Bremsler macht. Ja, mein!« Und grinsend ging er voran, zum Brunnen, dessen glitzernder Strahl in einen Trog mit Forellen schoß. Die Mädchen beugten sich vor und staunten die grauen Tiere mit den goldig schimmernden Flossen an, leise fröstelnd, so kalt kam es her. Da schlug der Wirt den Ärmel auf, fuhr mit der Hand in den Trog und zog einen zappelnden Fisch heraus, dem er nun mit dem flachen Messer einen leichten Schlag auf den Kopf gab, dreimal, bis er sich, zuckend, nur noch einmal aufwarf, aber schon durch einen Schnitt zerschlitzt und auf das glitschige Brett geworfen wurde, und die Hand fuhr wieder in den Trog und griff nach dem nächsten. Das Bengerl lachte quietschend, und wenn der Wirt das Messer hob, zog sie den Rücken hoch und hielt sich die Ohren zu, als hätte sie Furcht, daß der Fisch vor Schmerz aufschreien würde; flog er dann auf das nasse Brett, so sprang sie vor dem aufspritzenden Gascht schreiend zurück. Das Engerl aber, mit den Veilchenaugen, stand vorgebeugt, mit dem feinen schmalen Näschen schnuppernd, ein starres Lachen an ihren lieben stillen Lippen, aus welchen die kleinen spitzen Zähne, fest zusammengepreßt, glänzten. Sie stand und regte sich nicht, nur jedesmal, wenn das flache Messer den Kopf des Fisches traf, sprang ein gelbes Zucken durch die Veilchenaugen. Als der Wirt fertig war, bog sie sich ganz tief zum schleimigen Brett herab und zog den nassen sauren Fischgeruch ein. Furnian ging weg. Das Bengerl kam ihm nach und sagte: »Mögen's das nicht, Herr Baron? Ich auch net. Grauslich is's. Gehn wir doch lieber ein bißl in den Wald! I möcht so gern ein bißl in den Wald gehn.« Furnian nickte. Sein Kopf war schwer, er hatte den Gaumen trocken, am Brunnen war ihm plötzlich kalt geworden. Er wünschte sich, allein zu sein. Er ging schnell voraus, das Mädchen folgte. Eine Zeit blieben sie ganz still. Auf einmal fing das Mädchen vor sich hin zu singen an, mit einer kleinen, noch ganz kindlichen, die hohen Töne gleichsam aufspießenden Stimme. Sie sang: Hab ich nur deine Liebe, die Treue brauch ich nicht! Furnian erinnerte sich, daß es aus einer alten Operette war, die er als Bub einmal gehört hatte. Er blieb stehen, mit dem Rücken zu ihr, und horchte, wie die lieben kleinen hellen Töne durch den schwarzen Wald sprangen, wie Johanniswürmchen. Plötzlich brach sie ab und schrie: »Schau's, das Viech!« Er sagte: »Ein Eichkatzl.« Sie sahen dem geschmeidigen Tier nach, das in den Zweigen verschwand. »Jessas, wie lieb!« sagte sie. Sie kamen an ein Gestrüpp von blühenden Rhododendren. »Almrosen«, sagte er, hinzeigend. »Jessas, wie schön!« rief sie, in die Hände klatschend. Er half ihr abpflücken. »Die halten doch ein paar Tag, net?« fragte sie. »Aber natürlich«, sagte er. »Wollen Sie's jemandem mitbringen?« Rasch sagte sie, heftig: »Aber nein, nein! Ich frag doch nur.« Dabei wurde sie ganz rot. Er sah sie verwundert an, sie wendete sich verlegen ab, eifrig pflückend. Er sagte, gemütlich: »Deswegen brauchen's ja nicht gleich so bös auf mich zu sein.« In den Rosen zupfend, sagte sie, mit einem befangenen Lachen: »War ich denn bös? Ich war doch nicht bös!« Er sah, wie sie wieder ganz rot wurde. Ihm fielen ihre Zoten im Wagen ein. In der Verlegenheit wurde ihr gefräßiges Gesicht eigentlich noch viel hübscher. Er sagte: »Natürlich waren's bös, Sie sind doch ganz krebsrot vor Zorn geworden. Offenbar g'hören die Blumen für einen heimlichen Schatz von Ihnen. Warum soll denn das aber ich nicht wissen dürfen?« Sie stak ganz in den Rosen drinnen, er konnte sie jetzt nicht sehen, als sie mit harter Stimme sagte: »Wenn's Ihnen nix macht! Manche Herrn haben das nicht gern.« Klemens fragte: »Wie heißt er denn, der Glückliche?« Sie sprang aus den Rosen, beide Hände hatte sie mit Ästen von roten Blüten voll, die roten Blüten drückte sie mit den Armen an sich, rot stand ihr Gesicht aus den roten Blüten hervor. »Lassen's mich schon in Ruh!« schrie sie. »Was wollen's denn? I weiß von nix! Daß man nachher wieder ausgelacht wurd! Das kenn ich! A na!« Er sagte nichts und nahm ihr die Rosen ab. Sie legte sie zusammen und band sie. Dann wiederholte sie, trotzig lachend: »Na na! I weiß von nix.« Das dicke Gesicht zog sich zusammen, sie warf die breiten Lippen auf, die kurze Nase wurde faltig; verstockt und muffig stand sie da. Plötzlich erschrak sie, sah sich um und fragte, furchtsam: »Was is denn? Wo sind wir denn jetzt? Alles schaut auf einmal jetzt ganz anders aus!« Sie streckte die Hand nach Klemens, wie um Hilfe. Klemens sagte: »Die Sonne ist weg.« Sie sah durch die Wipfel empor, über den schwarzen Bäumen schien der Himmel gelb. Erstaunt wiederholte sie: »Die Sonne ist weg?« Klemens sagte: »Die Sonne ist weg, und die Bowle wird auch fertig sein.« Sie gingen zurück. Sie glitt in der Streu aus und schrie. Er half ihr auf. Sie behielt seine Hand und bat: »Lassen's mich nicht allein! I fürcht mich.« Er ging vor ihr, sie hielt sich an, er zog sie. »Na,« sagte sie, »bei der Nacht wär das nix für mi.« Und plötzlich wurde sie wieder lustig und sagte: »Ich bin halt ein echtes Mariahilfer Kind. Da sin wir doch eine bessere Beleuchtung g'wohnt.« Sie hängte sich ein, schmiegte sich an und begann wieder zu singen, erst nur leise trällernd, allmählich lauter, indem sie mit einem Ast der roten Almrosen den Takt dazu schlug: »Vindobona, du herrliche Stadt, die so reizende Anlagen hat!« Nach einiger Zeit sagte sie, gerührt: »Es geht halt doch nix über Wien!« Plötzlich erblickten sie das Licht des Wirtshauses dicht unter sich. »Jessas!« schrie sie. »Bin ich jetzt erschrocken!« Sie riß sich los und lief voraus. Er rief ihr nach; »Geben's acht, Bengerl, daß 's nicht fallen!« Sie blieb stehen und wendete sich rasch nach ihm um. Als er neben ihr war, sagte sie: »Wenn's Ihnen gleich wär, hätt ich eine Bitte, Herr Baron.« »Gern«, sagte Klemens. »Aber net auslach'n?« sagte sie. »Man ist halt schon dumm.« Klemens fragte: »No?« Sie bat: »Und ja dem Nießner nix sag'n? Da wär's aus! Ehrenwort, nicht!?« »Ehrenwort«, sagte Klemens. »Also was denn?« Sie schwieg. Er fragte noch einmal: »No was denn? Was möchten's denn, Bengerl?« Da, schon vor dem Haustor, sagte sie, scheu bittend: »Wenn's Ihnen gleich wär, wär's mir halt lieber, wenn's mich nicht Bengerl nennen möchten! Ich heiß Mariann. Und Ihnen is es ja vielleicht gleich, net?« Klemens sagte, lachend: »Aber natürlich! Mariann is ja viel schöner.« Sie nickte stumm, duckte den Kopf und sah vor sich hin. Dann sagte sie, ganz leise, zwischen den Zähnen durch: »Und net wahr, sogar einem Hund laßt ma doch den Namen, den er einmal hat, net?« Aber schon flog sie die Stiege hinauf, riß die Türe lachend auf und schrie: »Einen Durscht hab ich, Kinder! Wo is der Schampus?«

Das Engerl war schon sehr betrunken. Sie nahm die Pfirsiche aus der Bowle und lutschte daran. Und immer verlangte sie noch Kognak dazu. »Nein,« sagte Nießner zu Furnian, »setzen Sie sich nicht neben sie! Sie sticht einem dann immer unversehens mit Nadeln ins Fleisch. Wart nur!« Sie ließen die Sessel neben ihr leer. Darüber wurde sie sehr traurig. Sie stützte die Arme auf und legte das feine weiße Gesicht schief in ihre blassen Hände, die losen aschblonden Locken fielen darüber. »Schaun Sie's an«, sagte Nießner. »Ich sag immer, man sollt sie nach England exportieren. Solche Lilien der Gemeinheit gehen dort wie die frischen Semmeln ab. Hurra, die Forell'n!«

»Nachher hab i noch frische Straub'n g'richt, Herr Kommissär«, sagte der alte Wirt, auf das Engerl schielend. »Recht fett abg'schmalzen, wie's die Fräul'n gern haben, so recht saftig. Ja, wann ma a an armer Baunfünfer is, waß ma dert, wias denen Fräul'n am liabsten paßt.«

»Gebt's mir die Augen!« schrie das Engerl. »Ich will die Aug'n von den Viechern haben. So böse Aug'n haben's g'macht, auf dem schmierigen Brettl. Hat ihnen aber doch nix g'nutzt!« Sie nahm den Forellen die Augen aus, legte sie auf einen ihrer langen schmalen Finger, und indem sie die Zunge zeigte, höhnte sie: »Ätsch! Ätsch!« Dann steckte sie den Finger in den Mund und schlürfte sie.

Nachdem alle die Forellen gelobt hatten, zog der Wirt sein Käppchen und sagte: »Die Straub'n bringt nachher der Knecht. I geh jetzt schlaf'n, die Herrn werd'n schon entschuldigen, i bin a armer alter Mann, der sein Ruh braucht. Und i wünsch halt no an recht an vergnügten Abend allerseits!« Und er ging, listig schmunzelnd.

»Man glaubt gar nicht,« sagte Nießner, »wieviel Takt diese alten Bauern manchmal haben.«

Die Mädchen sangen und lachten. Das Engerl hatte eine kalte und höhnische Art, betrunken zu sein; das feine stille Gesicht wurde immer weißer, die Augen hatten irre gelbe Funken. Das dicke Bengerl hatte zuviel gegessen, sie wurde schläfrig, wollte sich's aber nicht merken lassen, so schrie sie sich heiser und trank immer noch mehr. Das Engerl sagte, höhnisch: »Dir fall'n ja schon die Augen zu, du halt'st halt gar nix aus.« Das Bengerl sagte, zornig: »Bis ich einmal so alt wie du bin, werd ich's auch g'wohnt sein.« Nun zankten sie sich und warfen sich die fetten Strauben ins Gesicht. Das Engerl wurde wild und wollte mit der Gabel stechen. Da stand Nießner auf und sagte: »Komm jetzt.« Gleich gehorchte sie. Sie gingen in das andere Zimmer. An der Türe sagte Nießner: »Wir wollen uns nur den Mond ein bißl anschauen, Herr Bezirkshauptmann! Servus, einstweilen!«

Das Bengerl wischte sich mit einer Serviette das Fett der Strauben vom Gesicht. Klemens mußte über ihre kläglich kindische Miene lachen. Nach einiger Zeit sagte er: »Und, Mariandl, was is denn nun eigentlich mit uns zwei?«

Sie legte folgsam die Serviette weg, stand auf und sagte: »Ja natürlich, Herr Baron!«

Klemens trat an das Fenster. Er stieß es auf, um den brenzlichen Qualm der Zigarren und Zigaretten aus dem Zimmer zu lassen. Draußen stand der schwarze Wald. Der Brunnen rauschte. Sonst war kein Laut. Nur den rauschenden Brunnen hörte man, wie sein rasches Wasser in den Trog fiel. Unbeweglich stand der Wald. Die Luft war naß und kalt. Klemens schloß das Fenster zu. Das Mädchen saß im Hemd, die Hand auf den Tisch gestützt, das Gesicht an die Hand gelehnt. Sie hörte nicht, daß er zu ihr kam. Er sah, daß sie weinte. Ganz still rannen ihr die Tränen über die dicken Wangen. Er fragte: »Aber, Kind, was ist denn?« Sie schrak zusammen, aber schon lachte sie wieder. »Was denn? Nix is! Was soll denn sein?« Sie wischte sich die Tränen ab und schneuzte sich. Er sagte: »Du hast ja geweint?«

Sie sagte, heftig: »I muß immer weinen, wann i b'soff'n bin. Das is so a dumme Gewohnheit von mir.« Aber dabei fing sie wieder noch heftiger zu weinen an. Dann schneuzte sie sich, stand auf und hielt ihm ihren jungen Leib hin. »Also? Jetzt is's ja schon wieder vorbei!« Er ließ sie stehen, ging durchs Zimmer und sagte dann, indem er sich in den alten Diwan setzte: »Erzähl mir lieber, was du denn eigentlich hast.«

Sie stampfte zornig auf. »Blöd bin i halt! Weil i dann halt immer an den Rudolf denken muß! I kann ja nix dafür!« Sie weinte wieder und bat ihn, schluchzend: »Sein's m'r nur nicht bös, Herr Baron.«

»Aber, Tschaperl!« sagte Klemens. »Zünd dir lieber noch ein Zigarettl an und erzähl mir's« Seine traurige Stimme tat ihr wohl.

»Aber um Gottes willen«, sagte sie. »Sagen's nur nix dem Nießner! Der versteht kan Spaß.«

»Nein, nein«, sagte Klemens lächelnd, »Kannst ganz ruhig sein! Ich werd ihm gewiß nichts sagen.«

»Und der Pipsl auch nicht«, bat sie. »Dem Luder.«

»Nein, der Pipsl auch nicht«, sagte Klemens. »Die brauchen gar nichts davon zu wissen. Wir fragen sie ja auch nicht, was sie miteinander gemacht haben. Aber jetzt erzähl. Was is denn der Rudolf?«

Während sie sich wieder anzog, sagte sie: »Jetzt is er im Brucker Lager, er is Korporal, eigentlich is er aber in der Damenkonfektion. Wir kennen uns erst seit drei Woch'n. Mein Gott, ich weiß gar net, wie's kommt, aber ich hab ihn halt so furchtbar gern. Natürlich is's ein Unsinn! Er hat ja nix, und wenn ein Mädl einmal wie ich ein feineres Leben gewohnt is, wär's doch wirklich a Sünd, wann ma sich durch eine Dummheit alles verpatzen möcht, die Mutter hat ja ganz recht! Nur halt – schwer kommt's eim halt an, die Lieb is schon a g'spaßig's Ding! No, mit der Zeit wird sich's ja wieder leg'n, ma darf sich halt auch nicht soviel nachgeb'n. Nur jetzt is es mir halt noch schrecklich, mit einem anderen zu sein. Und da hab' ich mir gedacht: fahrst einmal ein bißl in der Welt herum, so ein zehn oder zwölf Tag, bis das Ärgste vorüber is, und die Pipsl hat sich auch einmal ein bißl ausrast'n wollen und so sind wir halt fort. Die zwei Tag in Salzburg, das war wunderschön. Alle Offizier wären uns gern nach, aber da hat's nix geb'n. Ganz allein sind wir den ganzen Tag in Hellbrunn herum. Ja, wenn man so leb'n könnt! Das war schon schön! Dann aber hat uns auf der Bahn der Nießner erwischt. Net wahr, Sie sag'n dem Nießner bestimmt nix?« Sie trat an den Diwan und sah Klemens mißtrauisch an. »Schauen's, Herr Baron, da könnt ich wirklich die größten Unannehmlichkeiten haben. Der möcht' mir das nie verzeihen. Net wahr, Sie sag'n ihm nix?«

»Nein,« sagte Klemens, »ich sag ihm nix. Du kannst ganz ruhig sein.« Er stand auf, öffnete das Fenster wieder und sah in den starren Wald hinaus. Dann ging er, während sie sich vor dem Spiegel die Haare steckte, zum Tische, nahm ihren Hut und schob unter das Band einen Schein von fünfzig Kronen.

Es klopfte stark an der Türe. »Kann man schon herein?« rief Nießner draußen. Er ging auf Furnian zu und fragte: »Wie wär's, wenn wir die Menscher auf das Wagerl laden, selbst aber zu Fuß gehen würden? Ich stell mir das viel schöner vor, sich einmal zwei Stunden auszulaufen. Hätten Sie Lust?«

Furnian nickte. Nießner ging hinab, die Rechnung zu machen und einspannen zu lassen. Die Pipsl stand, in ihr Tuch gehüllt, fröstelnd. Furnian dachte, daß sie, mit den stillen Veilchenaugen, ihrem weißen Gesicht und der langen, ganz schmalen biegsamen Gestalt, wirklich wie ein Bild der Reinheit war. »Also kommt's, Kinder!« sagte er und ging voraus. Die Mariann nahm ihren Hut und fand den Schein. Im Dunkel der Stiege drängte sie sich an Furnian, ergriff seine Hand und küßte sie. Er entzog ihr erschreckt die Hand und sagte, verlegen: »Aber, Tschaperl!« Sie sagte leise: »Sie sind lieb!« Er sagte lächelnd: »Ich möchte, daß du halt noch ein paar Tage länger in der Welt herum fahren kannst.« Und er strich mit der Hand über ihr heißes Gesicht. Sie stand regungslos und sagte: »Dank schön.« Dann traten sie zum Wagen. Die Mädchen fuhren in die schwarze Nacht hinaus. »Gehen wir oben«, sagte Nießner. »Ich weiß den Weg durch den Wald.« Sie gingen stumm nebeneinander, die Streu dämpfte die Schritte, nichts war sonst zu hören. Manchmal schlug ihnen ein Zweig ins Gesicht, sie bogen ihn weg, er knackte. Dann war es wieder still, sie hörten nur das Gleiten ihrer Tritte und den eigenen Atem. Sie sahen sich kaum, sie fühlten sich nur. Keiner sprach ein Wort. Die Nacht war stumm und schwer. Sie schien unbeweglich auf der Erde zu liegen wie ein schlafender großer schwarzer Hund.

Erst als sie aus dem Walde bogen und auf die Landstraße kamen, an den ruhig rauschenden Fluß, sagte Nießner, die Schultern streckend: »Es ist immer noch das gescheiteste mit solchen Mädln. Eins, zwei, drei und vorbei. Und man macht sich nichts vor und wird nicht sentimental. Das hält nur auf. Diese Mädln sind nicht gemeiner als die anderen auch. Sie zeigen es nur, und da weiß man es, es ist nicht die Gefahr, daß man sich was vorlügt. Vielleicht gibt's auch andere Frauen. Aber davon habe ich nichts. Denn jedenfalls gibt es sie nicht für uns. Vielleicht später einmal. Vielleicht, wenn man einmal oben ist. Vielleicht sieht oben das Leben anders aus. Hier unten ist es scheußlich. Und die größte Dummheit ist, sich vorzugaukeln, daß es nicht scheußlich ist. Nur wer täglich wieder spürt, wie scheußlich es ist, der setzt auch schließlich alles ein, um wegzukommen, weg und hinauf. Vielleicht ist das auch ein Schwindel, vielleicht wird's oben auch nicht anders sein. Aber dann ist es wenigstens ein Schwindel, der einem gut tut. Man wird stark und frech dadurch und läßt sich keine Ruhe. Ich möchte einmal wissen, wie das Leben für jene ausschaut, die die Mittel haben, anständige Menschen mit vornehmer Gesinnung und Edelmut zu sein. Diese Mittel will ich mir jedenfalls verschaffen. Ich brauche ja deswegen dann noch keinen Gebrauch davon zu machen, wenn ich dann wirklich einmal oben bin. Was, lieber Freund?«

Klemens war müd. Der feste Schritt Nießners tat ihm wohl, der zog ihn mit. Seine harte Stimme, hell über das rauschende Wasser schlagend, tat ihm wohl. Dieser ganze Mensch mit seiner rohen Kraft tat ihm wohl. Er hätte sich nicht gewünscht, so zu sein. Aber er wünschte sich, so einen bei sich zu haben und im gleichen Schritt mit ihm zu gehen.

Nach einiger Zeit fing Nießner wieder an: »Glauben Sie denn, lieber Freund, ich könnt mir nicht auch ein nettes kleines Verhältnis leisten, mit schmachtenden Ausflügen nach Laxenburg und gerührten Zärtlichkeiten, vier Eßlöffel jeden Tag, und allen diesen Vergoldungen der Gemeinheit? Bis einem windelweich wird und man sich sagt: Es ist ja doch ganz schön! Ich mag aber nicht, nein, ich mag nicht, ich mag mich nicht einfangen lassen! Erst wenn mir der Ekel bis in den Hals kriecht, bin ich vergnügt. Das ist gesund, das mischt den Menschen auf, da sagt er sich dann, daß es so nicht bleiben kann, und wetzt die Zähne und beißt sich durch. Froh bin ich, daß mein Vater ein Naderer war, und meine Mutter eine Hebamme und die Fräul'n Tochter, die sie mit in die Ehe gebracht hat, eine liederliche Person und alles zu Hause so, daß mir schon von klein auf gegraust hat vor der ganzen Familie. Nix schadet einem Menschen mehr als eine schöne Kindheit. Da glaubt er dann, er hat halt das Schönste schon gehabt. Ich nicht! Ich kann mir das nicht einbilden, Gott sei Dank. Ich habe das noch alles vor mir, an mich kommt erst die Reih. Und sehn Sie, lieber Freund, das ist ein famoses Gefühl, das möcht ich nicht hergeben, um keinen Preis der Welt. Ich hab noch nichts hinter mir, alles muß erst noch kommen! Und ich werd mich nicht beschwindeln lassen, um mein Deputat, ich schau schon dazu, daß ich's krieg!« Er stieß die geballten Fäuste vor, in die schwarze Nacht hinaus, leise pfeifend. Plötzlich lachte er laut auf und sagte: »So, Sie können sich ja auch nicht beklagen, lieber Freund, was die schöne Kindheit betrifft, was?« Da Furnian schwieg, fuhr er fort: »Sie haben doch auch nix zu lachen gehabt! Was?«

»Nein«, sagte Klemens leise.

»Sie kommen auch erst dran«, sagte Nießner. »Vergessen's nur nicht, sich zu melden! Man darf dem Schicksal seine Schlamperei nicht hingehn lassen, man muß's immer wieder mahnen: Entschuldigen schon, ich bin auch noch da! Dann tut's schon seine Schuldigkeit, wenn's auch ein bißl schlampert is. Das kommt Ihnen wohl aber spaßig vor, Herr Bezirkshauptmann, daß ich Ihnen da gute Lehren geb, mitten in der Nacht? Was?« Er blieb plötzlich stehen, bog sich zu Furnian hin und streckte den Kopf vor, um in der Dunkelheit sein Gesicht zu sehen. Furnian fühlte die schnüffelnden Augen und den borstig vorstehenden Schnurrbart. Er zwang sich zu lachen und sagte: »Warum nicht? Es hört sich ganz lustig an. Jeder sieht halt die Welt mit seinen Augen. Und in vielem haben Sie ja gewiß auch recht. Und wenn's mir schließlich nicht paßt und ich es nicht glauben will, muß ich ja nicht. Also!« Er lachte noch einmal und schritt wieder aus.

»Natürlich!« sagte Nießner lachend. »Aber leid wär mir um Sie. Es ist schad, daß Sie so genügsam sind. Soll man nicht. Ich an Ihrer Stelle! Wenn ich denk –!« Er brach ab. Sie gingen wieder stumm.

Als sie zur Brücke kamen, sahen sie schon die trüben Laternen. Der Turm und das hohe Dach der Kirche standen aus dem Dunkel ab. In Dunst lagen die kleinen Häuser eingehüllt.

»So lieb und still liegt das da«, sagte Furnian.

»Ja«, sagte Nießner. »Lieb und still. Für einen Pensionisten muß es ein ganz angenehmer Ort sein.«

Indem sie weitergingen, lachte Nießner plötzlich auf und sagte: »Ich weiß, daß Sie jetzt sich fragen: Was will der Kerl eigentlich von mir: Denn natürlich ist das ungemütlich! Kommt da plötzlich ganz ein fremder Mensch daher und steigt einem aufs Dach! Ich will aber wirklich nix von Ihnen. Was denn? Ich kann Ihnen weder viel helfen noch schaden, und Sie mir auch kaum. Nein, ich will gar nix. Ich hab nur gern, wenn mich die Leut kennen und sich merken, daß ich so frei bin, auch auf der Welt zu sein. Und das muß man den meisten Menschen zweimal sagen, eh sie's begreifen. Dann kommt man aber viel besser mit ihnen aus. Wir werden uns gegenseitig nicht genieren, hoff ich, wir zwei beide. Und mehr kann der Mensch von keinem Menschen verlangen.« Und in einem anderen Ton sagte er noch, leichthin: »Übrigens, daß ich nicht vergeß! Ich hab selbst an den Domherrn geschrieben, er hat mich eingeladen, ich geh morgen abend hin. Vielleicht sehn wir uns dort. Was?« Sie waren in der Kreuzgasse, vor der Wohnung Furnians.

»Ja, ich bin morgen abend dort«, sagte Furnian. »Auf Wiedersehen also! Und noch schönen Dank für die Partie! Es war sehr hübsch.« Er gab dem Kommissär die Hand.

»No, wenn Sie sich nur unterhalten haben«, sagte Nießner. »Vielleicht kann ich nächstens wieder mit einer Lieferung aufwarten. Schaden wird's Ihnen sicher nicht. Was? Der Mensch muß manchmal etwas für seinen Stoffwechsel tun. Auf morgen also! Servus, lieber Freund!«

Klemens war sehr müd, er fiel ins Bett. Hoffentlich, dachte er, plauscht das Mädl nicht am End! Nießner hätte das ja gar nicht verstanden. Nein, sie waren doch zwei ganz verschiedene Menschen, er und Nießner. Sicher hätte Nießner ihn ausgelacht. Er aber war jetzt darüber eigentlich sehr froh. Schon halb im Schlaf sah er das heiße Gesicht des dicken Mädchens. Komisch war das freilich: er hatte sich ein Abenteuer erwartet, und dann fiel es so ganz anders aus. Er war aber eigentlich froh.


 << zurück weiter >>