Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

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Achtes Kapitel.

Sie trafen sich in der Meierei. Sie vermied es, mit ihm allein zu sein. Er drängte sich nicht auf. Der Zank war vergessen, sie wurden unbefangen. Sie konnte sich so herzlich über jeden törichten Spaß freuen. Wie Kinder trieben sie sich mit der Vikerl im Garten herum. Nur den Antonio konnte sie nicht leiden. Klemens wunderte sich, daß ihr die Hofrätin das verzieh, die doch soviel auf den Antonio hielt. Die beiden Frauen hatten einander sehr gern, und jede ließ der anderen ihre Launen. Die Vikerl wurde ganz eifersüchtig. Lachend sagte die Hofrätin oft: »Setzen Sie sich ein bissel zu mir, Baronin, wenn's die Vikerl erlaubt. Erlaubst du's, Vikerl?« Und sie freute sich über die Verlegenheit des scheuen Mädchens. »Sie können sehr stolz sein, Klemens!« sagte sie. »Sie sind der einzige, dem sie sie gönnt.« Es war auch wirklich merkwürdig: auf Klemens schien das ängstliche Kind nicht eifersüchtig zu sein. Immer erzählte sie ihm von ihr, immer fragte sie ihn wieder: »Ist sie nicht eine wunderbare Frau? Und schauen Sie doch, Klemens, wie schön sie ist!« Die Baronin wurde manchmal ganz ärgerlich. Wenn sie aber zum Domherrn ging und Klemens mit der Vikerl allein blieb, sprach ihm diese die ganze Zeit nur von ihr vor. Und immer sagte sie dann: »Und diese wunderbare Frau hat soviel leiden müssen! Jetzt aber sind wir da, wir wollen sie das alles vergessen machen, bis sie gar nichts mehr davon weiß. Nicht wahr, Klemens, wir zwei?« Klemens aber hörte kaum zu, weil es ihn schon langweilte. Seine Gedanken waren nebenan. Es verdroß ihn, daß sie beim Domherrn saß. Er fragte sie einmal: »Sind Sie wirklich fromm?« Sie sagte: »Wenn der Mensch traurig ist, sucht er sich auf jede Art zu helfen.« Er sagte: »Sie sind doch gar nicht traurig. Ich habe noch nichts davon bemerkt. Und bei dem schönen Wetter gar!« Sie lachte, sah ihn an und erwiderte: »Das Wetter kann aber umschlagen. Und wem es einmal schlecht gegangen ist, der hat immer Angst. Vielleicht bin ich mehr abergläubisch als gläubig.« Er fragte: »Woher aber dann diese Passion, katholisch zu werden? Der alte Luther tät's auch noch, denk ich.« Die Vikerl fuhr dazwischen, ganz entsetzt: »Klemens! Wenn Sie der Onkel hört! Schämen Sie sich!« Die Baronin sagte: »Er meint es nicht so schlimm. Aber lassen Sie mich nur! Das kann nur verstehen, wer selbst einmal sehr gelitten hat. Was wissen denn Sie davon? Man muß mich lassen. Und übrigens, ich habe doch mit dem Domherrn auch allerlei Geschäftliches. Er sucht ein kleines Haus mit einem Gärtchen für mich. Nichts als ein Stück Wiese mit ein paar großen alten Bäumen vor dem Haus, irgendwo dort oben. Aber meinen eigenen Grund möchte ich haben, einen Fleck Erde, der mir gehört, wenn's noch so winzig wäre, aber mir soll's gehören, und ich will das Gefühl haben, daß da kein anderer Mensch mir was zu sagen hat. Das ist ja auch wieder eine Laune; es wird mich mehr kosten als jetzt, ich weiß, und ich sollte lieber sparen. Aber laßt mich doch, wie ich nun einmal bin! Da lobe ich mir den Domherrn; der fragt nicht erst lange, sondern hilft mir.« Sie gingen dann auch manchmal alle drei und suchten die Gegend nach einem solchen Häuschen ab. Das war aber nicht so leicht. Ganz hoch oben sollte es sein, ganz weit weg vom Ort, am liebsten in der Lucken selbst, oder gar im Wald am See; aber dann hätte sie sich doch auch wieder ein paar Rosen und einige hohe, ganz alte Pappeln gewünscht und gern auch noch einen rauschenden Bach mit einer kleinen, lustig klappernden Mühle. Das ließ sich nun nirgends beisammen finden. Und die Vikerl war gar ausschweifend; das Haus, das sie sich für die Baronin dachte, gab's wirklich nur im Märchen; da hätte dann auch noch ein Wolf kommen müssen, der reden konnte, meinte Klemens. Lustig war es aber doch sehr, so herumzusteigen und in der Luft überall die schönsten kleinen Bauernhäuser hinzubauen, mit so merkwürdigen lieben Dingen, wie sie nicht einmal der Kaiser selbst in seinem alten Park drüben hatte. Auch lernte er nun die Baronin erst kennen, wenn sie mit den Bauern von der Wirtschaft sprach, die mit ihr gleich viel zutunlicher wurden als mit ihm, oder den Kindern Geschichten erzählte oder am Bett einer kranken Alten saß und sich ihre Schmerzen vorjammern ließ. Sie hatte, was ihm fehlte: sie war gleich immer mit den Leuten vertraut. Wie ihr auch alle Hunde zuliefen und gleich mit ihr bekannt waren und ihr gehorchten.

Hatten sie dann alles abgelaufen, so saßen sie gern am Waldesrand, in den leuchtenden Herbst schauend und Äpfel essend. Mit gelben und roten Flammen schlugen die Buchen zwischen den dunklen Fichten durch, die großen Eichen waren fahl, hinter Haselstauden mit zerrissenen Blättern hingen scharlachene Berberitzen. Von braunen Äckern glänzte der Pflug, in geschorenen Wiesen stand das Vieh, Kinder sprangen, die Mädchen in grellen roten Röcken mit lichten blauen Schürzen, die Buben in scheckigen Jankern. Aus der Erde stieg ein Dunst, leise lief der Wind, ein Geruch kam von geschlagenem Holz, den Heuschobern und Beeren. In den Wegen trieb das raschelnde Laub, manchmal war ein Krähen, ein Wiehern in der Ferne, drüben klang der Bach, auf glatte Steine spritzend. Unten lagen zwischen gestützten Obstbäumen die kleinen Häuser im Tal, mit den hohen Schindeldächern, den engen Fenstern, den langen Schupfen; der Dünger dampfte, der Strahl des Brunnens blitzte in der Sonne. Sie saßen und sahen in den leuchtenden stillen Herbst hinein. Dann erzählte sie gern. Ganz langsam begann sie, ein Wort vom anderen abtrennend, wie dies ihre Gewohnheit beim Sprechen war. Allmählich fingen die Worte gleichsam zu hüpfen an, sie jagte sie, sie sprangen so, daß die Vikerl bald vom Zuhören ganz atemlos war. Es waren aber nie Begebenheiten, die sie erzählte, sondern von Häusern oder Bäumen oder Tieren erzählte sie. Meistens begann sie so: Als ich noch ein Kind war, da ging hinter dem Haus ein Weg, der war ganz verwachsen, da kam man durch eine Hecke auf eine Wiese, und dort stand ganz allein ein uralter Baum. Und von diesem sprach sie dann, als wenn's ein Mensch gewesen wäre. Oder sie sagte: Als ich noch ein Kind war, da hatten wir eine alte Katze, die hatte so gelbe Augen wie eine böse Königin, und einmal nahm ich sie ins Schiff mit, da schwammen alle Fische herbei, steckten die dummen Köpfe heraus und sahen die Katze bittend an, da kam ein großer Sturm. Nun beschrieb sie den Sturm und wie die weißen Wellen sangen, aber die Katze und die Fische kamen nicht mehr vor. Fragte die Vikerl dann: Und die Katze, und die Fische?, so sagte sie: Die Katze wird auch froh gewesen sein, als sie wieder am Ofen lag, und die Fische haben mir nie geschrieben, was eigentlich aus ihnen geworden ist. Wenn aber, weil in ihren Geschichten Wald und Meer, Tannen und Palmen oft so merkwürdig durcheinander waren, Klemens manchmal fragte, wo denn das alles eigentlich gewesen sei, sagte sie: Wenn man's mit dem Finger auf der Landkarte zeigt, da hört jede Geschichte auf, dann ist's nicht mehr schön! Und einmal sagte sie auch: Aber Klemens, merken Sie denn nicht, daß alles erlogen ist? Doch war die Vikerl darüber so unglücklich, daß sie ihr dann wieder schwor, alles sei wahr; und nur wenn's einer nicht glauben will, wie der Klemens, der braucht's ja nicht zu glauben und der verdient's gar nicht, daß es wahr ist! Und Klemens erinnerte sich dann, daß er ja auch aus seiner Kindheit keine Begebenheiten hätte erzählen können, sondern auch nur, wie die schweren Schritte des Vaters im Zimmer nebenan klangen, oder seine Angst, wenn die Mutter in Krämpfen schrie, oder wie die Zypressen an manchen Tagen so zum Weinen traurig waren; und eigentlich, wenn er es überlegte, war auch ihm von seiner Kindheit nichts übrig als Erinnerung an irgendein altes Gesicht, das er an einem traurigen Tage gesehen, hatte und niemals wieder, oder an irgendeinen Weg zwischen Mauern, den er ein einziges Mal gegangen war und nie mehr, aber nicht vergessen konnte. Er wunderte sich, wie sie ihm darin glich. Vieles, wodurch er sich immer ganz vereinsamt gefühlt hatte, weil es anderen Menschen unbekannt schien, fand er in ihr wieder. Und er dachte zurück an jenen Tag, als er zum erstenmal die weißen Häuser in der Lucken erblickt hatte, und erinnerte sich, wie er sich damals gewünscht hatte, bei solchen Menschen zu leben, fern vom Lärm der Welt; und jetzt wohnte sie dort. Einmal sagte er: »Ich bin nur neugierig, wenn wir wirklich so ein kleines Bauernhaus für Sie finden, ganz verborgen unter Bäumen, wie lange Sie das aushalten werden. Auf einmal wird's Ihnen langweilig sein.« Rasch sagte sie, heftig: »Nie! Ich habe genug von der Welt. Ich brauche keinen Menschen.« Und heftig wiederholte sie noch: »Keinen einzigen brauch ich.« Erschreckt hängte die Vikerl sich an sie. »Uns auch nicht? Mich auch nicht?« fragte sie, bittend, schmeichelnd. Und da jene schwieg und sie nicht ansah, drängte sie klagend: »Drut! Liebe Drut! Was haben wir dir denn getan?« Sie nahm das Mädchen zärtlich und sagte: »Nein, du darfst schon kommen. Und der Herr Bezirkshauptmann auch. Im Winter hat er ja sonst keinen Spaß.« Das Mädchen klagte: »Liebe, liebe Drut! Wenn wir dir doch nur helfen könnten!« Sie strich dem scheuen Kinde das Haar zurück und sagte: »Was willst du? Mir geht's ja ganz gut. Ich kann es mir gar nicht besser wünschen.«

Einmal wunderte sich Klemens über den Namen Drut. Es wäre Gertrud, sagte sie. Er fragte lustig: »Wissen Sie, was bei uns eine Trud heißt? Die Trud kommt in der Nacht und setzt sich einem auf das Herz, bis man nicht mehr atmen kann und elendiglich erstickt. Eine böse Hexe ist sie.«

»Pfui, Klemens!« rief die Vikerl.

»Bei uns«, sagte die Baronin, »war's einst der Name einer Walküre.«

»Und Walküre«, sagte Klemens, »wurde zur Strafe unter einen großen Baum gelegt, da mußte sie schlafen, viele Jahre lang, bis der junge Herr Siegfried kam, der weckte sie durch einen Kuß. Erinnern Sie sich?«

»Sie verwechseln sie mit einer anderen«, sagte die Baronin. »Die hieß nicht Drut, deshalb geht sie mich gar nichts an.« Und sie begann der Vikerl von den Walküren zu erzählen, und von den Wikingern und vom wilden Mann, der heute noch im Sturm über die Wälder fliegt, und von Riesen und Zwergen und von Recken und Räubern. Von solchen wußte sie alter Geschichten viel. Davon hatte sie manches Buch zu Hause. Die las sie gern immer wieder, Märchen und Sagen von nordischen Menschen in uralter Zeit. Auch wußte sie vieles, was nirgends aufgeschrieben war. Sie hatte manches Jahr ihren kranken Mann auf seinem Gut gehütet; da hörte sie an den langen Abenden den Mägden zu. Die Vikerl fürchtete sich, wenn sie daran dachte. Drut aber sagte: »Das ist für mich heute noch das schönste, wenn es draußen recht stürmt und eine schwarze Nacht ist, im Bett zu liegen und ein solches Buch zu lesen, in der Edda oder sonst einem Sagenbuch, die halbe Nacht, das paßt so gut dazu, wenn der Wind pfeift und der Regen klatscht, da spürt man, daß alles noch wahr ist.« Einmal brachte ihr Klemens ein paar neue Romane mit. Am nächsten Tag sagte sie: »Ich kann das Zeug nicht lesen. Mich wundert's, wer daran Gefallen finden mag. Daß das Leben häßlich ist, weiß ich ohne die Herren. Und dem Leben fällt wenigstens mehr ein. Nein, damit verschonen Sie mich!« Aber der Domherr gab ihr ein Buch, das hieß »Der Triumph des wahren Glaubens in allen Jahrhunderten«. Da waren von einem alten Geistlichen Leben und Taten der Heiligen Gottes verzeichnet, für jeden Tag des Kalenders. Darin las sie mit Leidenschaft und wußte bald alle Martern der Märtyrer und ihre wunderbaren Prüfungen auswendig. »Wäre ich ein Mann,« sagte sie, »ich würde heute noch ausziehen, um den Wilden zu predigen.« Der Domherr sagte: »Wir haben noch Wilde genug daheim. Aber das ist freilich nicht so lustig.«

Abends waren sie oft sehr vergnügt. Man aß beim Domherrn vortrefflich, und sein Keller war berühmt. Salzburger Mönche hatten im Pongau eine Fabrik angelegt, wo nach seinem Rezept allerhand Konserven und die merkwürdigsten Schnäpse gebraut wurden. Es war sein größter Stolz, den Gästen mit seinen Erfindungen und neuesten Mischungen aufzuwarten. Darunter war ein Enzian, dem er durch allerhand Zutaten, besonders aber durch einen Schuß von eingekochten Erdbeeren einen ganz eigenen Duft und Beigeschmack zu geben verstand; der Rupertiner war er zur Ehre der Stadt Salzburg genannt. Diesen Rupertiner fürchtete die Baronin so, denn sie behauptete, von Erdbeeren schon durch ihren bloßen Geruch eine unheimliche Art von Rausch zu bekommen, in welchem sie, zugleich erregt und seltsam betäubt, ja gelähmt, gar nichts mehr von sich wisse, dennoch aber diesen fürchterlichen Beeren nicht widerstehen könne. Der Domherr hatte seinen Spaß daran, wie sie zwischen dieser Gier und solcher Furcht angelockt und abgeschreckt im argen war. Er schob ihr das bauchige Fläschchen hin und sagte gekränkt: »Sie werden doch unseren Rupertiner nicht verschmähen?« Sie lachte flirrend, wie Kinder in ängstlicher Verlegenheit lachen. Er sagte: »Nein, wenn Sie wirklich meinen, daß es Ihnen schaden könnte, dann natürlich nicht. Aber Sie bilden sich das sicher nur ein.« Schließlich goß sie das kleine Glas voll, aber nur um daran zu riechen. Das Näschen zuckte, sie lachte schnaubend. Sie leckte den Rand ab. Die Vikerl schrie: »Nicht, nicht, nicht!« Da lachte sie noch einmal und trank das ölige Gift. »Nun also«, sagte der Domherr lachend. »Sehen Sie, daß es nur Einbildung ist! Nicht?« Sie biß die Zähne zusammen und sagte schluckend: »Ja. Es war nur eine Einbildung.« Der Domherr sagte: »Sehen Sie! Man muß sich überwinden.« Sie nahm sich auch zusammen, war aber wirklich eine Zeit dann immer wie im Fieber. Sie sprach sehr viel, immer schneller und schneller, atemlos; die Worte prasselten. Sie sprach aber keinen Satz aus, gleich fiel ihr wieder etwas anderes ein, dem jagte sie nach, da drängte sich noch ein anderer Scherz dazwischen, nun ging es hinter diesem her, bis allen ganz wirbelig davon war. Klemens hatte einmal irgendwo kleine weiße Tanzmäuse gesehen, die, bald um eine Scheibe, bald auf einem Brett so rasend kreisten und schossen, als würden sie mit der Peitsche gehetzt. An sie erinnerte ihn Drut, wenn sie so sausend durch ihre Geschichten fuhr. Es kam ihm vor, daß sie diese manchmal wichtiger zu finden schien, als er eigentlich begreifen konnte. Oft wenn sie begann: »Ich erinnere mich, vor ein paar Jahren, da fuhren wir einmal in aller Früh durch den Canale Grande«, hatte sie so etwas ganz Geheimnisvolles und Aufregendes im Ton, sie beugte sich vor, sie flüsterte nur, alle waren in Erwartung, nun mußte etwas Ungeheures kommen. Klemens hatte ganz das Gefühl, wie wenn er einen seiner geliebten Kriminalromane las. Eigentlich kam dann aber meistens gar nichts, sondern sie erzählte nur etwa, wie der Kanal ganz still und leer gelegen und es ein entfärbtes und sprachloses Venedig gewesen, von einem drohenden Ernst, den man am Tage der lässig tändelnden Stadt niemals zutrauen würde. Weiter nichts. Aber alle waren schließlich aufatmend noch sehr froh, als wären sie den größten Gefahren entkommen. Aus den einfachsten Dingen wurden in ihrer Erzählung Gespenstergeschichten. Dabei spannte sie sich zuweilen so heftig an, daß Klemens Furcht hatte, sie würde einmal zerreißen. Es war kein Wunder, daß sie dann oft in Ermattungen und Erschöpfungen tagelang lag, vor Schmerzen wimmernd, wenn sie nur einmal durchs Zimmer zu gehen oder auch nur die Hand zu heben versuchte. Sie schloß sich dann von allen Menschen ab. Nicht einmal die Vikerl ließ sie zu sich. Die Alte kam und meldete, daß die Baronin ihre Zustände hätte. Sie selbst nannte es: den dummen Kopf haben. Es dauerte zwei, drei Tage. Da ließ sie sich vor keinem Menschen sehen. Klemens redete ihr zu, doch einmal den Doktor Tewes zu fragen. Sie lachte ihn aus. Was wissen denn die Ärzte? Nein, ihr konnte kein Arzt helfen. Fast schien es, als hätte sie gar nicht geheilt sein wollen. »Das ist so,« sagte sie, »wie schlechtes Wetter, dann freut einen die Sonne erst wieder.« Auch behauptete sie, ihr dummer Kopf käme wirklich meistens vom Wechsel der Witterung, mit der sie sich in einem geheimnisvollen Zusammenhang fühlte. Der Domherr meinte, sie wäre dafür noch zu jung, später hätte diesen Zusammenhang jeder, nämlich die Gicht. Das machte ihr Spaß, und sie sprach seitdem gern von ihrer Kopfgicht. Eigentlich war sie sogar ein wenig stolz darauf, empfindlicher als andere Menschen mit den Geheimnissen in der Natur verbunden zu sein. Sie sprach sich auch die Gabe zu, Erdbeben aus der Ferne zu spüren. Sie hatte das zum erstenmal bemerkt, als sie vor wenigen Jahren auf dem Gut ihres Mannes in der Mark einmal in der Nacht plötzlich aufgefahren, erschreckt ans Fenster gerannt und um Hilfe gerufen, in einer namenlosen Angst, die sie sich durchaus nicht hatte erklären können, bis sie nach ein paar Tagen in den Zeitungen die Nachricht von dem großen Erdbeben in Amerika fand. Seitdem glaubte sie daran. Ihm war das zuerst aufgefallen, als sie einmal im Walde plötzlich stehenblieb und, mit ihren blinzelnden Augen aufsehend und gleichsam witternd, sagte: »Heute muß etwas Grauenhaftes vorgehen.« Nun sahen sie denn immer in den Zeitungen nach, und es traf sich, daß wirklich zuweilen an solchen Tagen Unwetter oder Hagelschläge, weit unten oder oben irgendwo, gemeldet wurden. Klemens wehrte sich, daran zu glauben, und der Domherr lachte sie aus. Vor der Vikerl sprachen sie nicht mehr davon; es hatte sie so furchtbar aufgeregt, daß sie nächtelang nicht schlief und ganz verstört war. Drut aber blieb fest dabei. »Es gibt überall unsichtbare Fäden«, sagte sie. »Auch zwischen den Menschen sind solche Fäden. Daher kommt es, daß wir manchmal so fröhlich oder so traurig sind ohne jeden Grund, ohne zu wissen, warum; das ist immer ein Zeichen, daß irgendwo, vielleicht ganz weit weg, etwas sehr Freudiges oder sehr Schmerzliches geschieht, und wenn irgendwo die Natur verschoben wird, spürt das jedes Geschöpf. Durch unsichtbare Fäden fließt es in alle.« Solche seltsame Dinge sagte sie stets mit einem fast gleichgültigen Ton. Still und klar war ihre Stimme. Nur hatte sie eine komische Art, dabei an den Ohren zu erröten. Die Muscheln der Ohren waren sehr fein ausgebildet, wie gedrechselt, die Läppchen aber ganz dünn und angewachsen. Er sagte ihr einmal, daß die Bauern meinten, daran zu erkennen, wer in der Nacht geboren sei. Nachtkinder nennen sie Menschen mit solchen verwachsenen Ohren. Sie wiederholte das Wort nachdenklich: »Nachtkinder! Vielleicht bin ich ein Nachtkind.« Dann fügte sie noch hinzu: »In der Nacht hört man viel schärfer.« Er brachte gern das Gespräch immer wieder auf ihre Ahnungen von Wind und Wetter. Denn dann schickte sie stets die Vikerl weg; diese mußte vorausgehen oder etwas im anderen Zimmer suchen, solange sie davon sprachen. So hatten sie doch ein kleines Geheimnis zusammen. Auch vor dem Domherrn, der darüber nur spottete. Klemens hätte sie gern vom Domherrn weggezogen. Einmal, als sie sich wieder gegen den Rupertiner wehrte und es dem Domherrn doch wieder gelang, den fetten Schnaps ihr aufzudrängen, weil sich der Mensch überwinden müsse, nahm sie nachher, noch in jener seltsamen Erregung, auf der Stiege Klemens am Arm und sagte, mit ihrem flimmernden Lachen: »Der Domherr ist mir unheimlich.« Als sie aber am nächsten Tag einen Augenblick allein waren und Klemens vom Domherrn begann, schnitt sie ihm das Wort ab und sagte: »Nein. Den Domherrn verstehen Sie gar nicht. Das ist ein bedeutender Mann.« Klemens ärgerte sich über den Ausdruck. Es war ihm auch unangenehm, wenn die Vikerl oft mitten im Gespräch plötzlich auf ihn zuschoß und ihn, mit ihren verirrten Augen und heiser vor Begeisterung, sinnlos fragte: »Ist sie nicht eine wunderbare Frau? Unsere liebe, liebe Drut! Ist sie nicht eine wunderbare Frau?« Er hatte seitdem zuweilen selbst gefragt, wenn er sie begrüßte: »Nun wie geht's, wunderbare Frau?« Oder auch wenn er den Domherrn meinte: »Wo bleibt denn heute der bedeutende Mann?« Aber sie mochte das nicht, gleich erschienen die bösen Falten auf der Stirne; so ließ er es wieder. Hätte er nur einmal mit ihr ungestört reden können! Aber immer hatten sie die Vikerl mit. Die Vikerl war ihm manchmal schon sehr zuwider, er zeigte das auch, dann tat sie ihm wieder leid. Er fand es doch auch sehr lieb von der Baronin, sich mit solcher Güte des verschreckten Kindes anzunehmen. Sie war so gut. Manchmal aber bekam er plötzlich eine Wut auf sie. Er sagte dann: »Wissen Sie, was man Mucken nennt? Mucken haben Sie.« Sie lachte; sie verstand ja, was er meinte. Sie weigerte sich nämlich noch immer, ihn, wenn sie heimkehrte, mitfahren zu lassen. Immer hatte sie die Alte bei sich. Er fand das wirklich kindisch. Aber sie sagte: »Mit einem Nachtkind ist das zu gefährlich, Herr Bezirkshauptmann!« So war es überhaupt: wenn er ernst wurde, scherzte sie, wenn er sich näherte, entzog sie sich, und wenn er sich freute, der Klemens für sie zu sein, war er auf einmal wieder der Herr Bezirkshauptmann. Und das gehörte auch zu ihren Mucken, daß sie ihm eines Tages plötzlich vorhielt, er dürfe nicht ihretwegen seine sämtlichen Bekannten vernachlässigen, und von ihm verlangte, sich wieder regelmäßig im Krätzl zu zeigen, wenigstens einmal in der Woche. Der Domherr stimmte zu, darüber ärgerte sich Klemens noch mehr. Er gab schließlich nach, sie hatte ja ganz recht, der Lackner machte schon ein spöttisches Gesicht. Er langweilte sich aber im Krätzl und dachte nur die ganze Zeit: Jetzt sitzt sie am Klavier und spielt, die Hofrätin legt Patiencen, und die Vikerl singt, ich bin ein Esel! Und als der versoffene Bezirksrichter nun noch stichelte: »Öha, öha, lieber Herr, aufpass'n, Tarock zähl'n, lieber Herr! So können's bei Ihre Heiligen draußt spiel'n! Bei uns hier müssen's schon den werten Verstand a bissel weiter aufmach'n, lieber Herr!«, warf er die Karten hin und verbat es sich zornig. Und die Weiber waren aufgeregt und der Apotheker wollte das Mißverständnis aufklären und der Bergrat wollte beschwichtigen und der Verwalter hetzte noch und der Lackner lachte und die Wirtin bat, alle um ihn herum, während der Bezirksrichter in einem fort schrie: »Was wollt's denn von mir? I sag ja nix, als daß bei uns zwei mal zwei vier is. Und bei uns is zwei mal zwei vier. Da kann der Papst selber a nix dagegen machen, das möcht i seg'n! Zwei mal zwei is vier!« Bis es Klemens zu dumm war und er wieder die Karten nahm. Und dann saßen sie bis in der Früh, der Öhacker, der Lackner und er. Er ärgerte sich die ganze Zeit und konnte doch nicht fort und trank. Dann führten sie zusammen, er und der Lackner, den Bezirksrichter heim, der nur noch manchmal lallte: »Da gibt's nix, Kinder, zwei mal zwei is vier! Aber was hab ich davon? Ich pfeif drauf. Das nutzt m'r a nix mehr. Mistig is das Leben, so oder so, mistig, i pfeif drauf!« Plötzlich fiel er über den Lackner her: »Wannst ma du mein armes Mädl unglücklich machst, du Lump! Was kann denn ein Kind für sein Vatern dafür? I hau d'r den Schädel ein.« Sie bändigten ihn und zogen ihn fort. Er lallte noch, wankend: »I hau d'r den Schädl ein. Zwei mal zwei is vier, da kann der Papst a nix mach'n. I hau d'r den Schädl ein.«

Als Klemens nach dieser Nacht mit den Honoratioren erwachte, kam ein Brief von seinem Vater an. Dem ließ es keine Ruhe. Er habe ja nun den ganzen Sommer geduldig gewartet, so schwer es einem alten Manne falle, seine berechtigten Wünsche, seine letzten Hoffnungen immer wieder zurückzustellen Nun aber gehe die Zeit dahin, und er könne es vor seinem Gewissen nicht mehr verantworten, noch länger zu warten und sich so zum Mitschuldigen des Sohnes und seines unverbesserlichen Leichtsinnes zu machen. Nach den Andeutungen in jenem Briefe, den er von der Hofrätin Zingerl vor nun gerade drei Monaten erhalten, habe er glauben dürfen, daß Aussichten einer höchst erfreulichen Art für Klemens zu erwarten seien. Er zweifle auch gar nicht, die Hofrätin, die sich natürlich in einer so delikaten Angelegenheit nur auf einen Wink habe beschränken müssen, richtig verstanden zu haben, und ebenso liege ihm der Gedanke fern, daß etwa die so verehrte Hofrätin von einem einmal, gewiß nur nach reiflichster Überlegung, gefaßten Plan wieder abgekommen sei. Sicher sei es vielmehr unzweifelhaft nur wieder Klemens selbst, der, von jeher unfähig, bei der Stange zu bleiben, auch wohl diesmal wieder in seiner sträflichen Unbedachtsamkeit und Überhebung, weiß Gott durch welche Torheiten verführt, sich um das Vertrauen der vortrefflichen Frau gebracht habe. »Ich aber kann nun nicht mehr länger warten. Meine Kraft ist zu Ende. Ich bin ein alter Mann, ich muß jeden Tag gefaßt sein, daß Gott mich abberuft. Wie will ich vor den Allmächtigen treten, ohne Antwort auf seine Frage nach dem mir anvertrauten Sohn? Ich kann mein Haupt nicht zur Ruhe legen, solange mein Haus nicht bestellt, meine Pflicht nicht besorgt ist. Der Gedanke, einen so unbesonnenen Menschen, wie Du bist, ratlos und hilflos in der fremden Welt zurückzulassen, würde mich noch im Grabe verfolgen. Du wirst dies ja nicht verstehen, weil dir das Gefühl der Verantwortung stets unbekannt geblieben ist und Du niemals gelernt hast, über die nächste Stunde hinaus zu denken. An mir liegt's nicht, daß Du so geworden bist. Ich habe es an Mahnungen, Drohungen, Warnungen niemals fehlen lassen, wahrhaftig nicht, und was so ein armer alter Mann wie ich nur immer vermag, habe ich aufgeboten, um Deinen unruhigen und maßlosen Sinn zu zügeln. Nun, Du hast nie auf mich gehört, Du glaubst ja alles besser zu wissen, daran habe ich mich gewöhnen müssen. Diesmal aber, das sage ich Dir, sollst Du sehen, daß ich nicht nachgeben werde. Gilt Dir Dein alter Vater so wenig, daß Du keine Rücksicht nimmst und nicht aus kindlichem Gehorsam meinen Wunsch erfüllst, so will ich meine ganze Kraft aufbieten, die mir in meinem vernichteten Leben noch übriggeblieben ist, um Dich durch meine väterliche Gewalt auf den rechten Weg zu bringen. Du bist nicht der Mensch, der allein stehen, aus Eigenem vorwärtskommen und sich selbst helfen kann. Du mußt Dich anschließen, anhalten können, sonst wirst Du Dich ganz verlieren. Der Gedanke, daß Du, wenn ich einmal nicht mehr bin, keinen Menschen haben sollst, der Dich führt, ist mir so schwer, daß ich vor Angst um Dich und bitterer Sorge seit Wochen nicht mehr schlafen kann. Ich hätte mir es doch um Dich verdient, den Rest meiner Tage, ich will nicht sagen: sorglos und froh, denn darauf habe ich keinen Anspruch, aber doch still und ruhig hinzubringen und von solchen fortwährenden Aufregungen verschont zu bleiben. Wenn Dir dies Dein eigenes Herz nicht sagt, so muß ich selbst es Dir sagen und will meine Stimme erheben, damit Du ihr anhören mögest, in welcher Todesangst ich um Dich bin. Ich bitte, ich beschwöre Dich, Klemens, mein einziges Kind, meine Qual ist groß! Ich ertrage das ewige Warten nicht mehr. Ich sitze den ganzen Tag und warte nur. Und nachts schlafe ich nicht, sondern wälze mich herum und wünsche den Morgen herbei, weil doch endlich der Briefträger kommen muß, mit der ersehnten Nachricht von Dir; nein, so kann der Mensch nicht leben! Du aber, wenn Du Dich doch einmal auf Deine Pflicht besinnst, mir zu schreiben, suchst mich durch allerhand fröhliche Schilderungen Deines äußeren Lebens zu täuschen oder ergehst Dich wohl gar in spöttelnden und witzig sein sollenden Betrachtungen über die Menschen, wie Du sie in Deiner unbegreiflichen Sorglosigkeit siehst, was mir nur immer wieder aufs neue zur Bestätigung dient, daß Dir der Ernst des Daseins noch immer fremd ist und Dein Sinn wohl ewig dafür verschlossen bleiben wird. So kann es nicht weitergehen. Ich ermahne Dich zum letztenmal! Du sollst mir zunächst ein reumütiges Bekenntnis ablegen, aus dem ich entnehmen kann, was sich denn eigentlich zugetragen hat und warum eigentlich aus den Andeutungen der verehrten Hofrätin in ihrem so überaus gütigen Schreiben vom Juni dieses Jahres nun doch wieder, wie es scheint, nichts geworden ist, gewiß wieder nur durch Deine eigene Schuld allein. Ich muß übersehen können, was denn eigentlich vorgefallen ist, um danach entscheiden zu können, ob es nicht doch vielleicht möglich sein wird, manches noch auszugleichen und, was Du, mehr durch Unbesonnenheit, wie ich hoffen will, verfehlt hast, wieder gutzumachen, wenn Du nur dann Dein Verhalten nach den Anweisungen, die ich treffen will, einzurichten Vernunft und Selbstzucht genug hast. Zeigt es sich aber, daß Dein Vergehen, wie ich fast schon fürchten muß, irreparabel ist und Du das Dir zugedachte Glück durch eine Deiner unverzeihlichen Launen, die Dir gerade, der Du doch die so heikle und unsichere Lage unseres Namens und unseres Ansehens kennen und eine schuldige Rücksicht darauf nehmen solltest, am wenigsten anstehen, unwiederbringlich verscherzt hast, so bin ich in meiner unerschütterlichen Vaterspflicht auch jetzt noch wieder bereit, zu Dir zu stehen und Dich davor zu bewahren, daß Du die Schuld einer unglücklichen Stunde nicht mit einem verlorenen Leben büßen mußt. Ich will dann versuchen, ob es mir gelingen mag, die Beziehungen zu dem Hauptmann, dessen Tochter ich Dir bestimmt hatte, wiederaufzunehmen, was mir, nach einer vorsichtigen und mehr scherzhaft gehaltenen Anfrage gelegentlich einer kürzlichen Begegnung zu schließen, nicht völlig ausgeschlossen scheint. Es ist zum letztenmal, daß ich Dir hiermit meine väterliche Hand biete; verdient hast Du es wahrlich nicht. Ich tue es auch wirklich mehr um meiner selbst willen, um ein ruhiges Gewissen zu haben, und für unseren Namen als Deinetwegen, der sich um seinen alten Vater so wenig als um das Ansehen seines Namens zu kümmern scheint. Ich erwarte, daß Du mir ungesäumt die so notwendigen Aufklärungen machst, und hoffe zuversichtlich, daß Du mir das Opfer einer so weiten Reise ersparen wirst, die bei meinem Alter und dem unsicheren Zustand meiner schwankenden Gesundheit in dieser vorgerückten Jahreszeit eine nicht unbedenkliche Gefahr für mich bedeuten würde, so sehr es mich auch manchmal drängt, noch einmal vor dem nahen Tode meinen Sohn an die väterliche Brust zu schließen.«

Klemens hatte in den Tag hinein geschlafen. Sein Kopf war wüst. Er schämte sich. Ein schwerer Nebel stand im Garten, die blasse Sonne konnte noch nicht durch, das nasse Laub roch; durchs Fenster strich eine laue Luft ins kalte Zimmer, und der Dunst der braunen Erde kam herein. Am Fenster saß er und las den Brief des Vaters und las. Aber es war schon spät, er mußte doch ins Amt. Indem er sich den trägen Kopf wusch, war ihm, als wenn er aus dem kalten Wasser ihre klare helle Stimme gehört hätte, ihre liebe stille Stimme. So traurig stand der Garten im Nebel, die Bäume leerten sich; es wurde der Sonne jetzt jeden Tag schwerer durchzukommen, bald wird sie es nicht mehr können. Er hatte aber keine Zeit, am Fenster zu stehen und in den braunen Garten zu schauen. Er mußte doch ins Amt. Den Brief nahm er mit. Dort wird er ihn noch einmal lesen. Er weiß gar nicht, was der Vater eigentlich meint. Diese Briefe machten ihn immer so traurig! Er wird aber doch antworten müssen.

Als er dann den Brief zum drittenmal las, begriff er erst allmählich. Nun wurde ihm auch erst klar, warum der Vater damals, auf jenen Brief der Hofrätin hin, so leicht nachgegeben hatte. Sein Vater war es gewohnt, jedem Worte, das man sprach oder gar schrieb, so lange nachzugrübeln, bis alles dadurch für ihn noch einen besonderen geheimen Sinn annahm. Er hatte ja auch ein unglaubliches Gedächtnis; er hielt einem plötzlich vor, was man vor Jahren einmal nebenher gesagt hatte, und es zeigte sich dann, daß er irgendein harmloses leeres Wort die ganze Zeit bei sich herumgetragen hatte, und die ganze Zeit war es seither in ihm angewachsen und war groß und schwer und voll geworden. Die Hofrätin, die ja nur jenen Plan einer Heirat mit der Tochter des Wucherers abwenden wollte, hatte wahrscheinlich, um die Sorgen des Vaters zu beschwichtigen, in ihrer behaglichen Art erzählt, wie gut es ihm in ihrem Hause ging, und dabei wohl auch die Vikerl erwähnt, sicherlich nur um dem Vater recht anschaulich zu machen, daß sein Sohn in ihrer Familie schon ganz heimisch geworden sei; galt es doch zunächst, die Furcht des Alten vor schlechter Gesellschaft und was er sich sonst noch etwa für Gefahren einbilden mochte, zu zerstreuen und ihn zu beruhigen, daß sein Sohn bei sorglichen Menschen gut aufgehoben, um ihm jeden Vorwand zu seinem überstürzten Plane zu nehmen. Er aber, an ihren Worten bohrend, wie es seine Art war, und die Worte nach allen Seiten wendend, um nur alles auszuspüren, hatte das so gedeutet, offenbar, als wäre damit irgendein geheimes Einverständnis zwischen Klemens und der Vikerl gemeint und eine Heirat der beiden angekündigt. Er kannte ja den Vater, er wußte, wie der Vater eine Vermutung, einen Verdacht, eine Hoffnung immer so lange in sich kochen ließ, bis jeder Zweifel verdampft war und er es nun im besten Glauben beteuern konnte; dann half auch nichts mehr, er hätte keinen Zeugen dagegen gelten lassen, wenn einmal etwas in seinen einsamen Gedanken erstarrt war. Hier mochte dazu noch kommen, daß er wohl lieber gleich der Hofrätin widersprochen hätte, um auf seinem Kopfe zu bestehen; aber er war ja so schwach, und dieser Schwäche schämte er sich dann und, um sich selber zu beweisen, daß er doch gar nicht aus Schwäche, sondern für einen guten Grund nachgegeben, hatte er seine Vermutung so gesteigert, bis es für ihn ein ausgemachter Antrag der Hofrätin war, gegen den er nun aber sicherlich einen geheimen Groll bei sich trug, wie gegen alles, was nicht nach seinem eigenen Gutdünken angeordnet war. Er kannte doch seinen Vater, er kannte diesen Ton gekränkten Gehorsams, er hörte förmlich den Vater sagen: »Nun die Hofrätin muß es freilich besser wissen, sie kennt die Welt, darüber steht mir kein Urteil zu, was hat ein armer alter Mann wie ich noch zu sagen?« Und in der müden willenlosen Stimme klang es doch von einem leisen Trotz und bitteren Neid und dem geheimen Wunsch an, doch klüger zu sein als alle die klugen Leute, welchen er nicht zu widersprechen wagte, und doch am Ende vielleicht recht zu behalten, nur nicht auf seine Gefahr. Und wenn der Vater jetzt auf ihn losschlug, als hätte nur der Leichtsinn des Sohnes wieder alles versäumt, so war es doch sicherlich noch viel mehr die Hofrätin, der seine Schadenfreude galt. »Ich habe mich ja fügen müssen, wer hätte denn auf mich armen alten Mann gehört? Man weiß doch alles besser. Nun aber hat man's wieder einmal gesehen! Ja, wer nicht hören will, muß fühlen. Zuletzt soll dann doch wieder ich immer alles in Ordnung bringen, was der Unverstand der anderen verwirrt hat!« Er kannte doch seinen Vater!

Er warf den Brief weg, stand auf und öffnete das Fenster. Der Nebel war gestiegen, wie Schwefel hing es vor der fahlen Sonne. Starr und grau stand der Tag. Es roch warm und naß. In der Ferne war manchmal plötzlich ein Rollen, wie wenn in den Wolken gekegelt würde. Aber zur Erde traute sich der fliegende Wind nicht herab. Der alte Pfandl trat ein: »Wegen der Brücken wären's wieder da, Herr Bezirkshauptmann!« Klemens sah dem gelben Nebel zu. Nach einiger Zeit sagte Pfandl: »Der Bachlwirt, der Siemhofbauer und noch ein andrer Bauer.« Und als Klemens noch immer am Fenster schwieg: »Sie hätten sich's überlegt.« Klemens drehte sich um und sagte: »Ja, das sagen's jedesmal. Ich hab's aber satt, ich laß mich nicht mehr zum Narren halten. Führen Sie sie zum Grafen Sulz, der soll ein Protokoll aufnehmen.« Und er schrie wütend: »Ich hab wichtigere Sachen zu tun, als mich mit den Bauernschädln herumzustreiten. Verstanden? Drei Monat dauert das jetzt, und man kommt nicht vom Fleck. Nächstens werd ich aber andere Saiten aufziehen. Also vorwärts!« Der alte Pfandl ging. Da rief ihm Klemens nach: »Oder warten's! Halt!« Der Pfandl sah sich fragend um. Klemens sagte: »Warten's, Pfandl! Kommen's noch einmal her! Machen wir das lieber so! Der Sulz kennt sich mit der Gesellschaft doch nicht aus, das hat ja keinen Sinn. Reden Sie mit ihnen! Verstehn's?«

»Jawohl, Herr Bezirkshauptmann«, sagte der alte Pfandl.

»Also kommen's her und hörn's zu, Pfandl!« sagte Klemens. »Sie wissen ja, um was es sich handelt. Was?«

»Jawohl, Herr Bezirkshauptmann!« sagte der alte Pfandl.

»Der Steg is hin. Braucht nur einer einmal ein paar Ochsen über den Steg zu treib'n, fallt er ein. Nach dem Gesetz, passen's auf, Pfandl, nach dem Gesetz sind die Anrainer verhalten, den baufälligen Steg auf ihre Kosten herzustellen und diese Kosten untereinander aufzuteilen. Verstehn's? Daß der Bachlwirt sagt, er is nicht schuld, sondern der Siemhofbauer mit seinen schweren Wagen is schuld, und der Siemhofbauer sagt, von ihm aus soll die Bruck'n einfall'n, und die fünf andern Bauern sagen, das is dem Bachlwirt und dem Siemhofbauern seine Sach, das geht sie nix an, davon hab ich jetzt endlich genug! Verstehn's, Pfandl? Also schaun's, daß 's die G'schicht in Ordnung bringen, sonst wird wirklich mit der dummen Brücken noch ein Unglück g'schehn, Sagen's ihnen nur, da gibt's nix, man wird nicht das Gesetz wegen ihnen ändern! Sonst schick ich nächste Wochen den Gendarm hin und laß die Brücken einfach einreißen! Also vorwärts! Aber nicht, daß es wieder heißt, sie werden sich's noch überlegen! Und dann kommen's in drei Tagen wieder und haben sich's überlegt, aber anders, und die ganze G'schicht fangt wieder von vorn an. Reden's doch mit den Kerl'n ein vernünftiges Wort, Pfandl! Es nützt einmal nix, das müssen die Kerl'n doch einsehen! Also, Pfandl, zeign's einmal, was Sie können! Mir wachst die ganze G'schicht schon beim Hals heraus, ich hab wirklich wichtigere Sachen zu tun. Also gut! Und lassen's mir heute niemanden mehr herein! Verstanden?«

»Jawohl, Herr Bezirkshauptmann«, sagte der alte Pfandl und ging.

Klemens legte sich auf den Diwan und rauchte. Jetzt kam endlich die Sonne durch; aus weißen Wolken, die zerrissen, trat der blaue Himmel. Das Zimmer wurde hell, ein weißer Staub tanzte. Klemens schloß die Augen, das Licht tat ihm weh, sein Kopf war leer, er wäre so gern noch einmal eingeschlafen. Und gerade heute kam der dumme Brief! Er hatte schon immer Angst, wenn er nur die Schrift seines Vaters mit den zittrig ausgemalten Schnörkeln sah. Und er war so wehrlos gegen seinen Vater! Der tat ihm ja leid. Aber er konnte ihm doch nicht helfen. Er wünschte sich schon oft, nur gar nichts mehr von ihm zu hören. Nein, dem Vater war ja doch nicht mehr zu helfen, und was man auch sagte, er verstand es falsch, und es hatte gar keinen Sinn, mit ihm zu reden. Und wenn jetzt Klemens wieder die Hofrätin bat und die Hofrätin ihm wieder schrieb und er sich wieder beschwichtigen ließ, was war gewonnen? Im nächsten Monat fing er ja doch wieder an. Und hätte Klemens ihm selbst seinen Willen getan und die Tochter des Wucherers genommen, auch das hätte ja wieder nichts genützt, der Vater fand dann schon wieder eine neue Sorge heraus, um sich und ihn zu quälen! Und Klemens erinnerte sich, wie er sich oft als Kind, wenn er ein schlechtes Zeugnis hatte, in Mathematik bloß Lobenswert statt des erforderten Vorzüglich, gar nicht mehr nach Hause gewagt, aus Furcht vor dem höhnischen Schweigen des Vaters, und am liebsten fortgerannt wäre, weit in die Welt hinaus, um sich irgendwo zu verkriechen und lieber bei fremden Leuten betteln zu gehen, aber nur vor dem Vater sicher zu sein. Und so traurig war er damals oft, keinen Menschen zu haben, zu dem er vor dem Vater flüchten könnte! Aber als Bub hatte er sich getröstet: Bis ich nur erst aus dem Gymnasium sein werde! Und dann auf der Universität wieder: Bis ich nur einmal meine Prüfungen haben werde! Und nach den Prüfungen wieder: Bis ich nur erst ernannt bin und der Vater sieht, daß seine Sorgen doch unnütz sind! Und er kam aus dem Gymnasium und er kam an die Universität und er kam ins Amt, aber der Vater blieb gleich. Und am liebsten wäre er heute noch fortgerannt, in die weite Welt hinaus, wo nur der Vater ihn nicht mehr finden könnte! Denn den Mut wird er ja doch nie haben, dem Vater zu sagen, daß er jetzt erwachsen und sein eigener Herr ist und selbst über sich entscheiden muß! Er weiß es doch, er hat nicht den Mut! Und kein Mensch hilft ihm, kein Mensch schützt ihn, keinen Menschen hat er auf der weiten Welt!

Er wollte lieber der Hofrätin gar nichts sagen. Er schämte sich vor ihr. Er schrieb auch dem Vater nicht. Er konnte nicht. Was denn auch? Er war in der Stimmung, einfach alles gehen zu lassen. Ich kann's doch nicht ändern! Soll's kommen, wie's kommt! Nein, er wird der Hofrätin nichts sagen, Er würde sich doch auch vor der Baronin schämen! Die hätte das doch gar nicht begriffen, daß sich ein ausgewachsener Bezirkshauptmann von seinem alten Vater kommandieren ließ! So war er abends in der Meierei lustiger und lauter als sonst, erzählte vom Krätzl und schilderte den Zug durch die nächtlichen Gassen, wie sie den Bezirksrichter durch seinen Rausch gesteuert hatten, Lackner und er. Sie merkten es ihm aber an, daß er anders war. Die Baronin fragte: »Was haben Sie denn heute, Klemens?« Er antwortete: »Was soll ich denn haben? Einen Kater. Sie sind schuld.« Es tat ihm aber wohl, daß sie seiner Lustigkeit die schlechte Laune anhörte. Die Hofrätin fragte: »Hat Ihr Vater geschrieben?« Er gestand es, konnte aber vor der Vikerl doch nicht alles sagen. »Wir werden den alten Herrn schon wieder beruhigen«, meinte die Hofrätin lächelnd. »Bringen Sie mir nur seinen Brief.« Als er dann mit der Baronin und der Vikerl allein war, sagte diese mit ihrer fiebernden Stimme: »Denke dir, Drut! Sie wollen ihn zwingen, daß er ein ungeliebtes Mädchen heiraten soll. Das darf doch nicht geschehen, liebe, liebe Drut!« Und bittend hob sie die Hände zu ihr, Klemens ärgerte sich und sagte: »Ich muß ja nicht, wenn ich nicht will. Das hängt doch schließlich von mir ab, nicht?« Die Baronin sagte lachend: »Er sieht mir nicht danach aus. Den fängt keine so leicht ein. Und Sie haben ja recht, Klemens, ich glaube wirklich, Sie passen gar nicht zur Ehe.« Es verdroß ihn, daß sie es so heiter nahm. Er wurde plötzlich ernst und fragte: »Warum? Warum meinen Sie, daß ich zur Ehe nicht passen soll?« Sie lachte über seinen gereizten Ton: »Verzeihen Sie! Ich will durchaus an Ihren ehelichen Talenten nicht zweifeln. Und meinen Segen haben Sie.« Er sagte: »Sprechen wir lieber nicht mehr davon. Ich mag es nicht, daß Sie spotten. Mir ist gar nicht danach zumute!« Sie ging auf ihn zu, und indem sie ganz dicht vor ihm aus ihren müden, blinzelnden, abgehetzten Augen zu ihm aufsah, sagte sie: »Ist es so ernst? Armer Freund!« Sie ging weg, durchs Zimmer. Und nachdenklich wiederholte sie: »Armer Freund!« Wenn sie so durchs Zimmer ging, hielt sie sich immer ein wenig schief, einem auffliegenden Vogel gleich, und ihre kleinen kurzen Schritte waren so leicht, daß sie fast eher zu schweben schien. Er trank sich an ihrer hellen klaren Stimme Mut. Wenn er nur immer diese tapfere kleine Stimme gehört hätte! Das war wie heute vormittag, als die weiße Sonne plötzlich aus dem Nebel trat. Sie schwiegen alle drei. Die Vikerl drückte sich an die Wand, mit ihren erschreckten Augen horchend. Endlich riß er sich aus dem innigen Schweigen los, in welchem sie beisammen waren, und sagte: »Im Gegenteil! Es wäre sicher sehr gut für mich, zu heiraten. Meine Mutter starb, als ich noch ganz klein war, mein Vater ist ein armer verstörter Mensch, keinen Freund habe ich je gehabt, immer war ich ganz allein! Alles hat sich angesammelt in mir und wartet, wartet und –« Er hielt ein, es kam ihm lächerlich vor, sich so auszubieten. Er hatte das ja doch auch gar nicht sagen wollen! Was war nur mit ihm? Leise stand die Vikerl auf und schlich an der Wand zur Türe, da trat die Hofrätin ein, sie zum Essen zu rufen.

Als es Zeit war, heimzukehren, sagte die Baronin, schon am Wagen: »Hätten Sie Lust, Herr Bezirkshauptmann, noch ein wenig zu wandern? Begleiten Sie mich! Meine Donna soll im Wagen voraus fahren und bei der Villa Rahl auf uns warten.«

Sie gingen nebeneinander durch die dunkle Nacht, die warm und unruhig war; die Bäume stöhnten, raschelnd flatterte das Laub aus den feuchten Wegen auf, in den ächzenden Gärten heulten die Hunde. Lange schritten sie stumm. Er hörte nur ihren festen entschlossenen kleinen Schritt neben sich. Er hätte sich nichts gewünscht, als nur immer so mit ihr dahinzugehen. Es war ihm, als wäre dann alles gut gewesen. Endlich sagte sie: »Es ist Zeit, daß wir uns einmal aussprechen, lieber Freund! Nicht wahr, Sie wissen jetzt doch, daß ich anders bin, als Sie zuerst meinten, damals im Wald? Und auch Sie sind anders, als Sie sich mir anfangs zeigten. Und wie nun alles zwischen uns geworden ist, ist es doch für uns beide sehr schön. Wir können einander gut brauchen. Und das wird einem ja nicht oft im Leben zuteil. Mehr sollten sich zwei Menschen vielleicht gar nicht wünschen. Nun müssen wir aber klug sein, um es uns zu bewahren. Besonders ich, weil ich die ältere bin und das Leben besser kenne. Und da lassen Sie mich doch ganz offen mit Ihnen sprechen! Mir ist angst, daß wir eine Dummheit machen, Klemens! Mit Ihnen geht jetzt etwas vor, Sie wären zu allem bereit, und auch ich habe doch zuweilen meine wirren Stunden, und wie's schon geht: wenn wir da nicht acht geben, sind wir auf einmal verlobt! Sie finden das vielleicht unweiblich von mir, aber ist es denn nicht besser, sich darüber lieber ganz vernünftig auszusprechen? Und es muß sein. Es muß einfach sein. Wir würden es beide bitter bereuen. Ich kann Ihre Frau nicht werden, und ich will Ihre Frau nicht werden. Das hat alles seine guten Gründe, die Sie später einmal hören sollen, vielleicht. Und wir passen auch schon im Alter gar nicht zusammen. Und überhaupt nicht, es geht eben nicht. Das habe ich Ihnen jetzt sagen müssen, weil ich Sie besser kenne und besser weiß, was jetzt in Ihnen vorgeht, als Sie selbst. Sie werden sich vielleicht ein wenig wundern über mich und vielleicht ein paar Tage recht ärgerlich auf mich sein. Das kann ich nicht ändern. Dann aber werden wir noch viel bessere Freunde werden, als wir schon sind, und es wird alles noch viel schöner sein. Aber da sind wir ja schon!« Die Lampen des Wagens flackerten gelb, die wartenden Pferde scharrten. Lustig sagte sie: »Also nehmen Sie das nicht tragisch und denken Sie einmal ein bißchen darüber nach! Vielleicht war es übrigens gar nicht nötig. Aber schaden kann's ja nicht. Vor allem muß man wissen, wie man mit einem steht. Verwirrungen sind das schlimmste, Ordnung muß man haben, ich bin auch in meinen Gefühlen eine gute Hausfrau.« Dann wurde ihre Stimme wieder ernst, und ganz leise sagte sie noch: »Lassen Sie uns recht gute Freunde sein! Und immer bessere Freunde werden, die sich gegenseitig ein bißchen das Leben tragen helfen, wenn es möglich ist. Wollen Sie?« Sie gaben sich die Hände. Und sie sagte noch: »Und wer weiß? Wer weiß?« Er half ihr in den Wagen. Als sie neben der grinsenden Alten saß, sagte sie mit veränderter Stimme: »Aber heiraten, Herr Bezirkshauptmann, ist immer eine Dummheit. Glauben Sie mir! Alles andere würde ich Ihnen eher raten.« Er hörte sie noch lachen. Er sah ihr nach. Ganz klein war ihre zierliche feste Gestalt neben der schweren schweigsamen Alten.

Die nächsten Tage sahen sie sich nicht. Sie ließ sagen, sie hätte wieder ihren dummen Kopf. Am dritten Tag hielt er es nicht mehr aus. Er fuhr auf dem Rad nach der Lucken. Es war heiß, die Bäume standen starr, die Berge rauchten. Ein brauner Qualm war um die Sonne, die zu sieden und zu dampfen schien. Den ganzen Sommer war es nicht so heiß gewesen. Und Klemens wunderte sich, wie still alles war. Kein Vogel regte sich, nirgends ging ein Mensch, die Luft selbst schien ihren Atem anzuhalten. Wie wenn rings alles erschlagen läge. Heiß war ihm, und er fuhr mühsam, in einer dummen Angst um sie. Er freute sich aber, ihr Zimmer zu sehen. Er wünschte sich das schon lange.

Er rief zum Fenster hinauf. Niemand antwortete. Er klopfte. Die Türe war verschlossen. Der Schmied wußte nichts. Endlich kam die Alte. Die Baronin sei krank. Aber er ließ sich nicht abweisen. Er werde sich eher vor ihrer Türe hinlegen und warten; wenn's sein muß, die ganze Nacht! Er hörte drinnen Stimmen und Schritte. Dann kam die Alte wieder und bat ihn, vor dem Hause zu warten; die Baronin ziehe sich nur erst an. Bald trat sie lächelnd auf ihn zu, ganz hell und froh. »Lieb ist das von Ihnen«, sagte sie. »Kommen Sie! Wir wollen in unseren Wald.« Schon lief sie voraus, der Halde zu. Er fragte besorgt nach ihrem Zustand. Sie lachte. »Ach, es ist nur wieder das Wetter! In meinem dummen Kopf blitzt's und donnert's schon seit zwei Tagen. Kommen Sie, kommen Sie!« Er holte sie ein und sagte: »Es kommt auch heute sicher was.« Sie schrie laufend: »Gleich wird es dasein!« Sie zeigte zum Himmel, der in Ruß und Asche lag; plötzlich war die Sonne verloschen. Er streckte die Hand aus und sagte warnend: »Ich habe schon einen Tropfen.« Sie schrie: »Kommen Sie nur, kommen Sie! In den Wald, in den Wald!« Schon hörten sie den schweren Regen mit großen klatschenden Tropfen in die Steine schlagen. Unten in den Ställen stieß brüllend das Vieh. Sie schrie wieder, doch verstand er sie jetzt nicht mehr, der Wind riß ihr die Worte weg. Sie waren kaum im Walde, da brachen die schwarzen Wolken auf, sie standen in einem ungeheuren Strom, über ihnen war der schwarze Strom, und rings um sie war der Strom, und aus der schwarzen Erde schien der braune Strom zu steigen, und überall strömte der schallende Strom, und jetzt riß er auch das Dach der großen alten Bäume durch. Sie lachte und hielt den schlagenden Bächen die Wangen hin und schrie vor Lust. Aber da standen sie plötzlich in Feuer. Blitz um Blitz; und ein ungeheures Krachen, als hätte der rasende Strom in jedem Tropfen der stürzenden Bäche ein wutheulendes Maul. Wieder schrie sie, jetzt vor Angst. Er nahm ihre Hand und zog sie, laufend. »Wir sind gleich in der Hütte!« Sie fiel. Er trug sie. Eine Holzhütte war es. Sie lag, er trug Streu her und bettete sie. Sie hielt ihre Hand auf dem stoßenden Herzen. Ihm war bang um sie. »Drut! Was ist denn? Sagen Sie doch ein Wort! Hier kann uns nichts geschehen. Und jetzt ist es ja auch gleich vorbei. Der Donner hört schon auf. Hören Sie? Liebe Drut, sagen Sie doch ein Wort!« Sie sagte kein Wort, ihre kleine feste Hand war auf das Herz gepreßt, ihr Gesicht war fahl, das nasse Haar hing herein, ein Lächeln war an ihrem armen Mund, die Augen standen auf. Plötzlich war der Donner still. Nun hörten sie nur noch das eintönige tiefe Rauschen. Und noch einmal ein Schnauben in der Ferne. Und noch einmal ein Ächzen in den Ästen. Und dann war der Sturm fortgeflogen. Alles schwieg, nur das Wasser sang. Er kniete neben ihr. Es war ihm unheimlich, daß sie noch immer nicht sprach. Sie lag, und ihre lachenden Augen sahen ihn an. Er strich ihr das nasse Haar aus der Stirne. Da lachte sie, und sie küßten sich.

Als sie dann ganz still durch den nassen Wald gingen, blieb sie plötzlich stehen und sagte: »Und da hat der liebe Gott erst Sturm und Donner schicken müssen, bis wir uns fanden, wir zwei großen Kinder.« Klemens sagte: »Ich hab dich lieb.« Sie gingen wieder stumm, dann sagte sie nach einer Weile noch; »Ein bißchen lieb haben, ja. Und wär's auch nur ein paar Tage.« Erschreckt sah er auf. Sie lachte. »Ach! Bei euch Männern weiß man doch nie!« Er aber sah nur ihre frohen Augen. Dann nahm sie seinen Arm, und ihr kleiner Leib schmiegte sich an ihn und still gingen sie heim, durch den lautlosen Wald.


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