Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Auf der Bank, die Wand des kahlen Zimmers entlang, saßen die Kranken des Doktors Tewes. Verhärmte Frauen in Fetzen, ein alter Bauer, an seiner kalten Pfeife nagend, Kinder mit verbundenen Augen. Sie saßen stumm und starr, nach der Tür sehend, zum Zimmer des Arztes hin. Ein Kind fing hustend zu wimmern an. Die Mutter sagte: »Der Herr Doktor wird dir was verschreiben, dann is gleich alles gut.« Das Kind röchelte. Der alte Bauer sagte höhnisch: »Na, na! Z'erst kimm jetzt dann i! Da gibt's nix, jetzt kimm i!« Und er lachte spuckend. Das Kind weinte, bis es wieder husten mußte. Die Mutter nahm es und sprach ihm leise zu. Dann war es in dem leeren weiten Zimmer wieder ganz still. Die Kranken saßen auf der Bank, die Wand entlang, sahen nach der Türe und hörten sich atmen.

Als die Baronin eintrat, standen die Kranken auf und rückten zusammen. Die Baronin nickte; mit ihren blinzelnden Blicken suchte sie das Zimmer und die Kranken ab. Sie wollte sich nicht setzen. Ihre harte, kleine Hand strich über das enge glatte Kleid, wie um die Luft der Kranken abzustreifen. Sie ging zum offenen Fenster. Draußen stand der Nebel dick und gelb. Sie neigte sich vor, die Nase rümpfend, schnuppernd. Ein schwammiger Dunst war im Zimmer, naß roch es aus dem dampfenden Garten. Sie schüttelte sich, ging zur Türe zurück und trat in den Flur, um die Köchin zu suchen, die sie gleich dem Doktor melden sollte, sie hätte keine Zeit zu warten. Die Köchin wollte nicht; es wäre ihr ausdrücklich verboten. Die Baronin wurde zornig. »Sagen Sie dem Professor nur, es ist die Baronin Scharrn! Und sagen Sie, daß es dringend ist! Für mich gilt das Verbot nicht, schnell! Er wird sonst sehr bös auf Sie sein! Sagen Sie nur, die Baronin Scharrn! Wird's?« Und sie schob die noch immer unwillig und ängstlich zögernde Person zum Doktor hinein.

Der kleine Doktor Tewes schoß aus dem Zimmer. »Was haben Sie? Zeigen Sie! Wo denn?« Sie sagte lachend: »Lassen Sie mich nur erst hinein, lieber Professor! Dann sollen Sie gleich alles hören.« Sie wollte zur Türe, indem sie noch sagte: »Ich bin die Baronin Scharrn. Sie kennen mich doch? Nicht?«

Tewes, vor seiner Türe wachend, wurde heftig: »Was fällt Ihnen denn ein? Ich habe gemeint, Sie hätten sich den Fuß gebrochen oder, oder –« Und er schrie die Köchin an; »Dumme Gans! Wie oft soll ich dir noch –? Wirst du dir das nie merken, daß –? Dumme Gans!« Die Köchin verteidigte sich: »Wann sie aber doch g'sagt hat, daß es so dringend wär, und wie kann man denn eine Baronin unter die Bettelleut warten lassen? Das is doch meiner Seel eine Schand! So viel Einsehen mußten's schon auch haben, Herr Doktor!« Der Doktor schrie »Dumme Gans!« Plötzlich aber sagte er, sehr höflich, zur Baronin: »Wollen Sie sich gefälligst so lange gedulden, bis die Reihe an Sie kommt! Bedaure sehr.« Und zappelnd schoß er in sein Zimmer zurück, zornig die Türe zuschlagend.

»A Narr is er halt«, sagte die Köchin gelassen. »Da gibt's nix. Dabei meint er's aber gar nöt so bös. Bloß wiar ans a weng anständiger anzogen is, kriegt er sein Raptus. Ja, mein! Je g'scheiter, daß oans wird, um desto dümmer is's oft z'letzt. Kannst nix macha!«

»Rufen Sie mich,« sagte die Baronin, »wenn es soweit ist. Ich will lieber im Garten warten.«

In gelbem Qualm lag der Garten, die nassen Wege waren braun, mit nackten Ästen griffen die grauen Bäume aus. In der Wiese standen Krähen, die schwarzen Schwänze gestreckt, pickend zwischen die fahlen Stoppeln geduckt. Wie Schleim war die klebende Luft. Drut ging ungeduldig, ihr Schritt glitt im glitschigen Schmutz des faulenden Laubs, ihr wurde heiß. Manchmal nickte sie leise, den Mund öffnend, das Kinn vorgepreßt. Sie wiederholte sich alles noch einmal.

Die Köchin kam mit einem Stuhl. »Vielleicht, daß sich die Frau Baronin lieber setzen mecht! Es kann schon noch an Eichtl dauern. Und mir san halt gar nicht eing'richt auf bessere Leut. Mein Gott, nöt wahr, der Herr Doktor hat's ja nöt nötig. Er macht's ja mehr bloß noch zu sei'm Vergnügen. Ja, wann der Mensch halt älter wird, woaß er z'letzt schon gar nimmer, was er eigentli mecht. Es is a Kreuz. Und so an ausgezeichneter Mann, wie der amal war, wann ma denkt! Aber seit er's halt jetzt nöt mehr nötig hat! Dös is gar nöt guat für an Menschen, da wird oans bloß völli a Narrendattl davon, mit der Zeit.«

Drut setzte sich. Die Köchin gab ihr einen dicken alten Plaid um und fuhr fort, über ihren wunderlichen Herrn zu klagen. »Und was hat er davon? Koan ordentlicher Mensch kommt mehr her zu uns, denn natürli, es graust ja oan jeden, wann er das Glümp von rotzigen Kindern siecht, wer vertragt denn das? Gar wenn oans krank is, wo der Mensch ohnedem no heikliger wird! Und natürli, die armen Leut selber haben schon a koa Vertrauen mehr zu ihm. Natürli, woher denn, wann's segn, daß das ein Dokter is, zu dem nöt ein einziger besserer Mensch mehr kommt? Wann aber erst's Vertrauen fehlt, da is 's scho aus bei an Dokter, natürli. Alsdann, wer no an luckerten Heller hat, geht lieber zum Doktor Mozl. Zu uns kommen's schon rein nur mehr zum Bedeln her. An anders traut sich ja gar nöt mehr her, selbst wenn's mecht, weil's ja förmli a Schand is, wann aner zu uns kommt. Ui je, sagen's glei alle. Und dann is auch ein Fehler, daß er nix verschreibt. Das kalte Wasser und die frische Luft soll all's macha. Wann ma auf ihn hörat, brauchaten die Menschen bloß nackad umanand zu spazieren, und wanns dann noch a weng pritscheln, war all's gut. Ja, da is ma aber do heut aufm Land a scho weiter, das vergißt er. Und wann ma scho in oaner Famili a Krankes hat, möcht ma ihm do was vogunnen, nöt? Selm 'm Vieh gibt ma was ein, no da will do a menschlichs G'schöpf a a wengerl regardiert werden. Dös kann man den Leitn nöt verübeln, moanat i, selbst wanns arm san. Dös tut ihnen halt weh, wann ma's ihnen gar a so zum Verstehn gibt, daß 's arm san und deswegen 's Wasser und die frische Luft gnue für ihnen sein muaß. Und natürli, was g'schiacht? Was tains? Da wanens dem Doktor was vor, bis 's ihm leid tain, no und a guater Mensch is er ja, dös woaß a jeds, und da schenkt er ihnen was, und was tains damit? Mit sein'm Geld laufen's nachat g'schwind zum Doktor Mozl hin. Oder glei zum Jautz, in d' Awarteken, daß er ihnen was verschreibt. Der Jautz sagt, er wünscht sich gar kan bessern Dokter. Wann i aber nachher fuchti werd und sag ihm's, daß 's sei Geld zum Mozl tragen, da lacht er noch. Da gibt's do wirkli nix zum Lacha! Wann si aber do no a rechtschaffener Mensch amol zu uns verirrt, no dös ham's ja jetzt sölm g'segn, Euer Gnaden, wia er nachher is! Es is a Kreuz, Deswegen derfen's aber nöt schlecht von ihm denken, er moant's gar nöt so. Und i wer ihm's scho heut abends sagn, daß er sich schama sollt! A i schenk ihm nix, i wer iehm scho dö Meinung sagen, aber was nutzt's nachat? Er hört ma zua und nachat lacht er! Alsdann, was soll i den tain? Mei Gott! I kann ihn dert auf seine alten Tag nöt alloan lassn, der mecht schen ausschaun! Wann do de Unrechte kemmat, jessas, dös tragat iehm 's Haus überm Kopf und unter die Füaß weg, und er mirkat nix! Na, na! Und nachat hat er mi ja in sei Testament g'sötzt, dös muaß ma sich halt a für was rechna. Aba manchmal braucht ma scho a himmlische Geduld mit iehm! Sagn eh im ganzen Ort, daß 's nöt ganz richtig is bei iehm, im Oberstüberl, wissen's! No mi geht's ja nix an. Und der Herr Pfarra sagt a, es macht nix, i sollt nur aushalt'n bei iehm, daß wenigstens sei Geld amal in die richtigen Händ kimmt! Do, sagt der Herr Pfarra, wern ma dann scho schaun, was sich für iehm macha laßt. Eigentli is er ja do a seelenguater Mensch, es steht bloß all's aufm Kopf bei iehm, grad umkehrt, z'erst keman die Viecher, und dann keman die armen Leut, dann keman die kranken Leut und nachat keman erst die andern dran bei iehm, grad umkehrt, als wie 's wirkling is, grad die verkehrte Welt! No, mi geht's ja nix an.«

Endlich konnte die Baronin vor.

»Also, wo fehlt's?« fragte Doktor Tewes.

»Kennen Sie mich?« fragte Drut, ihre Jacke ablegend.

»Nein«, sagte der Arzt.

»Nein?« sagte Drut auflachend. »Der ganze Ort beschäftigt sich bloß noch mit mir.«

»Aber ich beschäftige mich mit dem Ort nicht mehr«, sagte er.

»Ich bin die Baronin Scharrn«, sagte sie.

»Und?« Er sah sie fragend an.

»Sind Sie mit Ihren andern Patienten jetzt fertig?« fragte sie.

»Ja.« Er wusch sich die Hände.

»Es ist niemand mehr da?«

»Nein.« Er räumte sein Werkzeug in den Kasten ein.

Sie setzte sich, »Haben Sie ein bißchen Zeit für mich?«

»Solange es nötig ist.«

Nach einer Weile sagte sie leise: »Ich möchte mich nicht bloß an den Arzt wenden, sondern an den –« Sie sah auf, seine Augen suchend. »An den Menschen. Wie ich Sie mir vorstelle, kann ich das.«

Er schwieg. Sie fragte: »Kann ich das?«

Seine Stimme war ärgerlich, als er antwortete: »Meinen Sie, daß ich in der linken Rocktasche den Menschen, den Arzt in der rechten habe? Und rechts kostet's drei Kronen, links aber fünf? Oder wie denken Sie sich das eigentlich?«

Sie sah von ihm weg, mit achtlos durch das Zimmer gleitenden Blicken, und sagte leichthin: »Und kann ich sicher sein, daß das, was ich Ihnen sagen werde oder was ich Sie fragen werde, unter uns bleibt?«

»Wir haben ein Berufsgeheimnis.«

»Ja«, sagte sie, mit einem leeren Ton leiser Enttäuschung.

»Übrigens kann ich es Ihnen ja noch ausdrücklich versprechen.«

Sie fragte: »Darf ich das Fenster schließen? Der Nebel drückt mich. Und es dunkelt auch schon.«

Er schloß das Fenster und machte Licht.

»Und,« sagte sie, »es strengt mich an, wenn Sie in einem fort durch das Zimmer gehen, statt bei mir zu sitzen. Ich bin ein bißchen müd, von dem langen Warten.«

Er setzte sich, ihr gegenüber, das verquälte zerrissene Gesicht gesenkt.

»Ich war mit einem preußischen Baron verheiratet, der im Irrenhaus gestorben ist. Jetzt bin ich den dritten Monat hier, in der Lucken oben. Ich kenne die Hofrätin Zingerl und habe durch sie ihren Neffen, den Bezirkshauptmann Baron Furnian, kennengelernt. Sie werden wohl über uns reden gehört haben. Man klatscht genug.« Sie hielt ein. Endlich sagte er kurz: »Ich habe davon gehört.«

»Ich möchte Sie bitten, dem Baron Furnian meinen Besuch zu verschweigen.«

»Ich sehe den Bezirkshauptmann sehr selten«, sagte er. »Und wenn wir uns sehen, gehen wir aneinander vorüber. Wir haben uns nichts zu sagen.«

»Er soll nichts davon erfahren«, sagte sie. »Diese Bedingung muß ich stellen. Er könnte das mißverstehen.«

»Von mir wird er nichts erfahren.«

Sie nickte. Dann fragte sie: »Darf ich den Schirm von der Lampe nehmen? Ich habe gern das Zimmer hell.«

Er nahm den Schirm von der kleinen Lampe. Jetzt konnte sie seine jungen Augen sehen.

»Im ersten Jahre meiner Ehe war ich sehr krank. Und als es vorüber war, sagten mir die Ärzte, ich dürfte kein Kind mehr kriegen; denn dies würde mein Tod sein. In solchen Fällen ist es doch erlaubt, eine Frau auf alle Weise zu retten, nicht wahr?«

Sie wartete. Der Arzt saß unbeweglich, über den Tisch vorgebeugt, die Nägel seiner Finger betrachtend. Ihre stille Stimme klang weich und lieb, als sie dann sagte: »Der Mensch ist ja seltsam. In bösen Stunden wünscht man sich schon oft, es wäre lieber alles vorbei, und ruft den Tod. Wird's aber dann einmal Ernst, so merkt man erst, wie man doch am Leben hängt, mit allen Fibern.« Und ein wenig kokett sagte sie noch: »Ich bin gar nicht tapfer.« Dann wartete sie. Er regte sich nicht, auf den Tisch sehend. Jetzt wurde ihre Stimme hell, und sie sagte lustig: »Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, lieber Professor. Wissen Sie, daß man Sie hier im Ort gar nicht besonders mag? Sie sind den Leuten ein bißchen unheimlich. Und da hatte ich, wenn man von Ihnen sprach, immer schon den Wunsch, Sie kennenzulernen. Ich kann eigentlich gar nicht sagen, warum. Ich weiß es selbst nicht. Es war nur immer schon das Gefühl, nach allem, was ich über Sie hörte: der muß ein wirklicher Mensch sein; und einer, der die Menschen in ihrer Not versteht; und einer, der bereit ist, ihnen zu helfen, auch wenn die anderen sich abwenden.« Und ganz leise sagte sie dann noch, die Hand vor den Augen und die Finger auf die geschlossenen Lider drückend: »Und so einen würde ich jetzt brauchen.«

Der Arzt sah sie nicht an, als er fragte: »Und den Bezirkshauptmann rechnen Sie nicht dazu?« Da sie schwieg, stand er auf und sagte, nachdenklich durchs Zimmer gehend: »Nun ja.« Dann erinnerte er sich. »Entschuldigen Sie! Ich vergaß, daß es Sie nervös macht. Bitte!« Und er setzte sich wieder zu ihr.

Sie sah ihn an und sagte: »Es kann aber sein, daß ich mich getäuscht habe. Sie wären sehr empört, wenn jemand es einen Menschen entgelten ließe, daß er schlecht angezogen ist. Selbst aber haben Sie Mißtrauen, wenn man gut angezogen ist. Mir scheint, es kommt auf dasselbe hinaus. Meinen Sie nicht? Oder hätte ich besser getan, mich als schmieriges Bauernweib zu verkleiden, in solchen Lumpen?« Sie wies verächtlich zum andern Zimmer hin. Das Haar war ihr aufgegangen, der aschblonde kleine Schopf schlug ihr in die zornige Stirne, sie strich ihn zurück.

»Sie haben recht«, sagte der Arzt. Die Lampe schien auf seinen großen grauen Kopf mit den rastlosen Augen, der platten Nase und dem zärtlich verlangenden Mund. Sie sah diesen Mund und sagte: »Warum verstellen Sie sich? Warum haben Sie Angst, sich mir zu zeigen, wie Sie sind? Wenn Ihnen ein Hund zuläuft und Ihnen die Hand leckt, weil er einen Dorn in der Pfote hat, dem werden Sie helfen, da fragen Sie nicht erst! Ist's denn gar so schwer, einem Menschen zu trauen? Sitzen wir denn wirklich alle hinter Schloß und Riegel fest, und keiner kann zum anderen hinein?«

Er saß mit verschränkten Armen, den Kopf gesenkt, und nickte nur immer, und sein zerklüftetes Gesicht wurde hell.

Sie wechselte plötzlich den Ton und sagte lustig: »Also einigen wir uns! Der Mensch fängt nicht erst beim Baron an. Aber daß er beim Baron aufhört, stimmt auch wieder nicht. Nicht immer, lieber Professor! So bequem ist das Leben nicht eingeteilt. Sie müssen sich schon etwas umständlicher bemühen, tut mir leid!«

»Verstehen Sie denn aber nicht,« sagte der Arzt, beschämt und aufgeregt, »verstehen Sie nicht, daß, wenn man hundertmal enttäuscht oder verkannt, hundertmal mit seinem vollen Herzen abgewiesen und noch ausgespottet worden ist, verstehen Sie nicht, daß man dann schließlich –«

»Aber natürlich«, sagte sie lachend. »Ich bin Ihnen ja deshalb auch keineswegs bös. Ich mußte nur ein bißchen stark anklopfen, nicht wahr? Aber jetzt haben Sie mir ja aufgetan.«

Er sah sie jetzt nur immer an und nickte mit seinem großen grauen Kopf und lachte still in sich hinein. Und dazwischen sagte er manchmal: »Merkwürdig, merkwürdig.« Und plötzlich nahm er ihre kleine harte Hand und drückte sie lachend und sagte: »Zu merkwürdig ist das doch, nicht? Zu merkwürdig, zu merkwürdig.«

»Was denn?« fragte Drut vergnügt. »Was wundert Sie denn gar so?«

Er hielt ihre Hand und beugte sich vor, und so sah er in ihr Gesicht hinauf, wie um sich allmählich erst zurechtzufinden. Und er schüttelte sich wieder und lachte wieder und sagte: »Man denke doch nur! Zu merkwürdig ist das Leben! Sitzt man da und ahnt nichts, und plötzlich rauscht Euer Hochgeboren herein wie der Hochmut selbst, der Hochmut in höchsteigener Person, stänkert mir die Bude mit seinem verruchten Patschuli voll und . . . und plötzlich . . . eben als man sich wehren und sein Hausrecht nehmen will, ist's, ist's . . . als wär's ein liebes Menschenkind . . .?« Er hielt plötzlich ein, fragend wurde seine Stimme, sein Gesicht erlosch. Er ließ ihre Hand los, neigte sich noch tiefer vor und, indem sein verwüstetes Gesicht wieder die tiefen Schatten von Gram und Hohn und Angst bekam, sagte er traurig: »Und wenn's auch wieder nur eine Täuschung war, einmal mehr, was liegt daran? Einen Augenblick hat's einen doch gefreut. Man darf nicht unbescheiden sein.«

»Sie sollten einmal zum Doktor Tewes gehen«, sagte sie lustig.

»Wie?« fragte er, erstaunt und fast erschreckt.

»Um sich von ihm behandeln zu lassen.« Sie sah ihn mit ihren müden Augen mühsam an, »Denn Sie sind krank, vor Mißtrauen.« Und leichthin sagte sie noch mit einem hohlen Lächeln; »Das kann recht arge Folgen haben, wenn man nicht beizeiten was dagegen tut.«

Nach einiger Zeit sagte er, indem er mit der Hand sein verwüstetes Gesicht rieb, wie um die bösen Gedanken abzuwischen: »Sie wollten doch etwas von mir?

Scharf sagte sie: »Ja, Herr Professor! Ich will Sie konsultieren.«

Er stützte den Arm aufs Knie und drückte den Kopf in seine Hand. Indem er so, horchend vorgebeugt, saß, sagte er: »Bitte.«

»Noch einmal ein Kind zu kriegen, haben die Ärzte gesagt, wäre mein Tod. Jetzt helfen Sie mir, am Leben zu bleiben!« Sie sagte das ganz einfach, mit ihrer stillen weichen Stimme.

Der Arzt sprang auf. Er stand ganz dicht vor ihr und warf seinen angelnden Blick in ihre wachsamen Augen. Sie hielt es aus und sagte gelassen: »Ja, Herr Professor! Ja.« Wie ein kleiner Vogel flog ihre helle Stimme durch den stillen Raum. Er wendete sich von ihr ab und ging zum Ofen. Hier blieb er, vorgebeugt, mit dem Rücken zu ihr. Nach einiger Zeit hörte er sie sagen: »Es wäre ganz einfach, ich könnte ja auch zum Doktor Mozl gehen, jeder Arzt hat doch die Pflicht, mich zu retten. Aber soll am nächsten Tag der ganze Ort wissen, daß ich ein Kind vom Bezirkshauptmann habe? Und vor allem will ich nicht, daß er es erfährt.« Sie schwieg. Er stand am Ofen, von ihr abgekehrt. Plötzlich sagte sie noch: »Laßt mir doch mein bißchen Glück! Wenigstens noch bis über den Winter. Dann will ich wieder weitergehen.«

»Aber warum lügen Sie mich an?« sagte der Arzt.

»Ich lüge nicht«, sagte sie ruhig.

»Kind, Kind!« Der Arzt rannte durch das Zimmer. Sie saß still. Er rief: »Aber natürlich, das ist doch klar!« Sie wartete. Endlich kam er, rückte seinen Stuhl neben ihren, setzte sich, nahm ihre Hand und sagte: »Kind, nun wollen wir einmal wie zwei vernünftige Menschen miteinander reden. Schämen Sie sich nur nicht vor mir, ich kann das alles ja so gut begreifen! Liebes, armes Kind! Also hören Sie zu! Sie haben Angst, ein Kind zu kriegen, weil Sie fürchten, ihn dadurch zu verlieren. Nicht wahr? Sie glauben, er wird sich drücken, wenn aus dem Abenteuer Ernst wird. Und nun müssen Sie doch aber um Himmels willen –«

»Nein«, sagte sie langsam. »Nein, Herr Professor! Das ist es wirklich nicht. Sie tun auch Klemens Unrecht. Er würde sich nicht ›drücken‹, wie Sie's nennen. Deshalb gerade will ich ja nicht, daß er überhaupt von meinem Zustand erfährt, weil er mich dann sicher heiraten würde. Ich weiß aber, daß ich nicht die Frau für ihn bin. Und ich wünsche mir auch gar nicht, noch einmal zu heiraten. Es wäre weder für ihn noch für mich gut. So wie es jetzt zwischen uns beiden ist, das ist etwas Wunderschönes, so möchte ich mir es noch eine Zeit erhalten. Und dann soll's lieber ganz aus sein. Zur normalen bürgerlichen Ehe paßt er so wenig als ich. Und wir beide zusammen schon gar nicht. Pläne solcher Art also, die ein Kind stören könnte, habe ich keine. Hätte ich sie, so würde mir, wie Klemens ist, ein Kind dabei nur helfen können. Also fabeln Sie sich da nichts zusammen, sondern glauben Sie doch, was ich Ihnen sage! Nach der Aussage der Ärzte darf ich kein Kind mehr bekommen. Nur dies ist es, was mich zu Ihnen führt.« Lange wartete sie. Er verharrte schweigend. Endlich sagte sie: »Und jetzt will ich bloß hören, ob Sie bereit sind, mir zu helfen, ja oder nein.«

Er schoß auf sie zu und, ohne sie anzusehen, sagte er, dicht neben ihr: »Die Ärzte, von denen Sie das haben, sind Schwindler, erstens: Kein Arzt kann das mit Sicherheit wissen. Und zweitens –« Er rannte weg, durch das Zimmer auf und ab.

»Und zweitens?« fragte Drut.

Er blieb stehen und sagte langsam, jedes Wort wägend: »Meine Meinung ist, meine Meinung . . . daß ein Kind, ein neuer Mensch, ein Anfang, wichtiger ist. Das Kind ist wichtiger. Ich würde das Kind retten.« Die Furchen und Risse des zersprungenen Gesichts zuckten, es stieß ihn vor Erregung. »Ich wäre grausam. Ich könnte mir nicht helfen. Mag es roh sein! Aber nur das Kind, das Kind! Was liegt an uns? Wir sind doch nur ein Durchgang zur Zukunft! Was liegt an uns?«

Sie lachte laut auf. Er sah sie betroffen an. »Verzeihen Sie!« sagte sie, »wenn ich da nicht Ihrer Meinung bin! Mir liegt sehr viel an mir! Lieber Professor, mir liegt alles an mir! Die Zukunft und die Menschheit und die ganze Welt mit Sonne, Mond und Sternen interessieren mich nicht im mindesten, wenn ich nicht mehr dabei sein soll. Sie mögen das sehr klein von mir finden, aber ich habe durchaus kein Verlangen, groß zu sein, wenn's mich meinen Kopf kostet. Verachten Sie mich, ich habe nichts dagegen, aber retten Sie mich! Es ist sehr leicht für Sie, heroisch zu sein, auf meine Kosten.«

Er sagte kleinlaut: »Das kann ich schon auch verstehen. Ja natürlich! Aber –« Er sah plötzlich auf und sagte, gewaltsam Kraft aus sich holend; »Aber ich glaube Ihnen nicht. Das ist es. Reden wir nicht hin und her! Ich glaube Ihnen nicht. Nein, ich glaube Ihnen nicht!«

»Ja dann!« sagte sie kurz, mit einer Bewegung, aufzustehen. »Dann habe ich mich eben in Ihnen getäuscht.«

»Nein«, schrie der Arzt. »Nein.« Er rannte durchs Zimmer, stoßend und fuchtelnd. »Sie mißverstehen mich! Ich meine nicht, daß Sie mich anlügen, nein! Sie lügen mich nicht an, das weiß ich schon. Ich höre Sie doch, Ihre Stimme lügt nicht, nein! Aber sich selbst, das ist es, gewiß lügen Sie sich selbst an! Bitte, bitte!« Und er schoß auf sie zu, nahm ihre Hand und setzte sich wieder. »Hören Sie, hören Sie doch zu! Sie werden mich gleich verstehen. Der Mensch ist schon so. Darin sind wir alle gleich. Nämlich, aber bitte, bitte, hören Sie mich einmal geduldig an!« Er setzte sich zu ihr, ihre Hand in der seinen, und sah sie lächelnd an. »Das glaubt man ja gar nicht, was auch der anständigste Mensch insgeheim für ein Schwindler ist! Er weiß es ja gar nicht, also kann er auch nichts dafür, es trifft ihn keine Schuld. In Ihnen ist jetzt nichts so stark als der Wunsch, sich diese schönen Dinge zu bewahren, nicht wahr? Da kommt plötzlich dieses Kind. Und nun haben Sie Angst! Ich kann mir das schon denken. Wir wollen ja lieber nicht über den Bezirkshauptmann sprechen, Sie lieben ihn, ich kenne ihn kaum, ich weiß auch viel zuwenig, um über ihn urteilen zu können, ich würde ihm sicher Unrecht tun, er mag vielleicht ganz anders sein, als er mir scheint, ich bin ja doch auf der anderen Seite des Lebens, nicht wahr? Aber immerhin scheinen Sie zu fürchten, er könnte, durch dieses Kind plötzlich aufgeschreckt, sich von Ihnen abwenden, hören Sie mich nur einmal ruhig an! Jedenfalls sind diese Dinge, die Sie jetzt erleben, so wunderschön für Sie, daß Sie nur den einen Gedanken haben: so soll's bleiben, nur nichts ändern, nur mir das erhalten! Und da kommt dieses Kind, plötzlich soll nun alles anders sein, eine Gefahr ist plötzlich da, eine Drohung, nicht wahr?«

»Nein, nein!« sagte sie, bittend, sich leise wehrend.

»Hören Sie nur, hören Sie mich doch nur an! Nun hat Ihnen damals ein Arzt dumme Angst gemacht. Gott, ich kenne den Schlag, der immer gleich das Messer wetzt; am liebsten möchten sie den Menschen ganz auskratzen. Das hatten Sie längst vergessen, jetzt aber taucht es plötzlich wieder auf. Ihr Wunsch, verstehen Sie mich wohl, Ihr Wunsch, sich Ihr stilles kleines Glück zu bewahren, dem dieses Kind zu drohen scheint, holt es aus der dunklen Erinnerung wieder hervor. Verstehen Sie mich? Ich meine nicht, daß Sie mich anlügen. Alles, was Sie mir gesagt haben, glauben Sie selbst. Es hat sich in Ihnen so zurechtgeschoben. Aber wahr ist es nicht! Ja, Sie wehren sich gegen mich! Denn Sie wollen, daß es wahr sein soll, weil Sie bloß von dem einen Gedanken besessen sind, dieses Kind, das Ihr stilles Glück bedroht, verschwinden zu lassen. Erschrecken Sie nicht! Es ist so. Ihr habt den Mut, alles zu wagen, nur nicht es bei seinem Namen nennen zu hören.«

Sie riß sich los und sprang auf. »Das hilft mir alles nichts«, schrie sie. »Ich habe solche Angst!« Er sah ihr nach, wie sie durchs Zimmer ging. Sie blieb am Fenster stehen, in die dunklen Läden blickend. »Angst«, schrie sie. »Angst habe ich! Einfach eine wahnsinnige Angst. Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben, sonst weiß ich gar nichts mehr, alles andere ist mir gleich, aber ich will nicht sterben!«

»Nein,« sagte er hart, »das ist es nicht.«

Sie kam langsam, als hätte sie plötzlich die Kraft nicht mehr, sich bis an den Tisch zu schleppen. Sie griff nach ihrer Jacke. »Entschuldigen Sie nur,« sagte sie, »daß ich Sie belästigt habe! Und was habe ich zu zahlen, bitte?«

Er nahm ihr die Jacke weg und sagte: »Menschenskind! Menschenskind! Da rede ich auf Sie los, und man kann reden und reden, und es ist wie in eine Mauer hinein! Wo wollen Sie hin? Was wollen Sie tun?« Sie schwieg achselzuckend.

Plötzlich sagte er in einem anderen Ton, nebenhin: »Übrigens müßte ich Sie ja auch erst untersuchen.«

»Wozu?« sagte sie höhnisch. »Da Ihnen ja doch das Kind wichtiger ist! Nun ja, vielleicht haben Sie recht.«

»Was wollen Sie tun?« wiederholte er drängend.

»Geben Sie mir die Jacke, bitte!« sagte sie.

Er wurde zornig. »Nein. So lasse ich keinen Menschen von mir fort.«

»Wenn es Ihnen Vergnügen macht, sich noch einige Zeit reden zu hören«, sagte sie. »Ich habe Zeit.«

Er sagte bittend: »Ich bin ein alter Mann, ich habe viel gesehen, ich will nichts mehr, ich lasse die Menschen laufen, mir ist alles recht. Und glauben Sie doch ja nicht etwa, daß ich moralische Bedenken hätte! Alles, alles ist recht, was einem Menschen hilft. Nur helfen möchte ich. Ein bißchen helfen können. Im Alter muß man einen Sport haben, zum Zeitvertreib. Marken oder Münzen sammeln, Rosen ziehen, irgendeine stille friedliche Beschäftigung. Lassen Sie mir meine! Lassen Sie sich von einem alten Mann ein bißchen helfen in Ihrer Angst, in Ihrer Not! Was soll ich denn nur sagen, daß Sie mir vertrauen? Aber nun hat sich das bei Ihnen einmal festgesetzt, und da lassen Sie nicht mehr ab, da verbeißen Sie sich nur immer noch mehr, mit Ihrem hysterischen Trotz!«

Sie sagte langsam, die Worte gleichsam ausbreitend, jedes sorgsam glättend: »Ich weiß ja ganz genau, was allein mir helfen kann. Und das wollen Sie nicht. Anders aber ist mir nun einmal nicht zu helfen. Also, was soll ich da noch hier? Mit Worten werden Sie mich nicht heilen. Da sind mir wirklich noch die Ärzte lieber, die gleich das Messer wetzen. Und hätten Sie selbst recht, daß wirklich, wie Sie meinen, alles bloß eingebildet wäre, diese schauerliche Angst um mein Leben, die mich quält, so habe ich doch diese Einbildung nun einmal, und sie quält mich und, eingebildet oder wirklich, ist es doch dieselbe Qual, nicht? Das wollen aber die Ärzte nie verstehen! Und was immer Sie mir nun sagen mögen, ich werde doch immer nur hören, daß Sie das einzige nicht wollen, was allein mir helfen kann, also wozu, wozu? Schade um Ihre Zeit und um meine! Ich muß dann eben sehen, mir anders zu helfen. Oder vielleicht ist mir nicht mehr zu helfen! Darüber will ich dann aber wenigstens Gewißheit haben. Schließlich ein paar Jahre mehr oder weniger, damit muß man sich abfinden können; einmal kommt's an jeden. Nur dies, so von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat den sicheren Tod erwarten müssen, der langsam immer näher schleicht, und man weiß es und zählt sich an den Fingern ab, wieviel einem noch bleibt, und immer weniger wird's, und immer kürzer, bis es kaum noch eine Woche dauern kann und endlich nur noch einen Tag, und dann, weiß man, dann ist es aus, dann bist du tot – nein, das würde ich nicht ertragen! Nein, nein, nein! Lieber alles! Dann lieber gleich –! Aber nur das nicht, nur das nicht, nur nicht dieses langsame Warten auf den sicheren Tod – jetzt schon, bei der bloßen Vorstellung, die mich verfolgt, Tag und Nacht, macht's mich wahnsinnig, denn dann lieber wirklich gleich –! Das war es ja, das hat mich ja hergetrieben. Und es gibt ja nur eins, was mir helfen kann. Und dieses einzige wollen Sie nicht. Also was soll ich dann eigentlich noch hier? Wozu, wozu? Aber wenn Sie darauf Wert legen, mir vielleicht noch einmal darzutun, daß und warum und wie der Menschheit das Kind wichtiger ist, so kann ich Ihnen ja zuhören, wenn's Ihnen Spaß macht!«

Nach einer Weile sagte der Arzt, ratlos: »Lassen Sie uns doch noch einmal alles erwägen! Nicht wahr, es bleibt Ihnen dann ja noch immer frei, zu tun oder zu lassen, was Ihnen gefällt! Ich kann mir aber nicht helfen, ich würde es doch für das beste halten, vor allem zunächst einmal darüber mit ihm zu sprechen!«

»Nein!« schrie sie schrill, mit den Händen abwehrend. »Nein!« Ihre zuckenden Augen standen schief, das Kinn hing vor. Er sagte rasch: »Wir wollen doch nur überlegen, nicht? Es soll ja nichts geschehen, was Sie nicht wollen! Aber überlegen kann man doch, nicht?«

»Nein, nein!« schrie sie. »Wagen Sie es ja nicht, ich warne Sie, Sie wissen nicht, was geschehen kann!«

»Also nein!« schrie der Arzt. Er nahm sie an den Armen und schüttelte sie, ganz dicht an ihrem weißen Gesicht, und zwang ihre blinzelnden und abgehetzten Augen, ihn anzusehen. »Also nein, nein! Sie sollen nicht mit ihm sprechen. Niemand wird mit ihm sprechen. Abgemacht!« Er ließ sie los. Sie fiel schlaff in den Stuhl. Er sagte, sie zärtlich beschwichtigend: »Nein, nein, nein! Es zwingt Sie doch niemand. Wie kann man nur so kindisch sein! Es zwingt Sie doch niemand, wenn Sie nicht wollen!« Und der alte Mann setzte sich zu ihr, nahm ihre zuckende Kinderhand und fragte, ganz leichthin: »Aber warum wollen Sie eigentlich nicht? Es würde mich nur interessieren, Ihre Gründe zu hören, warum Sie eigentlich nicht wollen. Es soll doch alles nach Ihrem Willen geschehen. Aber sagen Sie mir Ihre Gründe! Es kann ja sein, daß ich Ihnen selbst recht geben muß. Vielleicht sehe ich selbst das alles dann ganz anders an. Nicht? Nur Ihre Gründe können Sie mir doch sagen!«

»Ach!« sagte sie, durch die Nase fauchend. »Gründe, Gründe! Ihr Männer wollt immer Gründe! Gegen mein Gefühl ist es. Und wenn es schon sein muß, will ich es allein tragen, ihm wenigstens soll unser stilles kleines Glück ungetrübt bleiben. Und was soll ich ihm denn auch sagen? Daß ich Mutter bin? Und im selben Augenblick aber, daß er mich oder das Kind verlieren muß? Und dann, das alles wäre es ja noch nicht, aber dann wird er glauben, daß er mich heiraten muß. Und dann ist es eben aus.« Sie schwieg. Nach einer Weile begann sie wieder ungeduldig: »Gott, ich kann Ihnen nicht mein ganzes Leben erzählen. Aber ich will ihn nicht heiraten. Wir würden beide sehr unglücklich. Ich will nichts als –« Sie hielt ein und sah den Arzt forschend an. Dann sagte sie ganz leise: »Ich hätte nur den Wunsch, still irgendwo zu sitzen und mich nicht zu rühren, um unbemerkt zu bleiben und doch vielleicht endlich vergessen zu werden, vom Schicksal. Das wäre wirklich noch das einzige! Unbemerkt, unerkannt, ungesehen vom Schicksal. Und dankbar hinzunehmen, was vielleicht noch Gutes oder Liebes einmal still vorüberkommt.« Sie riß sich aus ihrer Stimmung und sagte hart: »Nun, nicht wahr, jeder macht sich so seine kleine Philosophie, nach seinen Erfahrungen! Ich habe mir abgewöhnt, mein Leben bestimmen zu wollen. Das kann das Schicksal nicht leiden, nach meinen Erfahrungen. Da will es sich dann gleich immer stärker zeigen. Und ich habe gar keine Lust mehr, mich noch einmal mit ihm zu messen, um mir das noch einmal beweisen zu lassen. Ich bescheide mich, ich bin zufrieden mit jedem schönen Tag. Den nimmt mir nichts mehr. Mag's morgen dann kommen, wie's eben kommt: ich habe doch heute meinen schönen Tag gehabt. Und das Gefühl, das mich niemals verläßt, das Gefühl, daß man ja nie weiß, ob's nicht vielleicht der letzte war, macht mir ihn nur noch schöner. Aber nun müßten Sie Klemens kennen, um zu verstehen, wie schwer er es mir macht! Der glaubt ja noch, daß man sich das Leben aufbauen kann; und so gern möchte er mir den starken Mann zeigen, der mein Geschick in seine feste Hand nimmt, um uns sicher durch alle Stürme zu steuern, und so weiter, nach diesen alten Redensarten sieht er sich, so sieht er uns, jeden Tag fängt er ja davon an, nur mein Spott schreckt ihn ab, weil ich ihn auslache, und ich muß töricht sein, muß die Launische spielen, die für ein ernstes Gespräch nicht zu haben ist, alles nur, damit er Angst kriegt und doch das ernste Gespräch noch nicht wagt, er fängt ja täglich, davon an, täglich kommt ein Moment, wo er sein feierliches Gesicht macht, und nun soll's losgehen: »Kind, wir müssen nun endlich einmal ernst miteinander reden!« Noch bin ich ihm immer entwischt, denn er weiß ja nicht, daß es dann aus wäre! Gott, kennen Sie solche Menschen nicht, die unfähig sind, einmal eine Stunde froh zu sein, ohne das gleich sozusagen in ein Register eintragen und von Rechts wegen bescheinigen zu lassen, daß ihnen fortan jeden Tag dieselbe frohe Stunde zustehen soll, in alle Ewigkeit? Und solange sie's nicht sicher, solange sie's nicht schriftlich haben, beim Notar abgemacht und auf dem Gericht deponiert, freut sie's nicht! Ich aber glaube nicht mehr, daß man mit dem Schicksal einen Vertrag machen kann. Und verstehen Sie jetzt, wie ich nun einmal bin und wie er nun einmal ist, daß ich meine Gründe habe, jenes ernste Gespräch zu vermeiden, das mir alles zerstören wird? Denn dann ist es aus, dann kann ich wieder weitergehen.« Sie lachte höhnisch. Und dann sagte sie, die starken Brauen an die tiefe Furche drängend: »Ja, nun wundern Sie sich und sind wieder mißtrauisch! Weil ich Ihnen zu klug bin, was? Zu bewußt! Eine Frau darf ja nicht nachdenken, eine Frau soll nur so durchs Leben tappen! Sonst ist sie euch gleich verdächtig! Aber Sie haben ja meine Gründe hören wollen! Und nun nehmen Sie meinen besten Dank, Sie meinen es mit mir ja sicher gut, das weiß ich schon, es hilft mir nur nichts. Und Ihr Versprechen, kein Wort davon zu sagen, habe ich ja. Keinem Menschen, nicht wahr? Und ihm am allerwenigsten!«

»Gegen ein Versprechen,« sagte der Arzt, »das ich dafür von Ihnen fordern muß.«

»Und das wäre?«

»Eine Woche lang nichts zu tun. Keinen anderen Arzt zu fragen. Nicht nach Wien zu fahren. Eine Woche lang gar nichts zu tun. Auf die Woche kann es Ihnen nicht ankommen.«

»Und dann?«

»Dann? Dann haben Sie entweder Ihren Sinn geändert –«

»Oder?«

»Oder ich will dann, wenn Ihr Sinn unumstößlich bleibt – ja dann will ich es tun. Dann soll Ihr Wunsch geschehen.«

Sie nickte nur. Dann nahm sie die Jacke. Er half ihr.

An der Tür sagte sie: »Auf Wiedersehen also! In acht Tagen!«

Tewes irrte durch das Zimmer und wehrte sich gegen ein häßliches Gefühl. Irgend etwas war in ihm, das ihn warnte. Mach nicht wieder den Vormund von Menschen, die dich nichts angehen! Was sie will, kannst du nicht tun; du hast ihr nein gesagt, jetzt bleib dabei! Willst wieder einmal lächerlich werden? Hast noch nicht genug? Wieder einmal der Helfer sein, um wieder nur Undank zu haben? Und schließlich doch nicht einmal wirklich zu helfen! Nicht einmal das gelingt dir ja, die Menschen verwirren ja doch alles wieder, am Ende stehst du nur wieder beschämt und genarrt! Wie oft denn noch? Hast noch immer nicht genug? Willst wieder der Narr sein? Und für wen? Für eine jener heillosen Frauen, in denen Wahn und Wahrheit so versponnen sind, daß sie schon gar nichts mehr sagen können, ohne zu lügen! Sie ist verliebt und will sich's nicht eingestehen, daß sie ganz genau weiß, wie der Bezirkshauptmann die erste Gelegenheit benützen wird, sich eilig aus dem Abenteuer zu stehlen. Also fort mit dem Kind! Und wären nur vierzehn Tage gewonnen! Und scheut Gefahr und Schande nicht, um nur vierzehn Tage länger zu schnäbeln, scheut vor keinem Verbrechen zurück, zu jedem Opfer bereit, für diesen, wie sagt der Klauer?, für diesen – Schwiehack! Und der darf es aber nicht einmal wissen! Ganz insgeheim soll's geschehen! Um nur ja sein Gewissen nicht zu beschweren! Nur ja das Zartgefühl des Edlen zu schonen! Denn natürlich, sie hat Furcht, daß der Edle die schöne Gelegenheit nicht versäumen wird, sich aus dem Staub zu machen! Aber das gesteht sie sich natürlich nicht ein. Und so wird alles auf den Kopf gestellt: er will sie heiraten, beteuert sie, sie will es nicht. Nein, sie lügt mich nicht an, sie hat es sich so lange vorgelogen, bis sie's schließlich selber glaubt! Um sich nur sein Bild rein zu halten. Rührend sind solche Frauen eigentlich in ihrer Hysterie!

Er riß die Läden und stieß das Fenster auf. Er atmete den nassen leimigen Dampf ein. Ranzig roch die triefende Luft.

Und er höhnte sich: Bist du nun wieder soweit? Ganz wie die Herrn Kollegen auch! Hysterie, ja! Und damit ist's dann erledigt! Ein gemeiner Fall von Hysterie, das ist doch klar, und so geht's dich weiter nichts an! Wenn nur die Diagnose stimmt! Und die Frau mag selber sehen, was aus ihr wird, in ihrer Angst, in ihrer Not! Ganz wie die Herrn Kollegen!

Hätte ihm nur nicht dieses häßliche, hämische Gefühl ins Ohr gezischt, wieder einmal lächerlich zu werden! Hast noch nicht genug? Mußt wieder der Dumme sein?

Ja! Und da rennt ein Mensch vielleicht in sein Elend! Aber dir ist es wichtiger, daß du dich nur ja nicht lächerlich machst! Die Sache könnte dir unbequem werden! Und was geht's dich denn an? Bin ich der Hüter meines Bruders? Die urewige Frage der Menschheit! Und so erbt sich der Fluch fort!

Was soll ich denn aber tun? Der einzige, der ihr helfen könnte, ist Furnian. Und vielleicht, wenn man ihm sagt: Du treibst die Frau zu Verbrechen –! Und soll ich zulassen, durch mein Schweigen, daß er sich dann noch ausreden wird, wenn es zu spät ist: Ich habe ja gar nichts gewußt, warum habt ihr mir denn nichts gesagt? Und dann bin ich der Schuldige, nicht er! Und was will ich antworten, wenn er mich anklagen wird: Sie hätten es mir doch sagen müssen, warum haben Sie mir nichts gesagt? Denn wirklich, wer gibt mir das Recht, diesem Menschen, den ich gar nicht kenne, zuzumuten, daß er die Frau, die er liebt, feige verlassen und sein Kind verstoßen wird? Und er wird ja gar nicht den Mut haben, so feige zu sein, wenn er sich vor mir zu dieser Feigheit bekennen muß! Man darf den Menschen ihre Gemeinheit auch nicht so leicht machen. Wenn er wählen muß, als anständiger Mensch an seinem Kind zu handeln oder aber dafür einzustehen, mir ins Angesicht, daß er kein anständiger Mensch ist, bin ich noch gar nicht sicher, ob nicht die Pose des anständigen Menschen doch stärker sein wird. Die Menschen sind gemein, wenn sie es sein können, ohne es selbst zu bemerken. Ich bin schuld, wenn er an ihr gemein sein wird. Denn mein Schweigen ist es, das ihm dazu verhilft. Und er kann dann noch die Hände ringen und scheinheilig klagen: Hätte ich es doch nur gewußt! Er wird nicht sagen: Gott sei Dank, daß der Mann es mir erspart hat, mich zu meiner Gemeinheit zu bekennen! Er wird es mir nicht danken, daß ich's ihm abnehme. Nein, er wird noch groß dastehen, vor mir und vor sich selbst und auch noch, wenn sie gerettet wird, vor ihr! Und das alles weiß ich und zögere doch, bloß weil es mir unbequem ist, weil ich Unannehmlichkeiten haben oder lächerlich werden könnte, weil es einfacher ist, die Dame fortzuschicken und sich in fremde Dinge einzumischen, besonders in solchen Fällen von Hysterie, wo man doch immer wie im Nebel geht!

Doch dann fiel ihm plötzlich ein: du hast ihr ja aber versprochen, ihm nichts zu sagen, sie hat dein Wort!

Er wurde zornig. Das ist echt! Nur den Ehrenmann spielen, das geht natürlich vor! Du hast die Wahl: vielleicht ein Leben zu retten, indem du dein Wort brichst, oder aber indem du der tadellose Kavalier bist, der sein Wort hält, einen Menschen zu verderben! Und da zweifelst du natürlich nicht, daß es dir doch wichtiger sein muß, tadellos zu bleiben! Was dich außerdem auch noch vor allen Unbequemlichkeiten schützt!

So ging es in ihm herum. Die halbe Nacht schlief er nicht. Schon war er am anderen Tag auf dem Wege zum Bezirkshauptmann, aber ein seltsam warnendes Gefühl hielt ihn noch an der Türe wieder ab. Und wieder entschloß er sich und wieder verschob er es; er konnte sich nicht entscheiden.

Am siebenten Tag aber kam ein Brief von ihr. Sie schrieb an ihn: »Ich will morgen nachmittag gegen fünf bei Ihnen sein. Vielleicht haben Sie die Güte vorzusorgen, daß ich nicht warten muß. Die Woche ist vorbei.«

Da ging der Arzt und suchte den Bezirkshauptmann auf, um ihm alles zu sagen.


 << zurück weiter >>