Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Klemens saß noch immer wie im Traum.

Hatte er denn dem guten Doktor auch recht gedankt? Was hatten sie nur eigentlich abgemacht? War denn der gute Doktor schon wieder fort? Klemens wußte gar nichts mehr. Er konnte sich nicht erinnern. Alles war ausgelöscht. Er wußte nicht, was sie noch alles besprochen hatten. Er wußte gar nichts mehr. Ein großes schwarzes Loch in seinen Gedanken; und alles abgestürzt, und alles andere versunken. Er hätte nicht einmal sagen können, ob er denn den Doktor bis an die Türe begleitet, ob er ihm die Hand gegeben hat. Und es war doch noch keine zehn Minuten her! Er hat vielleicht den Doktor gehen lassen, ohne es auch nur zu bemerken. Er hat sich vielleicht noch gar nicht einmal bedankt. Er konnte sich nicht entsinnen. Er wußte das alles nicht mehr. Er wußte nur noch, daß er Vater war.

Er hörte nur in einem fort dies eine Wort: Vater. Und dieses Wort klang in ihm, einer ungeheuren tönenden Glocke gleich. Vater. Und dieses Wort sprang um ihn, einem ungeheuren tanzenden Lichte gleich. Vater. Überall sah, überall hörte er nur dies eine Wort: Vater, Vater. Und vor diesem hallenden, strahlenden Wort war sein Leben aufgesprungen, wie ein tiefer Schacht, den ein Zauber öffnet, und vergrabene Schätze leuchten plötzlich aus der Nacht. Und jetzt fängt es erst an! Dies alles, bisher, war es noch nicht! Jetzt fängt erst mein Leben an!

Alle die Tage zogen an ihm vorbei, seit sie sich damals dort in der Hütte gefunden hatten; er hörte noch das wilde Wasser, durch den ächzenden Wald. Alle die seligen Tage mit ihr. Immer nur mit ihr. Die paar Stunden im Amt verschlief er; und erwartete die Nacht. Und er lachte die Menschen aus, was wollten sie noch von ihm? Dies alles war doch jetzt so weit weg! Die ganze Welt war weg. Nur er und sie; sonst war nichts mehr da. Nichts mehr als er und sie. Er mit ihr auf der weiten Welt allein. Sie sang ihm einmal ein altes Lied, da hieß es: Ich bin der Welt abhanden gekommen! So war's. Mochten die Leute wispern, im Ort! Er lachte nur. Er wußte doch: ein paar Stunden noch, dann geht die Sonne wieder fort und dann bin ich bei ihr und dann kommt die Nacht! Und sie haben sich! Und nichts mehr denken und nichts mehr wissen und nichts mehr spüren als sie! Und ersticken in ihrem Haar, an ihrem Mund! Und nichts mehr als das Lallen ihrer lechzenden Lust, in der schwarzen lauernden Nacht! Und hinüber, hinüber, bis sie versinken! Und draußen steht die atemlose Nacht. Und sie hören ihre Herzen schlagen. Und es ist wie der Tod. Der Tod hält sie dann in seinem starken Arm, und sie sind erlöst, davon wird ihnen so hell und froh. Bis langsam wieder der Tag ans Fenster schleicht, gelb und grau. Nun müssen sie scheiden. Und sie will ihn nicht lassen, er reißt sich von ihr, sie fleht und lockt und weint, aber dann müssen sie lachen, weil er ja doch in keinen Krieg zu wilden Völkern zieht, sondern bloß in sein Amt, für die paar Stunden, und sie wird jetzt schön einschlafen, und kaum hat sie recht ausgeschlafen, ist schon der Abend wieder da, und mit ihren großen schwarzen Augen schaut die Nacht herein, ihre liebe Nacht! Aber dann, wenn er sich am Morgen von ihr reißt, und er ist kaum aus ihren klammernden Armen fort, er hat noch überall ihren warmen Dunst um sich, er sitzt kaum in seinem Amt, da schreit's in ihm nach ihr, sein Blut schreit auf, nach ihren saugenden Lippen, nach ihren wühlenden Händen, nach ihrem streichelnden Haar. Und er liegt und wirft sich und wälzt sich, auf dem morschen Diwan im Amt, und sieht ihre braunen Brüste drängen und riecht ihre feuchte Haut und hungert nach ihr, bis er in einen starren, leeren, trockenen Schlaf fällt und dann, aufgeschreckt erwachend, wenn der alte Pfandl klopft, sich kaum besinnen kann, was denn nur mit ihm ist, alles sieht so fremd, so fern aus – wo bin ich denn, was ist denn, was wollt ihr denn von mir? Und er weiß nichts, er fühlt nichts mehr als diesen Hunger, diesen kochenden Durst in seinem Blut, nach ihr, nach ihren Lippen, nach ihren Händen, nach ihren Brüsten, nach dem tödlichen Taumel der purpurnen Nächte mit ihr.

Und da rief ihn jetzt dieses Wort an: Vater!

Er hatte weiter gar nichts mehr gehört. Er wußte nichts von allem, was der gute Doktor sonst noch gesagt. Er wußte nur: sie hat ein Kind von mir!

Und er saß immer noch wie im Traum und wußte nichts und regte sich nicht, in seinem namenlosen Glück.

Plötzlich aber sprang er auf und sagte, ganz laut: »Was ist denn, was ist denn eigentlich, was hast du denn nur?« Es tat ihm wohl, seine Stimme zu hören. Er ging ans Fenster. Es hatte nachts gefroren. Der Reif hing noch an allen Ästen, in allen Halmen. Glitzernd war die Luft. Und alles schien erstarrt. Nirgends ein Vogel. Kein Laut, kein Hauch, Alles stand still.

Er rief den Amtsdiener. Er fragte: »Is noch irgend etwas, Pfandl?«

Verwundert sagte der alte Pfandl: »Aber nein, Herr Bezirkshauptmann! Was soll denn sein, Herr Bezirkshauptmann? Es ist alles in der schönsten Ordnung.«

Klemens lachte. »No also! Wenn nur alles in der schönsten Ordnung is! Kommen's her, Pfandl, nehmen's den Schlüssel und sperrn's das Kastl dort auf! Da steht ein Kistl Zigarren, das nehmen Sie sich! Machen Sie sich auch einmal einen guten Tag! Und dann können's gehn, ich werd Sie heute nicht mehr brauchen.«

»Dank schön, Herr Bezirkshauptmann!« sagte der alte Pfandl, nahm die Zigarren und ging. Er hatte sich abgewöhnt, über den Bezirkshauptmann zu staunen. Und wenn die Frau Pfandl das mit der Baronin Scharrn unpassend fand, weil man schon im ganzen Ort Geschichten erzählte, sagte der alte Pfandl: »Laß ihm seine Freud! Wenigstens gibt er dann Ruh.«

Also, sagte sich Klemens, ich träume nicht, ich bin noch nicht verrückt, eben war der Pfandl da, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gehört, er versichert, daß alles in der schönsten Ordnung ist, und auf den Pfandl kann man sich verlassen, also, mein lieber Kle, es ist kein Traum, es ist kein Wahn, man kann dir wirklich gratulieren, es ist kein Zweifel, du bist Vater! Aber, mein lieber Kle, jetzt sag mir nur, was du denn eigentlich hast! Was ist mit dir, auf einmal? Du bist Vater, sagt der Doktor, schön. Hast du dir das eigentlich je gewünscht? Hast du nur überhaupt je daran gedacht? Man weiß, daß einem das passieren kann. Es soll schon öfters vorgekommen sein. Du aber badest dich in Seligkeit! Mein lieber Kle, was fällt dir ein?

Er erinnerte sich plötzlich, daß Döltsch gern sagte: »Der Jurist hat das vor der übrigen Menschheit voraus, daß er alles in den Akten hat. Was immer geschieht, er nimmt zunächst einen Akt darüber auf. Wer sich nur angewöhnen könnte, dieses Verfahren auch auf sein eigenes Leben anzuwenden, hätte es viel leichter. Im ersten Augenblick ist ja der Mensch stets bereit, eine Dummheit zu machen. Bis aber ein Akt aufgenommen ist, ein schöner, gut disponierter, reinlicher Akt, vergeht so viel Zeit, daß man einstweilen wieder zur Vernunft kommt. Glauben Sie mir! Je mehr Akten Sie machen, desto weniger Dummheiten werden Sie machen! Nichts kalmiert den Menschen besser.«

Und Klemens nahm wirklich einen Bogen Papier und tauchte die Feder ein. Nehmen wir zunächst den Knaben auf! Das heißt, lassen wir das noch offen, es kann ja auch mißlingen und bloß ein Mädl werden; so weit haben es die Ärzte ja noch nicht gebracht, das zu bestimmen. Nun aber wollen Herr Baron gefälligst angeben, was Sie so verrückt macht! Schließlich ist ja ein Kind kein so ungewöhnlicher Fall, noch dazu ein uneheliches Kind –

Er warf die Feder weg und sprang auf. Plötzlich war er wieder ernst. Und dieses wunderschöne Gefühl war wieder da, diese tiefe Dankbarkeit, dieses namenlose Glück. Aber jetzt erkannte er es erst, jetzt wußte er erst, was es eigentlich war. Nein, er hatte sich nie ein Kind gewünscht. Was ging ihn das Kind an? Aber sie gehört jetzt ihm! In seinem Kinde hat er sie! Jetzt werden sie heiraten, und alles ist gut! Und sein Vater und seine ganze Kindheit weichen von ihm, dies alles hat dann keine Macht mehr über ihn, und jetzt erst fängt sein eigenes Leben an! Mit ihr allein, von ihr beschützt! Wirklich, so beschützt kommt er sich vor, durch sie! Sicher fühlt er sich, zum erstenmal. Sie werden heiraten, und dann hat er immer sie bei sich, und das wird ihn stark machen, und sein Leben hat ja dann erst einen Sinn, und so können sie die ganze Welt auslachen. Sie haben ein Kind zusammen, sie gehört ihm, sie ist die Mutter seines Kindes. Sie werden heiraten; wer will ihm verbieten, die Mutter seines Kindes zu heiraten? Und dann hat sein Vater kein Recht mehr auf ihn und niemand mehr, dieses Kind schützt ihn, das Kind macht ihn frei. Er hätte sich doch aus eigener Kraft nie befreit. Aber jetzt weiß er, daß er stark sein wird. Er kann jetzt auf alles antworten. Das Kind ist ja da. Er hat jetzt keine Furcht mehr. Er hält allen immer sein Kind hin. Und ihr auch. Wenn sie sich ihm wieder entwinden will, auch ihr. Jetzt ist er stärker als sie. Das Kind hilft ihm ja.

Er hatte sich schon die ganze Zeit sein Leben ohne sie nicht mehr denken können. Aber sie war so seltsam. Sie lachte nur, wenn er vom Heiraten anfing. »Ich bin ja viel zu alt für dich.« Und: »Willst du mich los sein? Ich kenne die Ehe. Es ist das sicherste Mittel, die Liebe zu vertreiben.« Und: »Das müßte schon die ganz große Leidenschaft sein, die einen Winter überdauert. Aber die gibt's bloß in Romanen. Warten wir zunächst den Frühling ab.« Und war er gekränkt und fragte: »So wenig hast du mich lieb?«, dann küßte sie ihn mit ihrem traurigen Mund und sagte: »So sehr hab ich dich lieb!« Und er fühlte doch so stark, daß nur sie seine Frau war, die für ihn bestimmte Frau, von der er immer geträumt und nach der er sich immer gesehnt hatte, immer schon, in seiner bangen Verlassenheit! Aber dann lachte sie wieder nur und sagte: »Das glaubt man immer, es gehört dazu. Und wie oft wirst du das noch glauben! Wenn man aber heiratet, dann glaubt man's nicht mehr.« Und dann begann sie zu spotten: er passe wirklich ins Krätzl, wo man sich auch kein Glück denken kann, zu dem nicht der Pfarrer sein Amen gesagt hat. Und sie verstand nicht, daß es von ihm doch ganz anders gemeint war! Ja, sie hatten sich lieb, dazu brauchten sie den Pfarrer nicht, und ob man im Krätzl über sie wisperte, der Domherr ein langes Gesicht zog und die Vikerl fortgeschickt wurde, wenn sie zur Hofrätin kamen, er pfiff darauf. Aber er hatte sie nicht bloß lieb; das war es, was sie nicht verstand; das andere verstand sie nicht in ihm. Er hatte sie als Geliebte lieb, mit rauchenden Sinnen; dann aber auch noch ganz anders: als die Frau für sein ganzes Leben. Und er hätte sich manchmal fast gewünscht, sie nur so lieb zu haben, nicht mit der rauchenden Liebe, denn dann hätte sie vielleicht daran geglaubt, daß sie seine Frau war, die für ihn bestimmte Frau, die Frau seines ganzen Lebens – er fand ja selbst die Worte dafür nicht, aber er fühlte es doch so stark, und nie verließ es ihn! Doch sie lachte wieder nur und sagte: »Nein, nein! Ich bin schon so ganz zufrieden, wie es ist! Mir ist schon lieber, wir rauchen!« Und da fing er dann immer von seiner armen Kindheit zu erzählen an, und wie er nie noch einen Menschen für sich gehabt, und von seiner Sehnsucht, einmal mit einem Menschen ganz zusammenzusein! Und dann war sie sehr lieb mit ihm und fragte, zärtlich, mit ihren furchtsamen Augen bittend: »Hast du mich denn nicht? Und sind wir nicht ganz zusammen?« Aber er sagte traurig: »Es ist doch nicht dasselbe.« Da wurde sie lustig bös und sagte: »Ach, du fürchterlicher Mann der Ordnung! Muß ich es erst vielleicht beim Herrn Pfandl anmelden, daß wir uns lieb haben?« Und er sagte: »Ja, aber nächstens kommt mein Herr Papa mit einer Braut für mich!« Und sie sagte: »Ach, vor dem Herrn Papa ist mir nun gar nicht bang. Gib acht, auf eins zwei drei verliebt sich der in mich! Und wenn du mich immer quälst, statt lieb mit mir zu sein, nehme ich ihn und werde noch deine Schwiegermama! Ganz rauchlos, was du dir ja gar so zu wünschen scheinst!« Er ärgerte sich und wurde heftig. »Man kann ja mit dir nicht ernst reden!« Da zog sie die bösen Falten zwischen die Brauen, und ihr weißes Gesicht wurde hart, und sie sagte: »Nein, das kann man nicht. Ich habe in meinem Leben so viel Ernst gehabt, daß es mir gerade genügt. Und du hast ja noch Zeit. Warte, bis dein Herr Papa mit der Braut kommt! Mit der kannst du dann ernst sein, soviel du willst! Ich bin ja nur ein Abenteuer. Denke bloß: eine Hochstaplerin!« Er bat ihr das immer wieder ab, aber sie neckte ihn immer wieder damit. Einmal sagte sie: »Schade, daß ich keine bin! Wenn ich eine wäre, wären wir schon verheiratet. Oder hättest du mich dann nicht genommen?« Er antwortete: »Wärst du doch eine! Ich will nur dich, so wie du bist! Ob Baronin oder Hochstaplerin, ist mir wirklich gleich. Und schließlich, wer ist heute kein Hochstapler? Den meisten gelingt es nur nicht. Und ich stell mir es eigentlich sehr lustig vor. Leider hat mich mein Vater das nicht lernen lassen.« Und nun malten sie sich aus, was sie täten, wenn sie Hochstapler wären, und er fand es so verlockend, daß er sich zuletzt fast schämte, leider nur ein kleiner Bezirkshauptmann zu sein. »Läßt sich nicht beides vereinigen?« fragte sie. »Nein«, antwortete er. »Mit der Intelligenz, die zu einem Hochstapler gehört, hält es einer als Bezirkshauptmann nicht drei Wochen aus!« Und so lachten und spotteten sie wieder, und sie war ihm wieder entwischt. Er konnte nicht ernst mit ihr reden.

Jetzt aber wird sie ihm nicht mehr entwischen. Jetzt ist das Kind da. An dem hält er sie jetzt. Und so versteht er nun seine selige Dankbarkeit erst selbst. Jetzt ist es kein Abenteuer mehr, das im Frühling mit dem Schnee zergehen wird. Jetzt ist sie sein, durch das Kind.

Er ging in die Lucken. Der graue Tag war stumm und starr. Die Sonne kam nicht durch. Die Wolken hingen so tief, der Nebel stand so dicht, daß er das Gefühl hatte, in einem sehr niedrigen und engen Zimmer zu gehen. Und kein Laut, kein Hauch; alles erstorben. Nur die Decke des grauen Zimmers schien sich immer noch zu senken, die grauen Wände sich langsam zu nähern. Kalt war's, ihm aber war warm, vor Angst, in den vereisten Furchen auszugleiten. Mühsam kam er vorwärts.

Es fiel ihm ein, daß er gewiß dem guten Doktor noch gar nicht gedankt hätte. Er wird ihn morgen aufsuchen. Übrigens hat ja der Doktor nur seine Pflicht getan. Und eigentlich hat er sich ganz komisch angestellt. So kampfbereit und drohend, in einem Ton, daß Klemens anfangs beinahe grob mit ihm geworden wäre. Auf einmal aber schien er dann ganz verwandelt. Und fast, also ob er ein schlechtes Gewissen gegen Klemens und ihm etwas abzubitten hätte. Gott, der gute Doktor hat ihn offenbar ganz verkannt, er hat das offenbar auch nur für so ein Abenteuer gehalten, aus dem man sich dann, wenn's Ernst wird, fortschleichen möchte! Und eigentlich macht es Klemens ein bißchen traurig zu denken, daß da ein so tüchtiger und redlicher Mensch, wie der Doktor wirklich ist, seit Monaten im selben Ort mit ihm lebt, bloß ein paar Gassen von ihm, und noch so gar nichts von ihm weiß und ihn noch so gar nicht kennt! Natürlich, weil der Doktor ein Roter ist, er aber die Behörde; und da liegt nun jeder hinter seiner Mauer, und keiner kann den anderen sehen. Nicht einmal in diesem kleinen Ort hier, wo man kaum über die Gasse geht, ohne sich zu begegnen, kommen die Menschen zusammen. Und keiner traut dem anderen. Und was immer einer sagt, hilft nichts, weil es doch keiner dem anderen glaubt. Und darin ist der rote Doktor mit all seiner Erfahrung und Klugheit genau so wie nur irgendein verstockter alter Bauer. Jeder sieht im anderen bloß die Klasse, den Stand; nach dem Menschen, der der andere doch schließlich auch noch ist, wird nicht gefragt. Er ist der Bezirkshauptmann, folglich hält es der Bauer für ausgemacht, daß er ihn übers Ohr haut. Er ist der Bezirkshauptmann, folglich hält es der Doktor für ausgemacht, daß er sich gegen eine Frau gemein beträgt. Und kein Mensch hört den anderen auch nur an, und so kann keiner keinen kennen, und jeder ist ungerecht gegen jeden. Und immer, wenn man zufällig an einen Menschen gerät und ihn ganz anders findet, als man sich ihn vorgestellt hat, wundert man sich, aber man lernt nichts daraus, beim nächsten hat man's schon wieder vergessen. Und Klemens ärgerte sich über den Doktor, der bei seinem Alter, seiner Erfahrung, seiner Kenntnis der Menschen das doch endlich schon wissen könnte. Wie kommt er dazu, von ihm zu denken, daß er die Frau, die er liebt, und das Kind, das sie von ihm hat, verstoßen und verlassen wird? Da bist du jetzt ein halbes Jahr hier und hast dich geplagt, den Leuten deinen guten Willen zu zeigen, und hast gehofft, daß sie doch wenigstens den anständigen Kerl in dir spüren werden, und so wenig kennen sie dich! So wenig kennen sie dich noch, daß der gute Doktor, der immer noch klüger als die meisten ist, dir das zutraut! So wenig kennen sie dich, daß er es für nötig hält, dir erst mit großen Worten ins Gewissen zu reden, damit du das tust, was sich für jeden anständigen Menschen doch von selbst versteht! Er wird es dem Doktor aber sagen, wenn er ihn morgen aufsucht! Wie kann der das von ihm glauben? Was gibt ihm das Recht, einen Menschen so zu verdächtigen, den er gar nicht kennt? Nur freilich, der Doktor wird antworten, daß Drut doch offenbar das auch glaubt! Wäre sie sonst zum Doktor gekommen? Und Drut muß ihn doch kennen! Und wenn Drut, die ihn kennt, in ihrer Angst lieber alles wagen will, um ihm nur um jeden Preis zu verheimlichen, daß sie sich Mutter fühlt, wie kann er es dem Doktor verdenken, der ihn nur da und dort einmal auf der Gasse sieht und kaum noch mit ihm gesprochen hat? Drut ist schuld, kann der Doktor sagen; die Frau muß Sie doch kennen, nicht? Und Drut kennt ihn so wenig, daß sie das glauben konnte! Auch sie! Auch sie kennt ihn nicht. Was ist denn nur an ihm, daß alle Menschen immer bloß den frechen Kle in ihm sehen, den er doch nur spielt, aus Angst, ausgelacht zu werden, aus Scham, um sich vor dem Spott zu verstecken, aus Not, weil man ihn doch immer noch, wenn er sich anbot, mit Hohn zurückgestoßen hat? Und auch sie weiß das nicht, auch sie kennt ihn noch immer nicht, auch sie sieht in ihm nur den frechen Kle, für den alles bloß Spiel und Abenteuer ist! So fremd ist er ihr geblieben. In ihren feuchten Armen, an ihren gierigen Lippen, in der letzten Lust ihrer lichterlohen Nächte, wenn sie, verlöschend, nur ein einziger zuckender Leib mehr waren, noch immer so fremd. Wie hat sie nur glauben können? So wenig kennt sie ihn! Und was muß sie gelitten haben, bis es sie trieb, sich dem fremden Arzt anzuvertrauen! Lieber einem wildfremden Mann als ihm! Wie muß sich ihre Scham gewehrt haben, bis sie sich entschloß! Und während sie so litt, war er jeden Tag mit ihr, und er hat nichts gemerkt! Jeden Tag und jede Nacht, und er hat nichts gemerkt! Und sie lagen sich in den Armen und hörten ihre Herzen schlagen, und er hat nichts gemerkt! Wundert er sich, daß sie nichts von ihm weiß, wenn er sie neben sich leiden und vor Angst und Qual und Scham vergehen läßt, und fühlt es nicht und weiß nichts? Vielleicht hat sie jeden Tag gelauscht, jeden Tag und jede Nacht, ob er denn noch immer nichts hört, von ihrer Angst und ihrer Qual und ihrer Scham! Und er hat sie geneckt und hat sie geküßt und hat nichts von ihr gewußt, die lauschend in seinen Armen lag, ob er denn ihre Pein noch immer nicht hört!

Und plötzlich sieht er jetzt ihr weißes Gesicht vor sich, wie neulich einmal: unter den aufgelösten blonden Haaren von einer solchen Wut, daß ihm bang geworden war. Und er hatte sie geschüttelt. »Drut! Was ist? Was hast du?« Aber sie, mit fliehenden Augen, keuchend und knirschend, in seinen Mund lachend: »Ich will doch zu dir! Laß mich doch zu dir!« Und jetzt verstand er ihre Wut, mit der sie sich dann oft auf ihn warf, wie um ihn zu zerreißen! Und er hätte sich jetzt selbst aufreißen mögen, bis sie sein nacktes Herz in ihren gierigen Händen hätte, dann wären sie sich nicht mehr fremd!

Er wundert sich, daß der Doktor ihn nicht kennt? Aber auch sie kennt ihn ja nicht! Und kennt er sie denn? Jetzt erst versteht er sie. Dieselbe Scham, die seine Bitten verstummen läßt, wenn sie spöttisch von der Ehe spricht, hat ihren Mund versperrt. Wie er immer den frechen Kle spielt, vor allen Menschen, aus Angst, sein wehrloses Herz zu verraten, um lieber unerkannt zu bleiben, als wieder in seinem arglosen Zutrauen betrogen zu sein, so versteckt sie sich in ihren Spott und hat nicht den Mut, auf ihre eigene Sehnsucht zu hören und an ihr eigenes Gefühl zu glauben, weil sie nicht den Mut hat, an ihn zu glauben, denn sie weiß, daß es ihr unerträglich wäre, sich auch in diesem Glauben wieder verraten zu sehen, und so glaubt sie lieber nicht an ihn, aus Angst um ihren Glauben, wie er sich lieber keinem Freund mehr anvertraut, um nur den Freund nicht wieder zu verlieren, so feig hat das Leben sie gemacht, ihn und sie, und so stehen sie voreinander und zittern, sich zu entdecken, und wagen kaum, sich anzusehen, und möchten doch so gern aneinander glauben und finden nicht den Mut! Dann aber ist auf einmal ein Kind da, ein klein winziges Kind, und nimmt ihn bei der Hand und nimmt sie bei der Hand, und jetzt sehen sie sich an und erkennen sich und müssen lachen, wie dumm sie doch alle zwei gewesen sind, mit ihrer Angst, jeden Tag und jede Nacht, eins immer dümmer noch als das andere, so daß es wirklich ein Wunder ist, wie sie denn doch noch zu einem so gescheiten Kind gekommen sind! Und jetzt wird geheiratet! Arme Braut in Görz! Geheiratet wird! Mein lieber Herr Papa, eine Baronin ist sie, Kind haben wir auch schon eins, jetzt hilft nichts mehr! Geheiratet wird! Und springend, in seinem Übermut, in seiner Ungeduld, glitt er in den glitschigen Krusten aus und konnte sich kaum an einem knackenden Ast noch erhalten.

Beim Schmied in der Lucken kam ihm am Tor die Alte schlurfend entgegen. Die Frau Baronin sei krank. Sie habe heute wieder ihren bösen Kopf; der Herr Baron wisse ja. Nun sei sie doch aber endlich ein wenig eingeschlafen, der Herr Baron dürfe sie nicht wecken, Schlafen sei da noch immer das einzige für sie. Ob der Herr Baron vielleicht einstweilen in der Küche warten wolle?

Die Alte war ihm zuwider. Und jetzt ruhig in der Küche zu sitzen, mit seiner rüttelnden Ungeduld, bei der hämischen Alten, nein. Einen Augenblick dachte er daran, sie zu wecken. Er konnte, konnte nicht mehr warten! Aber er kannte sie, wenn sie den bösen Kopf hatte. Wie zerschlagen, ausgebrannt, zertreten war sie dann. Er ging weg. An der Halde hinauf, dem Walde zu. Wo sie damals gegangen waren, im stöhnenden Sturm. Noch sah er sie vor sich, laufend, unter das Dach der großen alten Bäume hin, während die Sonne verlosch und schon die großen klatschenden Tropfen in die Steine schlugen, und hörte sie durch den reißenden Wind schreien, Und es fiel ihm ein, daß sie damals auch gerade den bösen Kopf gehabt hatte, im bangen Vorgefühl des lauernden Föhns. Jetzt aber war der wilde Herbst davon. Der stille Winter kam heran. Das Tal schwieg, der Wald schwieg, der gelbe Dampf stand schweigend. Und so weit weg schien alles jetzt. Als er unter den Bäumen war und zurück nach dem Dorf sah, wurden die Häuser so klein. Über dem Turm wich der Nebel jetzt langsam, der Dampf wurde weiß, die verborgene Sonne schien aus ihm zu winken, tief aus der Ferne her, mit einem wehenden Schleier. Und leise schwankte die glitzernde Luft, vom Felsen kam ein Atem, es roch nach Schnee, der schon irgendwo, hinter den Bergen, auf fernen Winden ritt. Morgen schneit es, dachte er. Und es war ihm ein wunderschönes Gefühl, sich den ersten Schnee zu denken; als würden sie sich dann noch näher sein, wann's draußen schneit, immer so still herab, und in dem großen alten Ofen knackt's und in der Röhre zischen die bratenden Äpfel. Wie lang ist's her, daß er hier durch diesen Wald an seinen See ging und sein Boot nicht fand, aber an der bösen Wand auf der Wiese unter der Fichte lag sie! Und wie lang ist's seit dem Gewitter? Und er hört sie noch, wie sie dann aus der Hütte gingen, Hand in Hand langsam zurück, er hört sie noch mit ihrer festen klaren Stimme sagen: Ein bißchen liebhaben, und wenn's bloß für ein paar Tage war! Jetzt aber weiß er, daß es für das ganze Leben ist. Und er hat ein so liebes stilles Gefühl, geborgen zu sein. Da unten sieht er ein kleines Haus liegen, das Haus zum Schmied, da ist ein enges Zimmer oben, da wohnt eine liebe kleine Frau, die gehört ihm, die hat ein Kind von ihm, da gehört er hin. Er weiß jetzt, wohin er gehört. Nie hat er dieses Gefühl noch gehabt: irgendwo daheim zu sein. Dort drüben liegt unten die weite Welt. Wenn ihm aber kalt und traurig sein wird dort draußen in der weiten Welt, kehrt er in das kleine Haus zurück, in sein Haus, wo seine Frau mit seinem Kind auf ihn wartet. Das ist ein so gutes warmes Gefühl. Das hat er nie gekannt. Nun ist er geborgen. Jetzt wird's in der Welt erst lustig sein, jetzt lacht er alle Menschen aus und kann alles wagen, weil er jetzt weiß: wenn's ihm keinen Spaß mehr macht, geht er nach Haus. Nie hat er das gehabt. Jetzt weiß er erst, wie das ist, zu Haus zu sein. Da braucht er sich jetzt gar nichts mehr zu wünschen.

Und dann muß er lachen, indem er langsam, während der Tag verlischt, wieder hinab zum Schmied geht. Da wird's natürlich nicht sein! Sondern sie suchen sich ein liebes lustiges Häusl, ganz in großen alten Obstbäumen versteckt, ein Bach plappert durch die Wiese, so wie sie sich's immer gewünscht hat. Dort werden sie dann beisammen sein, zwei verirrte Menschen, die doch noch nach Haus gefunden haben! Sie hat ja das auch noch nie gehabt. Sie ist auch nur immer so durchs Leben gerannt. Er erinnert sich, sie hat ihm alles erzählt. Ihre Mutter war eine Schwedin, ihr Vater ein Italiener, sie ist ein uneheliches Kind. Erst hat die Mutter sie durch die Welt geschleppt, dann holt sie der Vater, und sie muß mit ihm reisen. Bis sie dann den Baron kennenlernt und seine Hand nimmt, mit dem einzigen Wunsch, versorgt zu sein und auf dem stillen alten Gut zu sitzen, dort in der Mark. Aber da bricht seine furchtbare Krankheit aus. Und wieder wird sie fortgetrieben. Sie hat ihm alles erzählt; seitdem versteht er erst, wie sie manchmal ist: als wäre noch immer jemand hinter ihr her und hetzte sie, denn sie kann noch immer gar nicht glauben, daß das ja jetzt alles vorüber ist, es macht sie ganz verzagt, und oft, in seinen Armen, schreit sie noch aus bösen Träumen auf, gehetzt und gequält, und er muß sie schütteln, bis sie ihn erkennt und ihm glaubt, daß es doch nur ein dummer Traum war, was sie gejagt und verstört hat. Und dann klammert sie sich an ihn. »Du mußt bei mir bleiben! Geh nicht fort, geh nicht fort! Ich fürchte mich so!« Und mit ihren fiebernden Lippen hängt sie sich an seinen Mund. Und er fragt nur immer: »Kind! Aber Kind! Was hast du nur, Kind?« Und ihr weißes Gesicht zuckt, ihre müden Augen flirren, während sie sich in ihn verkriecht, mit flehenden Händen, und sie stößt das harte Kinn vor und sagt: »Sie haben mich so durch das Leben gezerrt, davon bin ich noch überall ganz wund und weh! Sie haben mich so gezerrt!« Und dann faucht sie, die fleischigen Flügel der schmalen Nase blähend, und höhnt: »Mit Stößen und Tritten haben sie mich gezerrt! Wie ein Kalb am Strick!« Und dann erzählt sie, stundenlang kann sie dann erzählen, in einer sinnlosen Gier, alles auszugießen und auszuschütten, als wäre sie dann erlöst. Wie die Mutter eine Freundin hat, die das Kind nimmt und zu Bauern bringt, im bayrischen Gebirg, da wächst es auf, und bei diesen Bauern wohnt eine wunderliche alte Frau, niemand weiß, woher sie gekommen ist, die Leute sagen, sie sei verrückt, weil sie mit keinem spricht, und wenn ihr wer begegnet, stellt sie sich hinter einen Baum, bis er vorüber ist, und die ganze Nacht geht sie herum, im Wald oder unten am See, wie ein böser Geist, und singt. Keinen Menschen mag sie, nur das ausgestoßene Kind. Mit dem geht sie gern und erzählt ihm, erzählt und erzählt und erzählt, aber das Kind kann nicht verstehen, was sie erzählt, und wenn es fragt, da küßt die fremde Frau das Kind und streichelt es und sagt: »Sei froh, sei froh!« Dann aber kommt plötzlich ihre Mutter und holt sie, und dann lebt sie in der großen Stadt Berlin, bis ein wunderschöner Mann mit lachenden schwarzen Augen kommt, das ist ihr Vater, der nimmt sie der Mutter weg, und jetzt muß sie mit ihm durch die Welt. Und Länder und Menschen fliegen vorbei, bis sie plötzlich, mitten im Erzählen, aufschreckend abbricht und wieder fleht, mit den gierigen Händen an seinem Hals: »Schick mich nicht fort! Laß mich bei dir! Sie haben mich immer so gehetzt und gezerrt!« Und er hält sie fest und hegt ihren zuckenden Leib und deckt ihr weißes Gesicht mit den knisternden weichen Haaren zu, sie wird still, er hört ihr Herz, sie schläft ein, ein armes Lächeln am Mund, und im Schlaf knirschen die verbissenen Zähne noch! Und am anderen Tag sieht sie ihn dann mit ihren blinzelnden Augen so listig an und sagt: »Du weißt hoffentlich, daß der Mensch in der Nacht immer lügt? Das ist ja das Schöne!« Und er versteht das doch so gut von ihr, daß sie sich dann schämt und es wieder auslöschen möchte. Es ist ihm oft ganz unheimlich, wie sehr sie sich gleichen. Und nachmittags, wenn sie den guten Kaffee macht, in der Dämmerung, fängt dann er zu erzählen an, von seiner armen kranken Mutter und von jenem lächerlichen Unglück des Vaters, und wie auch er immer so verstoßen und verlassen gewesen, bis er jetzt sie gefunden hat. Und sie sagt: »Da passen wir ja wunderschön zusammen. Und den einen Winter wird uns das Schicksal schon gönnen.« Da kränkt er sich, weil er sie doch für sein ganzes Leben haben will, denn sie ist doch seine Frau, die für ihn bestimmte Frau, das weiß er. Aber sie lacht ihn aus: »Du hast ja noch keine Ahnung, wie viele Frauen dir bestimmt sind! Und wenn ich schon längst eine alte Tante bin, wirst du noch lange damit nicht fertig sein!« Und da wird er bös, aber sie zaust ihn, bis er wieder lachen muß. Sie war so komisch, wenn sie begann, ihm alle Frauen vorzumachen, der Reihe nach alle noch für ihn bestimmten Frauen. Wie sie denn kein größeres Vergnügen fand, als Menschen nachzuäffen und auszuspotten, den Domherrn in seiner gesättigten Heiligkeit und die fromme Frau Hofrätin mit den verräterischen Augen und seinen böhmischen Grafen samt dem hüpfenden Bierbaron, wie die zwei feierlich ihre neuesten Westen über die Promenade trugen; keinen verschonte sie, zuletzt kam aber immer Klemens selbst daran, wie er damals, an seinem See, das grüne Hütl schief auf dem Kopf und mit den Augen wedelnd, den Schnurrbart streichend, den Unwiderstehlichen vor ihr gemacht. Und er lachte und nannte sie sein liebes kleines Afferl. »Also!« sagte sie, vergnügt. »Denn ein Afferl, wenn's noch so lieb ist, heiratet man doch nicht, Herr Bezirkshauptmann! Und es wäre dem Afferl auch gar nicht geheuer.« Und dann zankten sie sich wieder, bis sie sich wieder versöhnten, jeden Tag. Jetzt aber verstand er dies alles erst und wußte jetzt, welche Qual und Bangigkeit und Angst sie mit ihren Torheiten zugedeckt hat. Und jetzt, dachte er, wird das Afferl doch geheiratet, es hilft ihm nichts!

Er trat in ihr Zimmer, sie war erwacht. Es dunkelte, sie wollte kein Licht. Sie lag auf dem Diwan, zwei große Polster unter dem Rücken; der Kopf hing hinab, zurück in ihre weichen blonden Haare gedrückt, der Hals schwoll, das Kinn stand unter dem offenen Munde vor. Die linke Hand hielt sie auf die Stirne gepreßt, um nur den Kopf immer noch tiefer zurückzudrängen; dies schien ihren Schmerz zu lindern, sie habe, sagte sie dann immer, in diesen Zuständen nicht mehr die Kraft, ihren Kopf zu halten, am liebsten hätte sie sich an den Füßen aufgehängt. Die rechte Hand ließ sie schlaff herab, ein Fläschchen mit Riechsalz drehend. Er kam behutsam, sie regte sich nicht, nur ein kleines helles Lächeln erschien an ihrem zuckenden Mund. Er kniete nieder, schob den Ärmel zurück und küßte still ihren nackten Arm. Dann setzte er sich auf den Boden und hielt ihren Arm. Jetzt war es im Zimmer schon ganz finster. Aber sie hatte noch immer die Augen zugepreßt; und manchmal legte sie den Daumen und den Zeigefinger der linken Hand auf die starken Lider und drückte sie fest hinein, immer fester, leise schnaubend. Aus dem großen alten Ofen kam ein roter Schein, die Scheite krachten. Ein Dunst war, von warmen Kacheln, nassen Tüchern, Kölnischem Wasser, Salmiak, Menthol, Zigaretten und ihrem Schweiß. Er hielt ihren Arm, sie bog den Kopf ganz tief zurück. Lange sprachen sie nichts. Bis sie mit ihrer kindlichen klaren Stimme sagte: »Erzähl mir was!«

Er hätte so gern gleich alles gesagt. Er hatte doch aber Angst, sie zu erschrecken. So sagte er: »Du weißt es doch schon.«

Sie fragte: »Was?«

Er sagte: »Ich hab dich lieb.«

Mit geschlossenen Augen lag sie, leise lächelnd. Dann sagte sie: »Du kannst es mir aber immer noch einmal erzählen. Es ist das einzige, was meinem dummen Kopf noch hilft.«

Zärtlich glitten seine Finger über ihren nackten Arm, während er ihr leise diese lieben Worte sagte, immer dieselben Worte, die sie sich immer sagten, jeden Tag und jede Nacht. Sie lag starr und regte sich nicht, gierig trinkend, was er sprach. Er aber dachte nur die ganze Zeit: Jetzt ist das doch noch ganz anders, jetzt haben wir uns erst ganz, jetzt erst bist du mein, seit du das Kind hast! Er wagte nicht, es auszusprechen, er wollte sie nicht erschrecken, aber so stark war sein Glück, daß es in jedes Wort drang, das er sprach, und überall aus seiner Stimme schlug, leuchtend und jauchzend.

Sie fuhr plötzlich auf und fragte, hart: »Kle! Was ist denn? Was hast du?«

»Lieb hab ich dich! Hat dein dummer Kopf das auch vergessen?« Er wollte scherzen. Er hatte Furcht vor der Angst in ihren Augen. Schief standen sie, gelb vor Angst, wie Bernstein gelb. Und ihr weißes Gesicht, unter den steilen Bogen der starken, an der Nase verwachsenen Brauen, schien plötzlich ganz alt, vor Angst.

»Nein!« sagte sie heftig. »Lüg nicht! Was hast du?«

»Drut! Liebe, liebe Drut!«, sonst konnte er nichts mehr sagen, in seiner strömenden, leuchtenden, jauchzenden Seligkeit.

Sie stieß die Decken weg und sprang auf. Ganz starr stand sie, das Fläschchen mit dem Riechsalz an die saugenden Nüstern gepreßt.

Verlegen sagte er: »Rege dich doch nicht auf! Es hat ja Zeit. Du liebe dumme Frau! So wenig kennst du mich noch? O Drut, bist du dumm!«

Er griff nach ihrer Hand. Sie riß sich los und sagte: »Der Herr Doktor hat also sein Wort gebrochen! Auch ein Ehrenmann!« Wie wenn ein Glas zerbricht, klang es ihm in sein Glück hinein.

Und dann setzte sie sich und sagte: »Übrigens liegt ja nichts daran. Es ist ganz unnötig, uns aufzuregen, deine Freude ist ebenso überflüssig, wie meine Angst war. Ich hatte mich getäuscht.« Da kein Wort von ihm kam, sah sie sich um. Und ungeduldig sagte sie: »Ich hatte mich getäuscht! Verstehst du nicht?«

Er sagte nur, endlich: »Drut!« Fragend, bittend, klagend, zweifelnd, fürchtend klang es. Heftig sagte sie: »Verstehst du denn nicht? Sei doch nicht so albern!« Er sah verwundert auf, als wäre plötzlich eine fremde Stimme im Zimmer; und doch war ihm, als hätte er diese Stimme schon gehört; ja, diese Stimme hatte sie, wenn sie manchmal zornig mit der Alten schrie, ja. Daß sie zwei Stimmen hatte, war ihm aber jetzt plötzlich so seltsam! Und er hörte kaum, was sie sagte; er hörte nur die Stimme, die es sagte, ihre zweite Stimme.

Sie ließ ihn stehen, ging zum Fenster und zog die kleinen weißen Vorhänge zurück. Spähend, horchend sah sie durch die Scheiben in die Nacht hinaus. Und mit ihrer hellen lieben Kinderstimme sagte sie dann, mit einer Stimme, die schon alles wieder vergessen hat: »Es schneit.«

Und sie sah hinaus und sagte: »Komm, Kle! Schau doch! Es schneit.«

Er kam und lehnte sich neben sie. Langsam sanken die weißen Flocken durch die Nacht und rannen an den Scheiben. Und er sagte: »Es schneit.«

So lehnten sie, die weißen Flocken schwammen durch die Nacht, alles schwieg.

Leise sagte sie dann: »Hab mich doch lieb!«

Leise sagte er: »Ich hab dich lieb.«

Im Ofen krachte das Holz. Er ging langsam vom Fenster weg. Er setzte sich. Er sah dem roten Schein zu, der vom Ofen durch das dunkle Zimmer sprang. Sie sagte, noch im Fenster, noch einmal leise vor sich hin: »Es schneit.« Dann drehte sie sich um und sagte, hell in das dunkle Zimmer hinein: »Kle, es schneit.« Dann kam sie, stand vor ihm und sagte, die tiefe knarrende Stimme des alten Pfandl nachäffend: »Herr Bezirkshauptmann, es schneit.« Und sie sprang auf seinen Schoß und schlang sich um ihn und sagte: »Ich bin dumm, du bist dumm, alles ist dumm, aber schön ist es!« Und sie sahen die Flocken an den Scheiben fließen und hörten das Holz im Ofen brechen. Und an seinem Munde sagte sie: »Aber eins versprichst du mir!«

Er fragte: »Was denn?«

Sie bat: »Nicht mehr daran denken!«

Er schwieg. Sie wartete. Endlich sagte er: »Kind, du erdrückst mich ja, ich ersticke.« Sie gab ihn los. Er stand auf und ging wieder zum Fenster, Sie saß schlaff, mit hängenden Armen.

Er sagte: »Willst du nicht die Lampe anzünden?«

Sie gehorchte. Die kleine Lampe gab ein stilles Licht. Er stand noch immer am Fenster, durch die nassen Scheiben schauend, in das weiße Schneien hinein. Ohne sich umzuwenden, bat er: »Sag mir nur, warum du mir nichts gesagt hast!« Und als sie noch immer schwieg: »So wenig kennst du mich! So wenig weißt du noch von mir, daß du das glauben konntest!«

»Der alberne Doktor!« sagte sie.

»Aber, Drut, verstehst du denn nicht, daß er es mir sagen mußte? Gott sei Dank, daß er es mir gesagt hat!«

»Was hat er dir denn gesagt?« schrie sie. »Was? Es ist ja alles gar nicht wahr!« Und sie ließ ihn nicht reden, sondern fuhr heftig fort, daß die Worte hart durch das Zimmer schlugen: »Ich bildete mir ein, ein Kind zu haben. Und nun weiß ich von den Ärzten, daß es mein Tod wäre. Der aber, wie die Männer immer glauben, die ganz Gescheiten zu sein, hat gemeint –« Sie brach ab. Er kam an den Tisch. Sie sahen sich an. Zornig sagte sie: »Ach, was frage ich denn nach dem albernen Doktor! Aber du! Klemens, denkst du wirklich auch, ich könnte, wenn ich ein Kind von dir hätte, ich könnte dein Kind, unser Kind, bloß aus Angst vor der Schande, weil du mich vielleicht nicht heiraten wirst – Klemens! Das hast du denken können! Und klagst dann noch, daß ich dich nicht kenne! Aber du kennst mich wohl, wenn du das von mir denken kannst? Aber es ist ja vorüber, es ist ja vorüber! Wozu denn noch? Du hörst doch, ich habe mich getäuscht!«

»Nicht so laut!« warnte Klemens, auf die dünne Wand zeigend. »Die Alte kann es hören.«

»Soll sie doch!« sagte Drut, höhnisch. »Die kennt mich besser. Die hält mich für keine Kindesmörderin.«

»Drut!« schrie Klemens entsetzt.

»Das war doch eure Meinung? Was sonst? Aber vor dem Wort erschrickst du jetzt! Oder vielleicht habt ihr gar gedacht, daß ich nur drohen will, um euch Furcht zu machen, damit der zappelnde Doktor geschwind zu dir rennt, und du kriegst Angst und ziehst es dann doch noch vor, mich in Gottes Namen lieber zu heiraten! Ich will ja nur durchaus geheiratet sein! Nicht? Der Doktor hat mich gleich durchschaut!«

»Ich weiß doch«, sagte Klemens, ungeduldig beschwichtigend. »Ich weiß doch, daß du ja gar nicht heiraten willst!«

»So? Weißt du das noch? Weißt du das doch noch?« Sie lachte durch die Nase, fauchend, die Nüstern blähend. Dann nahm sie das Fläschchen, roch an dem Salz und fragte langsam: »Dann möchte ich nur wissen, wie du doch dem Doktor glauben konntest?«

»Aber meinst du denn, ich weiß überhaupt, was der Doktor gesagt hat? Ich habe ja gar nichts mehr gehört, vor lauter Glück, daß du ein Kind hast und daß wir jetzt –«

Ihre klare Stimme sagte hart: »Wozu denn noch das alles? Es hat keinen Zweck mehr.«

Sie schwiegen. Dann fragte er: »Aber warum bist du zum Doktor, ohne mir davon etwas zu sagen?«

»Du hörst doch,« sagte sie ungeduldig, »daß ich solche Angst hatte.« Dann lächelte sie, und ihre Stimme wurde weich. »Kannst du mir verdenken, daß ich gern noch ein bißchen am Leben bleiben möchte? Nur so lang, bis du mich nicht mehr lieb hast!«

»Und ich war immer bei dir und du hast mir nichts von deiner Angst gesagt! Das kann ich nicht verstehen.«

Sie sah weg. Er sagte noch: »Ich könnte dir nichts von mir verbergen, nicht einen Tag lang. Schau, ich habe doch, um deinen armen dummen Kopf zu schonen, zuerst heute gar nicht davon reden wollen. Aber du hast es gleich an meiner Stimme gehört. Ich könnte dir nichts verbergen. Du siehst mich nur an und weißt alles von mir. Viel mehr, als ich selbst weiß. Und das ist doch das Wunderschöne.«

Sie hielt mit ihrer kleinen festen Hand die müden Augen zu. Dann sagte sie, ganz leise, mit bebenden Lippen: »Ich habe mich so geschämt.«

Er zog ihre Hand von den Augen weg. »Dumme kleine Drut! Warum denn?«

Sie schloß die Augen und senkte den Kopf. »Ich habe mich so geschämt. Verstehst du denn das nicht?«

»Ein Kind von mir zu haben?«

Sie schüttelte den Kopf. Er fragte noch einmal, bittend: »Warum denn?«

»Ich habe gemeint, du kannst mich dann nicht mehr liebhaben, wenn du weißt, daß ich so krank bin und so eine –« Sie hielt ein, die Worte suchend. Dann sagte sie, traurig und müde lächelnd: »So eine alte, defekte, unbrauchbare Frau.«

»Ich kann dich schon noch brauchen«, sagte er, ihr weiches Haar küssend. Sie hörte, wie seiner Stimme zum Weinen war. Unbeweglich saß sie, den Kopf geduckt, mit offenen Lippen. Sie fühlte seinen Mund in ihrem Haar, seine Hand an ihrer Stirne. Dann hörte sie ihn leise lachen, »Die heißen Ohren sind zu lieb!« sagte er, die kurzen angewachsenen Läppchen reibend. »So heiß und so rot! Dein Gesicht ist ganz weiß, weißer als der Schnee, wie wenn dir alles Blut entwichen war und es war ins Ohr geschossen! Wie zwei große heiße Blutstropfen sind deine lieben komischen Ohren! O du!«

Sie regte sich noch immer nicht. »Hast sie noch ein bißchen lieb?« fragte sie leise. »Die dummen Ohren?«

»Die dummen Ohren!« sagte er. »Und die dummen Augen mit den kleinen bösen gelben Funken, daß man sich fürchten könnt! Und den dummen Mund, der immer gleich so traurig wird! Und halt die ganze dumme Person, so schrecklich sie manchmal ist! O du!«

Sie sagte leise: »Wenn du sie nur noch ein bißchen lieb hast! Behalt sie noch ein bißchen lieb! Behalt dein Afferl lieb!«

Da ließ er sie los, sich erinnernd. Und leise lachend ging er von ihr weg. Und dann sagte er, vergnügt: »Aber das alles hilft dem Afferl nichts! Es wird jetzt doch geheiratet!«

»Ich bin müd, Kle!« sagte sie. Die Stimme klang leer und als ob sie weit aus der Ferne käme. »Ich bin müd, ich habe doch heute meinen dummen Kopf, laß mich jetzt, Kle!« Und dann sagte sie noch, mit sinkender Stimme: »Wir können ja morgen –« Sie stand auf, wankte, hielt sich am Stuhl. »Ich kann gar nicht sehen. Alles steht schief. Und alles ist doppelt. Du mußt mich jetzt lassen. Laß mich, Kle!«

»Nein«, sagte er. Und er kam, nahm ihren kleinen zuckenden Leib und trug sie zum Diwan. Als sie lag, mit geschlossenen Augen, gab er seine Hand auf ihre Stirne, in der anderen hielt er ihre kleine feste Faust, so saß er neben ihr. Im Ofen schlug das Holz, die Lampe schien, am Fenster rann der Schnee. Es war still und warm. Er sah durch das liebe schmale Zimmer, mit den zwei großen Kasten aus fleckigem Zirbelholz, und sagte: »Wie wenn Weihnachten wär und jetzt gleich das Christkind käm!« Er schwieg, horchend. Dann sagte er: »Bei mir war's ja noch nie. Das Christkind.« Und er lachte. »Das ist doch eine Schlamperei, die man sich nicht gefallen lassen kann. Man muß sich halt, wie mein Freund Nießner sagt, manchmal beim Schicksal beschweren. Sonst vergißt es.« Er fühlte unter seiner Hand ihre starken Brauen, die sich bald hoben, bald zusammenschoben. »Liebe, liebe Drut! Ich bin ja so froh. Ich bin ja so froh, daß ich dich hab. Und ich geb dich nicht mehr her, da hilft dir nichts. Ich geb dich nicht mehr her. Und jetzt hör zu! Sag nichts, sondern hör mir schön zu! Dann kannst ja strampeln. Aber geschehen wird doch, was ich will. Denn das weiß ich jetzt. Zum erstenmal in meinem Leben weiß ich was. O du! O du mein geliebtes Afferl du!« Und jetzt fing er an, ihr alles zu sagen: wie er sich doch immer schon, als Kind schon, vor der Mutter scheu, den Vater fürchtend, immer so verlassen und allein gefühlt und immer so schrecklich gesehnt, einen Menschen zu haben, einen Freund, eine Geliebte, was immer, aber nur endlich doch einen Menschen für sich, einen, vor dem er sich nicht in einem fort beherrschen und nicht verstellen und nicht immer auf der Hut sein muß, einen der nicht immer an ihm zieht und zerrt, einen, der ihn hält und ihm ein bissel hilft, und wie er immer unter den Leuten so verirrt gewesen und so müd geworden, weil er sich doch keinem jemals anvertrauen können, sondern jeder kam und riß an ihm und nahm ihm etwas weg, bis er sich vor ihnen ganz verkroch, aus Angst, ausgeraubt zu werden, ja das war sein Gefühl, und wie er nun nur so herumtappt und von einem Jahr aufs andere gehofft und selbst schon gar nicht mehr gewußt, was er denn eigentlich will, und sich schon selbst gar nichts mehr zugetraut und sich selbst schon gar nicht mehr ausgekannt, bis er sie gefunden, und da war gleich alles gut, nicht bloß, weil er sie so lieb hat, das ist es ja nicht allein, sondern weil er fühlt, daß er ihr recht ist, zum erstenmal hat er einen Menschen, dem er recht ist, und das braucht man doch, dann traut man sich erst heraus, er war ja schon ganz verzagt, aber seit er sie hat, fürchtet er nichts mehr, und entweder, wenn sie will, werden sie ganz still irgendwo auf dem Lande sitzen, vor den Menschen versteckt, er braucht die Menschen nicht, oder wenn es ihr Spaß macht, treiben sie sich überall in der großen Welt herum und halten alle zum Narren, bis er Hofrat und Sektionschef und Minister ist, denn mit ihr hat er ja keine Furcht mehr, da will er alles wagen, und er weiß, daß ihm alles glücken wird, wenn er nur sie bei sich hat, dann ist er stark, das weiß er, und dann lachen sie zusammen alle Menschen aus, Gott, sie werden ja so lustig sein, und er weiß, daß ihm dann alles glücken muß, er weiß es halt, aber wenn er sie nicht mehr hat, dann wär alles wieder aus, sie muß er haben, ohne sie wär's aus, denn seit er weiß, wie das Leben mit ihr ist, seit er jetzt das einmal kennt, kann er ohne sie nicht mehr sein, er kann nicht, er weiß, daß er nicht kann, und darum ist er ja manchmal so furchtbar traurig, wenn sie diese häßlichen Dinge sagt, daß es den Winter nicht überdauern wird, und so, weil sie ja gar nicht ahnt, was sie ihm ist, weil das vielleicht eine Frau überhaupt nicht verstehen kann und weil vielleicht noch kein Mann eine Frau so gebraucht hat, wie er sie braucht, er mit seiner entsetzlichen Kindheit, er in seiner trostlosen Verlassenheit, denn er ist ja doch ganz anders, als sie meint; sie traut ihm ja noch immer nicht, sie hält ihn noch immer für den feschen Kle, weil er das hat, daß er nicht sagen kann, was er fühlt, er glaubt immer, was in ihm so stark ist, muß sie doch heraushören, ohne daß er's erst zu sagen braucht, und er glaubt auch, daß man es gar nicht sagen soll, es kommt ihm lächerlich vor, so was Starkes, so was Schönes auszusprechen, es tut ihm förmlich leid darum, er schämt sich, und da kann er's nicht, er kann's halt nicht, und leichtsinnig ist man auch und lebt auf den Tag los und denkt sich, merkt sie's nicht heute, so merkt sie's morgen, und darum ist er ja zuerst so furchtbar erschrocken, als es ihm der Dr. Tewes erzählt hat, aber dann hat er ja gar nichts mehr gehört, kein Wort mehr weiter, und er hat doch überhaupt nichts mehr gewußt, als daß sie ein Kind haben und heiraten werden, und wenn sie jetzt auch kein Kind haben, so werden sie doch heiraten, das ist jetzt gleich, auf das Kind kommt's ja gar nicht an, denn jetzt ist er aufgewacht, wirklich so war's, wie wenn man plötzlich mitten in der Nacht geweckt wird, erst weiß man gar nicht und hat den Traum noch überall, dann aber ist man auf einmal ungeheuer wach, viel wacher als jemals am hellen Tag, so war ihm heute, als er endlich den Doktor verstand und nun nachzudenken und zum erstenmal alles zu sehen begann, sie und sich selbst und alles in Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, er war doch immer so blind und blöd, aber seitdem weiß er jetzt alles und er weiß, daß er ohne sie nicht mehr leben kann, ganz ohne Sentimentalität gesagt, er weiß, daß er es nicht kann, er kann einfach nicht mehr, er kann nicht mehr in sein altes Leben zurück, er könnte das nicht mehr ertragen, wie's früher war, er muß sie haben, er weiß, daß er sie haben muß und muß und muß, weil er weiß, daß es aus mit ihm ist, wenn er sie nicht mehr hat!

Er ließ sie los, stand auf und ging zum Fenster.

Sie sagte, leise: »Aber du hast mich ja doch! Hast du mich denn nicht?«

Er antwortete nicht, sie wiederholte: »Haben wir uns denn nicht?«

Er wendete sich am Fenster um und sagte, heftig: »Und wenn ich nun aber heiraten will! Und wär's eine Marotte von mir! Und wär's aus Aberglauben oder –! Ich weiß nicht, ich weiß ja selbst nicht, was es ist! Ich weiß nur, daß ich keine Ruhe mehr hab! Ich weiß nur, daß das jetzt einmal in mir ist, und du zerstörst uns sonst alles, ich kenne mich, ich hätte keine frohe Stunde mehr! Ich weiß ja selbst nicht!« Und plötzlich in einen anderen Ton umschlagend, in seinen Ton des frechen Kle, des feschen Kle, sagte er lustig: »Wie kann man denn solche Geschichten machen, wegen dem bissl Heiraten! Aber Afferl! Wirst sehn, es tut gar nicht so weh.«

Nach einiger Zeit sagte er, in einem ärgerlich klagenden Ton: »Und mir paßt das auch nicht mehr, jeder glaubt schon im Ort, daß er ein Gesicht machen darf. Deinetwegen mag ich das nicht! Erinner dich, wie die Hofrätin neulich merkwürdig mit uns war! Die Vikerl läßt sich nicht mehr blicken, der Domherr trieft von christlicher Vergebung, meine zwei jungen Herren werden mir auch schon zu vertraulich, und ich kann nicht in die Lucken radeln, ohne daß der Jautz vor der Apotheke steht und freundlich grinst. Es ist kein angenehmes Gefühl, den ganzen Ort zu belustigen. Wenn wir verheiratet sind, kümmert sich kein Mensch mehr um uns. Während jetzt die Frau Apothekerin weiß, wann ich zu dir geh, und die Frau Verwalterin aufpaßt, wann ich von dir komm, und wahrscheinlich rechnen's dann abends noch ihren Männern vor, daß ich viel fleißiger bin. Das ist alles so grauslich! Dazu hab ich dich viel zu lieb. Und ich weiß auch, daß mir nächstens einmal die Geduld reißen wird, dann werd ich mit einem sehr grob, ob's jetzt mein böhmischer Graf oder die Fräul'n Öhacker ist, und dann gibt's einen Mordskrawall, und natürlich wird man mir dann sagen: Ja, Herr, woher sollen wir wissen, daß Sie das gleich tragisch nehmen werden, warum heiraten Sie's denn dann nicht? Die Leute hätten ja recht! Denn eigentlich ist es, wie wir zueinander stehen, eine Unaufrichtigkeit gegen uns selbst, nicht zu heiraten, das mußt du doch selber sagen! Und bequemer wär's auch, für dich und für mich. Ja, das klingt gemein! Aber auf alles andere hörst du ja nicht, da versuch' ich's halt so, vielleicht macht dir das einen Eindruck.«

»Mein lieber Kle«, sagte sie leise, traurig lächelnd.

Er redete sich immer mehr in den gekränkten Ton hinein. »Nein wirklich! Auf alles andere hörst du ja nicht! Da kann ich sagen, was ich will.«

»Ich hör aus allem nur, wie lieb du mich hast«, sagte sie leise.

Schon war er versöhnt und wurde wieder lustig. »Wie kann man sich denn nur so bitten lassen! Da kommt einer der schönsten jungen Männer des Reichs, der Liebling des Ministers, mit einer glänzenden Zukunft, liebenswürdig, hochbegabt, reich an allen Tugenden des Geistes und des Herzens, was viel seltener als der schnöde Mammon ist, und bietet Ihnen seinen Namen und all seine Titel an! Und Sie zögern, Madame? Sie sind wirklich ein Afferl, Madame!« Er setzte sich wieder zu ihr und nahm ihre Hand. »Und das einzige Glück ist nur, daß man das Afferl gar nicht mehr lange fragen wird, sondern das Afferl wird nächstens eines schönen Tages einfach in ein prächtiges Kleid gesteckt, in die Kirche geschleppt und vor den Herrn Pfarrer gekniet, und der sagt dann was, und dann gibt man dem Afferl einen Schupps, daß es mit dem Kopf wackelt, und das heißt dann Ja, und dann ist das Afferl keine Baronin Scharrn mehr, sondern jetzt ist es eine Baronin Furnian, aber sonst geschieht doch dem Afferl weiter gar nichts. O du!« Und er bog sich auf ihr weißes Gesicht herab und sagte leise: »Laß mich doch nicht so betteln, ich schäm mich ja.«

Sie machte sich los und sagte, hart: »Ach, sei nicht so kindisch!« Und aufstehend, durchs Zimmer gehend, an dem Riechsalze saugend: »Ja, da machst du ein gekränktes Gesicht! Das ist wohl wieder unweiblich von mir? Findest du?« Sie lachte höhnisch. »Statt gerührt zu sein und, aufgelöst in Glück, dir gleich an die Brust zu sinken! Nicht? So hast du dir das doch gedacht! Aber, mein lieber Kle, eins von uns beiden muß schon ein bißchen Verstand haben. Sonst geschieht eine Dummheit.« Und durch das Zimmer raschelnd, ein wenig schief, wie es ihre Art war, einem auffliegenden kleinen Vogel gleich, wiederholte sie, heftig dazu nickend: »Eine Dummheit, eine Dummheit, eine Dummheit! Betrügen wir uns doch nicht!« Plötzlich blieb sie stehen, duckte den Kopf und sagte vor sich hin: »Ich hab dich lieb. Ich hab dich lieb. Aber darum gerade!« Und wieder durch das Zimmer schwirrend: »Ich verstehe ja. Die Leute machen dich nervös mit ihrer albernen dreisten Neugier! Mich auch. Glaubst du, mich nicht? Ich kann's nur aber nicht ändern. Und schließlich wird's ja noch zu ertragen sein. Mir ist das schiefe Gesicht des Domherrn immer noch lieber, als daß eine Dummheit geschieht!«

Er sagte, noch immer auf dem Diwan, ihr traurig nachsehend: »Eine Dummheit! Ja, wenn du das eine Dummheit nennst –! Dann empfindest du eben ganz anders als ich.«

Sie sagte heftig: »Ich bitte dich, Kle! Sei nicht empfindlich! Und sei nicht sentimental! Damit kommen wir jetzt nicht weiter.« Und, ungeduldig im Zimmer hin und her, wie ein gefangenes Tier, das sich im Käfig dreht: »Es ist wahrscheinlich immer eine Dummheit, wenn zwei Menschen mit ihrem Glück ein bürgerliches Geschäft anfangen und –«

»Ein Geschäft!« sagte er bitter.

»Oder wie du's nennen willst! Du verstehst mich schon. Das Stärkste, das Schönste, was ein Mensch hat, und gerade darum so schön und so stark, weil er doch gar keine Gewalt darüber hat, weil es da ist, ob er will oder nicht, weil es ihn zwingt, und das jetzt in einen Vertrag bringen, Punkt für Punkt! Daß die Menschen nicht spüren, wie sinnlos das ist! Und wie schamlos! Die eheliche Pflicht! Eine Pflicht daraus zu machen, die das eine fordern kann, das andere leisten muß, wie die Steuer oder die Miete! Und zu glauben, daß sie's dann sicher haben! Ja, sich auch nur zu wünschen, es sicher zu haben! Ohne zu fühlen, wie schändlich schamlos das eigentlich ist! Und dann noch zu tun, als ob es dann erst eine rechte Heiligkeit und Weihe hätte! Wie schmutzig müssen die Menschen sein!«

Er sagte verdrießlich: »Wir werden aber die Welt nicht ändern. Schließlich leben wir nicht unter Wilden. Es ist einmal Sitte. Und es ist doch auch im Grunde nichts als eine Form, in die ja jeder sein Gefühl stecken kann, ein gemeiner Mensch ein gemeines und ein anderer ein anderes, je nachdem. Wollen wir zwei gescheiter sein als die Menschheit seit so vielen tausend Jahren?«

»Ich hab dich sehr lieb«, sagte sie langsam. »Ich hab dich sehr lieb. Aber eigentlich, mein lieber Kle, bist du schon ein grauenhafter Spießbürger!«

»Weil es mir widerstrebt, daß sich jeder Gaffer im Ort an unserm Glück seinen schmierigen Witz abwischt? Ich will in die Ehe flüchten, sozusagen. Jetzt schauen uns doch alle Neugierigen zum Fenster herein! Ich will Ruhe haben. Daß du das nicht verstehst!«

Sie lachte laut auf. Er sah sie verwundert an. Sie sagte: »Und deshalb muß ich heiraten, damit du Ruhe hast? Wenn du keinen anderen Grund weißt –! Nein, Klemens! Eitel bist du. Das ist es. Du möchtest mit mir paradieren. Und der Domherr und der Apotheker und der Verwalter und deine zwei jungen Herrn und die Weiber im Ort und alle sollen dir neidisch sein. Unser heimliches Glück genügt dir nicht mehr, du willst es zeigen, so wenig ist es dir wert! Ich aber bin eifersüchtig. Ich möchte es lieber im Keller vergraben, daß es gar niemand sieht. Mir ist es zu gut. Ich gönn's den Menschen nicht, es auch nur zu sehen.«

»Sie wissen's ja aber doch!«

»Was wissen sie?« Und sie wiederholte: »Was wissen denn die? Was können sie wissen? Die von uns! Und wenn im ganzen Ort von uns gezischelt und getuschelt wird, es bleibt doch unser Geheimnis. Was es für uns ist, das wissen doch nur wir zwei ganz allein. Laß sie doch schwätzen und zwinkern! Desto besser bleibt unser Geheimnis gewahrt. Nur wir zwei ganz allein wissen es. Das ist doch so schön! Die können ja gar nicht an uns heran, mit ihrer erbärmlichen frostigen Gier, die nur überall Schmutz wittert! Was wissen denn die von uns? Verstehst du nicht, wie ich das meine?«

»Und wenn wir heute heiraten, wird's dann anders?« fragte er schnell. »Was wissen sie dann? Daß wir verheiratet sind! Und das denkt sich die Frau Jautz so, wie's mit dem Herrn Jautz ist. Bleibt's dann nicht erst recht unser Geheimnis? Nur daß sie dann nicht mehr wispern und zwinkern. Wir können's in gar keinen tieferen Keller vergraben. Und es wird doch nicht anders zwischen uns, weil es in der Matrikel steht! Hast du so wenig Vertrauen auf unser Gefühl? Aber du willst nicht! Sag doch lieber, daß du nicht willst!«

»O Klemens!« sagte sie leise. Horchend sah er auf. Aber sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, das Kinn vorstoßend. Und ihre Stimme wurde wieder klar und hart. »Dir ist das eben schon ein bißchen langweilig. Ich kann's ja begreifen. Immer denselben Weg, zur Lucken und wieder zurück. Es ist dir unbequem. Und was hast du schließlich hier? Eine müde alte Frau, die in ihrer selbstsüchtigen Verliebtheit nicht begreifen will, daß da draußen für dich noch das ganze große Leben liegt! Du hast ja recht! Aber so geh doch, geh! Ich werde dich nicht halten. Ich werde nicht klagen. Ich werde nicht einmal traurig sein, nein, wenn ich weiß, daß es gut für dich ist. Geh doch, versuch's! Ich halte dich nicht, wenn du's brauchst. Ich will hier ganz still sitzen und an dich denken. Und vielleicht findest du dann, daß es im Krätzl ja vielleicht gar nicht so lustig ist, oder bei deinen zwei jungen Herrn, wie dir jetzt vorkommt. Vielleicht findest du dann den Weg in die Lucken nicht mehr soweit. Ich werde warten. Und wer weiß?«

Er sagte traurig: »Wenn wir noch lange reden, werden wir uns gar nicht mehr verstehen.«

»Ich habe nicht angefangen«, sagte sie heftig.

Sie setzte sich ans Fenster. Er blieb auf dem Diwan. Sie schwiegen.

Plötzlich sagte sie, aus ihrem Sinnen heraus: »Es ist auch meine Schuld. Mich macht die Leidenschaft egoistisch. Ich habe ja nur dich auf der Welt. Aber du hast dein Amt, hast deinen Ehrgeiz, hast deine Zukunft! Ich weiß, daß es schlecht von mir ist, daran nicht zu denken. Glaubst du denn, ich sage mir das nicht oft selbst? Du sollst, du darfst nicht dein ganzes Leben bei mir versäumen! Aber warum sprichst du denn nie von deinen Sachen mit mir? Und es wär doch so schön für mich, dir ein bißchen helfen zu dürfen! Aber du willst ja nicht. Und wenn ich dich frage, lachst du mich aus. Und ich denke mir dann, er glaubt, daß eine Frau das alles nicht versteht. Es macht mich ja oft so traurig, daß ich dir gar nichts sein kann! Aber wenn du nur ein bißchen Geduld hättest, es einmal mit mir zu versuchen!«

»Das ist es doch nicht, Kind!« sagte er lächelnd. »Ich bin doch froh, nichts davon zu hören.«

»Ja, du glaubst, ich bin zu dumm! Das hat mich schon immer ein bißchen gekränkt. Ich war doch so stolz, dir helfen zu dürfen! Und glaubst du nicht, daß eine Frau da vielleicht manches besser sieht als der klügste Mann? Der Domherr weiß ganz gut, warum er alles mit der Hofrätin bespricht! Ihr steckt doch immer in Vorurteilen! Wir aber lassen uns nicht blenden, wir wissen, daß das einzige ist, Macht zu haben. Und wer hat Macht? Wer Macht zu haben scheint. Darum geht alles in der Welt. Schau dir den Domherrn an, der weiß es, das ist seine ganze Kunst. Aber du lachst mich aus!«

»Ich lache dich nicht aus«, sagte er.

»Versuch's doch einmal! Laß dir ein bißchen von mir helfen, du sollst sehen, ich bin gar nicht so dumm! Und ich hätte ja solche Lust, mit dir ein bißchen zu intrigieren! Das wäre mir ein solcher Spaß, einen auf den anderen zu hetzen und überall was anzuzetteln, bis sich keiner mehr auskennt! Und dann fischen wir! Und auf einmal, willst du wetten? auf einmal bist du Exzellenz!« Und laut auflachend sagte sie: »Denn, Kle, weißt du denn nicht, daß ich tausendmal so schlau bin als du? Ja, ja! Gewiß! Du hast ja damals gleich erkannt, daß eigentlich eine kleine Hochstaplerin in mir steckt! Und das gehört doch dazu, nicht? Das ist's ja, was dir fehlt, du armer Mann! Du aber bist hochmütig und verschmähst mein Talent. Während dein hochgepriesener Döltsch sicher irgendwo heimlich eine kluge Frau sitzen hat, die ihm sagt, wie dumm die Männer sind! Ohne die geht's doch nicht, das wissen ja nur wir. Eine Egeria nennt man das, nicht? Es gehört doch zum richtigen Staatsmann. Und jetzt denk dir nur, hier in der Lucken eine Egeria zu haben, ohne daß ein Mensch was davon weiß, denn so weit reicht ja der Verstand des Herrn Jautz nicht! Wär das nicht fein?«

»Aber Afferl!« schrie Klemens hell, von ihrer wirbelnden Lustigkeit angesteckt. »Du bist doch wirklich zu dumm!«

Sie sah verwundert auf.

»Denn Afferl, Afferl! Verstehst du denn nicht? Deswegen gerade heiraten wir ja!«

Er kam auf sie zu, bittend: »Nun mach nur nicht wieder gleich ein so schrecklich böses Gesicht! Schau, das ist es doch, was ich meine. Ich fühle so stark, daß du mir ja noch tausendmal mehr sein kannst als bisher! Und das alles zwischen uns kann noch ganz anders schön werden, wenn du mein ganzes Leben in deine kleine Hand nimmst! Und jetzt sag meinetwegen wieder, daß ich ein Erzphilister bin, aber ist denn das nicht der Sinn der Ehe? Alles das, was ich mir so wünsche! Und du dir doch auch! Zieh nur die Stirne finster zusammen, die grimmige Falte hilft dir nichts, du hast es doch eben selbst gesagt! Und wenn du nur irgendeinen wirklichen Grund hättest, warum du mich durchaus nicht heiraten willst!«

Sie bat, atemlos: »Fang doch nicht noch einmal an!«

»Da kennst du mich schlecht!« sagte er lustig. »Ich fang jetzt jeden Tag wieder an und hör überhaupt nicht mehr auf. Wir wollen doch sehen!«

Sie senkte den Kopf und sagte: »Das weiß ich schon, daß du stärker bist als ich. Du machst ja doch alles mit mir, was du willst! Aber, Kle, ich –« Und ihre kleine Hand ausstreckend, mit verlöschender Stimme: »Ich habe solche Angst!«

So hilflos saß sie vor ihm! Er kniete nieder, nahm ihre Hände und sah in das bange Gesicht. Sie bog es weg und sagte, sich mit einem mühsamen Lächeln wehrend: »Ach du! Da freust du dich noch! Du bist ein entsetzlicher Mensch!«

Er fragte lachend: »Jetzt sag mir aber nur, warum denn? Was tu ich dir denn? Ist das Opfer wirklich so furchtbar? Was soll dir denn Entsetzliches geschehen? Wir haben uns lieb, alles ist gut und schön, da fällt mir ein, daß wir heiraten sollten – no, so tu mir doch den Gefallen! Und wenn's wirklich eine Dummheit wär! Auf eine mehr kommt's doch im Leben nicht an! Es ist die erste nicht und wird die letzte nicht sein, die wir machen! Und wenn's wirklich nur wär, weil's mir bequemer ist oder weil ich eitel bin! Aber du bist's, die philiströs ist und es tragischer nimmt, als überhaupt die ganze Heiraterei verdient! Es steht doch wirklich gar nicht dafür, uns erst lange zu zanken! Hab ich nicht recht?« Er sah sie an, ihren Blick suchend, aber ihre flirrenden Augen entwischten ihm, leer hing das weiße Gesicht. Er ließ ihre Hände los, sprang auf und wurde heftig. »Und wenn du mir nur endlich den Grund sagen möchtest! Es muß doch einen Grund haben, warum du durchaus nicht willst!«

»Ich will nicht!« sagte sie leise, die Hände faltend. »O Kle!«

»Du willst doch nicht!« Seine Stimme war fragend und hoffend.

»Ich will nicht!« wiederholte sie, mit geschlossenen Augen, durch die Nase fauchend, ein leeres Lächeln an ihrem traurigen Mund. »Nein, mein lieber Kle! Ich will schon! Damit du's nur weißt! Ich? O ja, Kle, ich will, ich will! Viel länger schon als du! Da hast du noch lange gar nicht daran gedacht! Längst! Damals schon, wie wir einmal in der Nacht zusammen aus der Meierei gingen, erinnerst du dich nicht? Als wir uns zum erstenmal aussprachen und ich dich bat, doch klug zu sein und uns nicht alles zu zerstören, und dir sagte: Ich kann deine Frau nicht sein und ich will es nicht, ich will nicht! Erinnerst du dich nicht? Aus Furcht sagte ich dir das, aus Furcht vor mir doch nur, vor meinen eigenen Wünschen! Denn es kann ja nicht sein, es darf nicht sein!« Und bevor er noch antworten konnte, in seinem seligen Staunen, wiederholte sie, sich gierig an das Wort klammernd: »Es kann nicht sein, es kann nicht sein! Quäl mich doch nicht so!«

»Aber wenn ich nur weiß, daß du willst! Alles andere ist ja gleich!« Und übermütig sagte er noch, lachend: »Alles andere geht dich doch jetzt gar nichts mehr an. Ich bitte mir aus, daß du dich nicht in meine Sachen mischen wirst! Wer ist der Herr?«

Sie hielt die gefalteten Hände vor das Gesicht und biß in ihr Fleisch. »Ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld«, sagte sie vor sich hin. Und plötzlich schrie sie: »Aber dann tu's und frag' mich nicht erst und quäl mich nicht mehr! Tu, was du willst! Du bist ja doch stärker als ich.«

»Das gehört sich doch auch«, sagte er, in seiner kindischen Seligkeit.

Er wollte sie nehmen, aber noch einmal entwand sie sich ihm. »Komm, Kle!« sagte sie, ihm ruhig zuredend. »Sei doch einmal fünf Minuten vernünftig und hör mir zu! Du weißt, daß meine Mutter eine schwedische Masseurin war. Du weißt, daß ich ein uneheliches Kind bin. Du weißt, daß mein Vater, der Sohn einer armen kleinen Näherin in Triest, alles mögliche gewesen ist, Croupier und Agent bei Cook und Fechtmeister und, und – Kle, ich hab dir doch erzählt, wie lieb ich meinen Vater hatte, er war ein prachtvoller Mensch, aber, aber nach allem, was nun einmal in der Welt gilt, in der Welt, in der du leben mußt, ist er, wie sagt man nur? ja, Klemens, ein Glücksritter ist er gewesen, Klemens! Und nun denke nur, wenn wir wirklich heirateten und man erfährt, daß deine Frau –«

»Ich heirate die Baronin Scharrn«, sagte Klemens. »Für mich bist du die Baronin Scharrn. Bester preußischer Adel, gar nichts zu sagen. Und was vorher war, hat der verstorbene Baron Scharrn zu vertreten, Gott hab ihn selig! Und du bist doch wirklich ein Kind, wenn du glaubst, daß man es in unseren Familien so genau nimmt! Da darf man nirgends lange kratzen. Glücksritter, Raubritter ist ja noch gar nicht so schlimm! Überlaß das nur mir!«

»Und wenn dein Vater hört –«

»Mein Vater zerfließt vor Wonne, wenn er hört, daß dein Großvater der Kaiser von Mexiko war.«

»Aber Kle! Das ist doch gar nicht wahr!«

»Hast du mir nicht erzählt –?«

Sie lachte. »Wenn der Vater gut aufgelegt war, schwor er darauf, jener unbekannte Kapitän, der seine Mutter verführte, sei der nachmalige Kaiser Max gewesen. Aber daran ist doch kein wahres Wort! Mein Vater log so gern. Er wußte, daß ihm das so gut stand. Er war dann unwiderstehlich.« Und sie sah ihn lustig an und schüttelte den Kopf. »Nein, Kle, die Tochter meines Vaters kann man nicht heiraten. Das mußt du doch einsehen! So zum Liebhaben, ja, da mag sie ganz gut sein. Aber heiraten, Herr Bezirkshauptmann –!«

»Im Gegenteil!« sagte er übermütig. »Was der Baron Scharrn gekonnt hat, wird der freche Kle auch noch können. Ach, Afferl, wenn du wüßtest, wie froh ich eigentlich bin, daß du nicht irgendeine reguläre fade Nocken bist! Ich hab immer die Menschen so beneidet, die von unten kommen und gierige Hände haben und alle die Verzagtheiten nicht kennen, mit denen man uns feig und stumpf macht, von klein auf. Und ich wünsche mir doch so, auch einmal unbedenklich zuzugreifen, anders geht's doch heute gar nicht, man müßte halt auch einmal ein bißl gewissenlos sein!«

»Ein bißl«, sagte sie, mit leisem Spott.

Er hörte nicht und sagte nachdenklich, durch das stille Zimmer wandernd: »Man müßte nur einmal den Mut haben und etwas tun, wo man dann nicht mehr zurück kann! Dann wäre mir nicht bang. Dann treibt es einen schon. Und ich hätte schon Mut. Ich kenne die Bande doch! Wo sie nur eine Faust spürt, da kuscht sie und duckt sich. Ein Narr, wer sich von ihnen einfangen läßt! Mein Onkel, der Hofrat, der große Furnian, der hat's gewußt, der hat ihnen die Faust gezeigt! Ich will nicht der Narr wie mein Vater sein! Und wenn ich nur einen Menschen hätte, der mir helfen und an mich glauben könnte, der mit mir geht, der Mut hat und mir vertraut – Drut, Drut!« Er stand wieder vor ihr, sah sie zärtlich an und sagte: »Spürst du denn nicht, Drut, wie ich dich brauche! Mein ganzes Leben braucht dich doch! So wunderschön kann dann alles sein!«

»Es war doch so schön«, sagte sie, leise klagend. »Schöner kann nichts sein.«

»Ja du!« sagte er lustig. »Du bist und bleibst ein Hasenfuß! Aber das hilft dir alles nichts, kleine Prinzessin von Mexiko!«

Und er fing wieder durch das stille Zimmer zu wandern an, von seinen Plänen getrieben.

Plötzlich sagte sie kleinlaut: »Wenn du aber glaubst, Kle, daß ich Geld hab –! Da sieht's schlecht aus!«

»Wozu?« fragte er vergnügt. »Ich hab auch keins.«

Dann lachte sie hell auf: »Gott, bin ich dumm! Es geht ja gar nicht.«

»Was geht nicht?«

»Da muß man doch Papiere und allerhand Sachen haben, zum Heiraten, nicht? Die hab ich längst verkramt. Wenn nicht vielleicht die Alte sie hat!«

»Wir sind in Österreich«, sagte er vergnügt. »Und in Österreich, auf das du immer so schimpfst, mein liebes Kind, muß man gar nichts haben, wenn man jemand ist! Ich werde mit dem Herrn Bezirkshauptmann sprechen, da geht alles bei uns.«

Und er wanderte wieder, in seinen Plänen. Sie saß und sah hinaus. Lange schwiegen sie, bis sie mit ihrer klaren Kinderstimme sagte: »Schau, wie's schneit!«

Er kam und sah mit ihr hinaus.

Sie sagte: »Morgen früh stecken wir ganz im Schnee, da kannst du nicht fort.«

Er schlang den Arm um ihren Hals und sagte leise: »Jetzt wär's aber doch höchste Zeit, endlich vernünftig zu reden.«

Und mit seinen Lippen ihren armen Mund suchend, wiederholte er froh: »Wirklich vernünftig.«

Sie verstand ihn und sagte: »Ich hab dich lieb.« Und er sagte: »Ich hab dich lieb.«

Draußen zog der Schnee leise sein weißes Tuch über das schlafende Land.


 << zurück weiter >>