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12. Er ist gekommen.

Barfüßele stand eines Sonntags nachmittags nach ihrer Gewohnheit an die Thürpfoste des Hauses gelehnt und schaute träumend vor sich hin, da kam der Enkel des Kohlenmathes das Dorf heransgesprungen und winkte schon von ferne und rief:

»Er ist gekommen! Barfüßele, er ist gekommen!«

Barfüßele zitterten die Kniee, und mit bebender Stimme rief sie: »Wo ist er? wo?«

»Bei meinem Großvater im Moosbrunnenwald.«

,.Wo? Wer? Wer schickt dich?«

»Dein Dami. Er ist drunten im Wald.«

Barfüßele mußte sich auf die Steinbank vor dem Hause setzen, aber nur eine Minute, dann bezwang sie sich selbst, richtete sich straff auf mit den Worten: »Mein Dami? Mein Bruder?«

»Ja, des Barfüßeles Dami,« sagte der Knabe treuherzig, »und er hat mir versprochen, du gäbest mir einen Kreuzer, wenn ich zu dir Boten gehe und es dir sage; jetzt gib mir einen Kreuzer.«

»Mein Dami wird dir schon drei dafür geben.«

»O nein,« sagte der Knabe, »er hat ja zu meinem Großvater geheult, weil er keinen Kreuzer mehr habe.«

»Ich habe jetzt auch keinen,« sagte Barfüßele, »aber ich bleib' dir gut dafür.«

Sie ging schnell zurück ins Haus, bat die Nebenmagd, an ihrer Statt des Abends die Kühe zu melken, wenn sie zum Abend nicht wieder da sei; sie müsse schnell einen Gang machen. Mit Herzklopfen, bald im Zorn auf Dami, bald in Wehmut über ihn und sein Ungeschick, bald in Aerger, daß er wieder da sei, und dann wieder in Vorwürfen, daß sie ihrem einzigen Bruder so begegne, ging Barfüßele das Feld hinaus, das Thal hinab nach dem Moosbrunnenwald.

Der Weg zum Kohlenmathes war nicht zu verfehlen, ob man gleich von dem Fußweg abseits gehen mußte. Der Geruch des Meilers führte unfehlbar zu ihm. – Wie singen die Vögel in den Bäumen, und ein jammerndes Menschenkind wandelt drunter hin, und wie traurig muß es Dami sein, der das alles wiedersieht, und es muß ihm hart gegangen sein, wenn er keinen andern Ausweg mehr weiß, als heim und sich an dich hängen und dich aussaugen. Andere Schwestern haben von den Brüdern eine Hilfe, und ich . . . Aber ich will dir jetzt schon zeigen, Dami, du mußt bleiben, wo ich dich hinstelle, und darfst nicht zucken.

In solcherlei Gedanken ging Barfüßele dahin und war endlich beim Kohlenmathes angekommen. Aber sie sah hier nur den Kohlenmathes, der vor seiner Blockhütte beim Meiler saß und seine Holzpfeife mit beiden Händen hielt und rauchte, denn ein Köhler thut es seinem Meiler nach und raucht immer.

»Hat mich jemand zum Narren gehabt?« fragte sich Barfüßele. »O das wäre schändlich. Was thue ich denn den Menschen, daß sie mich zum Narren haben? Aber ich krieg's schon heraus, wer das angestellt hat; der soll mir's büßen.«

Mit geballter Faust und flammenrotem Gesicht stand sie jetzt vor dem Kohlenmathes. Dieser hob kaum das Antlitz nach ihr, viel weniger, daß er ein Wort redete; er war, so lang die Sonne schien, fast immer wortlos, und nur des Nachts, wenn ihm niemand ins Auge sehen konnte, sprach er viel und gern.

Barfüßele starrte eine Minute in das schwarze Antlitz des Köhlers und fragte dann zornig: »Wo ist mein Dami?«

Der Alte schüttelte mit dem Kopfe verneinend. Da fragte Barfüßele nochmals mit dem Fuße aufstampfend: »Ist mein Dami bei Euch?«

Der Alte legte die Hände auseinander und zeigte rechts und links, daß er nicht da sei.

»Wer hat denn zu mir geschickt?« fragte Barfüßele immer heftiger. »So redet doch!«

Der Köhler wies mit dem rechten Daumen nach der Seite, wo ein Fußweg sich um den Berg hinzog.

»Um Gottes willen, saget doch ein Wort,« drängte Barfüßele vor Zorn weinend, »nur ein einziges Wort. Ist mein Dami da, oder wo ist er!«

Endlich sagte der Alte: »Er ist da, dir entgegengegangen, den Fußweg,« und gleich als hätte er viel zu viel gesprochen, preßte er rasch die Lippen zusammen und ging um den Meiler.

Da stand nun Barfüßele und lachte höhnisch und wehmütig über den einfältigen Bruder. »Er schickt nach mir und bleibt doch nicht an einer Stelle, wo man ihn finden kann; und wenn ich jetzt den Weg hinaufgehe – wie konnte er nur glauben, daß ich den Fußweg gehe? das ist ihm jetzt gewiß auch eingefallen, und er geht einen andern und ist nicht mehr zu finden, und wir laufen um einander herum wie im Nebel.«

Barfüßele setzte sich still auf einen Baumstumpf, und in ihr brannte es wie in dem Meiler, die Flamme konnte nicht ausschlagen, sie mußte still in sich verkohlen. Die Vögel sangen, der Wald rauschte, ach, was ist das alles, wenn kein heller Ton im Herzen klingt . . . Wie aus einem Traume erinnerte sich jetzt Barfüßele, wie sie einst Liebesgedanken nachgehangen. Wie kommst du dazu, solches in dir aufkommen zu lassen? Hast du nicht Elend genug an dir und an deinem Bruder? Und der Gedanke dieser Liebe war ihr jetzt wie mitten im Winter die Erinnerung an einen hellen Sommertag. Man kann's nur glauben, daß es einst so sonnig warm gewesen, aber man weiß nichts mehr davon. Jetzt mußte sie lernen, was »Warten« heißt: hoch oben aus einer Spitze, wo kaum eine Hand breit Boden; und wenn du erst weißt, wie es ist, bist du im allen Elend und in noch größerem . . .

Sie ging hinein in die Blockhütte des Köhlers, da lag ein Sack locker und kaum halb voll, und auf dem Sacke stand der Name des Vaters.

»O wie bist du herumgeschleppt!« sagte sie fast laut. Sie ging aber schnell über die Erregung des Gemütes hinweg und wollte sehen, was denn Dami wieder mit zurückgebracht. »Er hat doch mindestens die guten Hemden noch, die du ihm von der Leinwand der schwarzen Marann' hast machen lassen? Und vielleicht ist auch ein Geschenk von dem Ohm aus Amerika darin. Aber wenn er noch etwas Ordentliches hätte, wäre er dann zuerst zum Kohlenmathes im Walde? Hätte er sich nicht gleich im Dorfe gezeigt?«

Barfüßele hatte Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen, denn das Sackbändel war wahrhaft kunstmäßig verknotet, und nur ihrer gewohnten Geschicklichkeit und Unablässigkeit gelang es, ihn endlich zu entwirren. Sie that alles heraus, was in dem Sacke war, und mit zornigem Blicke sagte sie vor sich hin: »O du Garnichts! da ist ja kein heiles Hemd mehr. Du hast jetzt die Wahl, ob du Bettellump oder Lumpenbettler heißen willst.«

Das war keine gute Stimmung, in der sie den Bruder zum erstenmal wieder begrüßen konnte, und dieser mochte es fühlen, denn er stand lauernd am Eingange der Blockhütte, bis Barfüßele wieder alles in den Sack gethan hatte. Dann trat er auf sie zu und sagte: »Grüß Gott, Amrei. Ich bringe dir nichts als schwarze Wäsche, aber du bist sauber und wirst mich auch wieder . . .«

»O lieber Dami, wie siehst du aus!« schrie Barfüßele und lag an seinem Halse, aber schnell riß sie sich wieder los und sagte: »Um Gottes willen, du riechst ja nach Branntwein. Bist du schon so weit?«

»Nein, der Kohlenmathes hat mir nur ein bißchen Wachholdergeist gegeben, ich hab' auf keinem Bein mehr stehen können; es ist mir schlecht gegangen, aber schlecht bin ich drum nicht geworden, das glaub' mir, ich kann dir's freilich nicht beweisen.«

»Ich glaub' dir. Du wirst doch das Einzige, was du auf der Welt hast, nicht betrügen? O wie verwildert und elend siehst du aus! Du hast ja einen großen Bart wie ein Scherenschleifer. Das leid' ich nicht, den mußt du herunter machen. Du bist doch sonst gesund? Es fehlt dir doch nichts?«

»Gesund bin ich und will Soldat werden.«

»Was du bist und was du wirst, das wollen wir schon noch überlegen; jetzt sag, wie es dir ergangen ist.«

Dami stieß ein Scheit halbverbranntes Holz, von den sogenannten unbrauchbaren Bränden, mit dem Fuße weg und sagte: »Siehst du? Grad so bin ich; nicht ganz Kohle geworden und doch auch kein frisch Holz mehr.«

Barfüßele ermahnte ihn, er solle ohne Klagen erzählen, und nun berichtete Dami eine lange, lange Geschichte, wie er es beim Ohm nicht ausgehalten, wie hartherzig und eigennützig der sei, besonders aber, wie ihm die Frau jeden Bissen mißgönnt habe, den er im Hause genoß, wie er dann da und dort gearbeitet, aber immer mehr die Hartherzigkeit der Menschen erfahren habe; in Amerika da könnten die Menschen einen andern im Elend verkommen sehen und schauen nicht nach ihm um. Barfüßele mußte fast lachen, als in der Erzählung immer und immer wieder der Endreim vorkam: »Und da haben sie mich auf die Straße geworfen.« Sie konnte nicht umhin, einzuschalten: »Ja, so bist du, du läßt dich immer werfen. Bist schon als Kind so gewesen: wenn du einmal gestolpert bist, da hast du dich fallen lassen wie ein Stück Holz. Man muß aus dem Stolper auch einen Hopser machen, drum sagt man ja im Sprichwort: von Stolpe nach Danzig (tanz ich). Sei lustig. Weißt, was man thun muß, wenn einem die Menschen weh thun wollen?«

»Man muß ihnen aus dem Wege gehen.«

»Nein, man muß ihnen weh thun, wenn man kann, und am wehesten thut man ihnen, wenn man sich aufrecht erhält, und was vor sich bringt. Aber du stellst dich immer hin und sagst zur Welt: thu mir gut, thu mir bös, küß mich, schlag mich, wie du willst. – Das ist leicht. Du lässest dir alles geschehen, und dann hast Erbarmen mit dir selbst. Wär' mir auch recht, wenn mich ein anderes da und dort hinstellte, wenn ich's nicht selbst zu thun hätte; aber du mußt jetzt selbst Einsteher für dich sein, hast dich genug in der Welt herumstoßen lassen, jetzt zeig einmal den Meister.«

Vorwürfe und Lehren werden einem Unglücklichen gegenüber oft zu ungerechten Härten, und auch Dami nahm die Worte der Schwester als solche. Es war fürchterlich, daß sie nicht einsah, wie er der unglücklichste Mensch auf der Welt sei. Sie konnte ihm streng vorhalten, daß er das nicht glauben möge, und wenn er es nicht glaube, so sei es auch nicht. Aber das Schwierigste von allem ist: einem Menschen den Glauben an sich beizubringen; die meisten gewinnen ihn erst, nachdem ihnen etwas gelungen ist.

Dami wollte der herzlosen Schwester kein Wort weiter erzählen, und erst später gelang es ihr, daß er ausführlich von seinen Fahrten und Schicksalen berichtete, und wie er zuletzt als Heizer auf einem Dampfschiff nach der alten Welt zurückgekehrt sei. Indem sie ihm jetzt seine selbstquälerische Weichmütigkeit vorhielt, ward sie inne, daß auch sie nicht frei davon war.

Durch den fast ausschließlichen Verkehr mit der schwarzen Marann' hatte sie sich gewöhnt, immer so viel von sich zu reden und an sich zu denken, und sie war in ein schweres Wesen geraten. Jetzt, indem sie den Bruder aufrichtete, that sie es auch unwillkürlich mit sich selbst; denn das ist die geheimnisvolle Macht des Menschenzusammenhanges, daß wir immer, indem wir andern helfen, uns selbst mit helfen.

»Wir haben vier gesunde Hände,« schloß sie, »und da wollen wir sehen, ob wir uns nicht durch die Welt durchschlagen, und durchschlagen ist tausendmal besser, als sich durchbetteln. Jetzt komm, Dami, jetzt komm mit heim.«

Dami wollte sich im Orte gar nicht zeigen, er fürchtete sich vor dem Gespötte, das von allen Seiten auf ihn losbreche, er wollte vorderhand noch versteckt bleiben; aber Barfüßele sagte: »Jetzt gehst mit, am hellen Sonntag, und mittendurch das Dorf und läßst dich ausspotten. Laß sie nur reden und deuten und lachen, dann bist du fertig und bist's los, hast den bittern Kolben auf einmal verschluckt und nicht tropfenweis.«

Erst nach vielem und heftigem Widerstreben, und erst nachdem der schweigsame Kohlenmathes auch sein Wort und Barfüßele recht gegeben hatte, ließ sich Dami führen. Und in der That hagelte und regnete es von allen Seiten bald grob, bald spitz auf des Barfüßeles Dami los, der auf Gemeindekosten eine Vergnügungsreise nach Amerika gemacht habe. Nur die schwarze Marann' nahm ihn freundlich auf, und ihr zweites Wort war: »Hast du nichts von meinem Johannes gehört?«

Dami konnte keine Kunde geben. Und in doppelter Weise mußte Dami heute Haare lassen, denn noch am Abend brachte Barfüßele den Bader, der ihm den wilden Vollbart abnehmen und ihm das landesübliche glatte Gesicht geben mußte.

Schon am andern Morgen wurde Dami aufs Rathaus beschieden, und da er davor zitterte – er wußte nicht, warum – versprach Barfüßele, ihn zu begleiten, und das war gut; wenn es gleich nicht viel half.

Der Gemeinderat verkündete Dami, daß er aus dem Orte ausgewiesen sei; er habe kein Recht, hier zu bleiben, um vielleicht der Gemeinde wiederum zur Last zu fallen.

Alle Gemeinderäte staunten, da Barfüßele hierauf erwiderte:

»Jawohl, ihr könnet ihn ausweisen; aber wisset ihr wann? Wenn ihr hinausgehen könnt auf den Kirchhof, dort wo unser Vater und unsere Mutter liegt, und wenn ihr zu den Begrabenen sagen könnt: »Auf! geht fort mit eurem Kind! – Dann könnt ihr ihn ausweisen. Man kann niemand ausweisen aus dem Ort, wo seine Eltern begraben sind, da ist er mehr als daheim; und wenn's tausend und tausendmal da in den Büchern steht – sie deutete auf die gebundenen Regierungsblätter – und anders stehen mag, es geht doch nicht, und ihr könnet nicht.«

Ein Gemeinderat sagte dem Schullehrer ins Ohr: »Diese Reden hat das Barfüßele von niemand anders gelernt als von der schwarzen Marann'!« Und der Heiligenpfleger neigte sich zum Schultheiß und sagte: »Warum duldest du, daß das Aschenbuttel so schreit? Klingle dem Schütz, er soll sie ins Narrenhäusle stecken.«

Der Schultheiß aber lächelte und erklärte Barfüßele, daß sich die Gemeinde von allen Ueberlasten, die ihr durch den Dami werden könnten, losgekauft habe, indem sie den größten Teil des Ueberfahrtsgeldes für ihn auslegte.

»Ja, wo ist er denn jetzt daheim?« fragte Barfüßele.

»Wo man ihn annimmt, aber hier nicht und vorderhand nirgends.«

»Ja, ich bin nirgends daheim,« sagte Dami, dem es fast wohl that, immer noch mehr unglücklich zu sein. Jetzt konnte doch niemand leugnen, daß es keinem Menschen auf der Welt schlechter ginge als ihm.

Barfüßele kämpfte noch dagegen, aber sie sah bald, hier half nichts; das Gesetz war wider sie, und nun beteuerte sie, daß ihr eher das Blut unter den Nägeln hervorfließen solle, ehe sie je wieder etwas für sich und ihren Bruder von der Gemeinde annehme, und sie versprach, alles Erhaltene zurückzuerstatten.

»Soll ich das auch ins Protokoll nehmen?« fragte der Gemeindeschreiber die Umsitzenden, und Barfüßele antwortete: »Ja, schreibet's nur, bei euch gilt ja doch nur das Geschriebene.«

Barfüßele unterzeichnete das Protokoll, aber als dies geschehen war, wurde dennoch Dami verkündet, daß er als Fremder die Erlaubnis habe, drei Tage im Dorfe zu bleiben; wenn er bis dahin kein Unterkommen gefunden, werde er ausgewiesen und nötigenfalls mit Zwangsmitteln über die Grenze gebracht.

Ohne weiter ein Wort zu sagen, verließ Barfüßele mit Dami das Rathaus, und Dami weinte darüber, daß sie ihn unnötig gezwungen habe, ins Dorf zurückzukehren; er wäre besser im Walde geblieben und hätte sich dadurch den Spott und jetzt den Kummer erspart, zu wissen, daß er aus seinem Heimatsorte als Fremder ausgewiesen sei. Barfüßele wollte ihm erwidern, daß es besser sei, wenn man alles klar wisse, und sei es auch das Herbste; aber sie verschluckte das, sie selber fühlte, daß sie alle Kraft brauche, um sich aufrecht zu erhalten; sie fühlte sich auch ausgewiesen mit ihrem Bruder, und sie empfand es, daß sie einer Welt gegenüberstand, die sich auf Macht und Gesetze stützte, und sie selber hatte nur die leere Hand; aber sie hielt sich jetzt aufrechter als je.

Das Ungeschick und Mißgeschick Damis drückte sie nicht nieder, denn so ist der Mensch: hat er ein Schmerzen, das ihn ganz erfüllt, trägt er ein anderes, und sei es noch so schwer, oft leichter, als wenn es allein gekommen wäre. Und weil Barfüßele ein unnennbares Weh empfand, gegen das sie nichts thun konnte, trug sie das nennbare, gegen das sie wirken konnte, um so williger und freier. Sie gönnte sich keine Minute der Träumerei mehr und ging immer mit straffen Armen und mit geballter Faust hin und her, als wollte sie sagen: wo ist denn die Arbeit? und sei es auch die schwerste, ich nehme sie über mich, wenn ich nur mich und meinen Bruder aus der Abhängigkeit und Verlassenheit herausbringe. Sie dachte jetzt selber daran, mit Dami ins Elsaß zu wandern und dort in einer Fabrik zu arbeiten. Es kam ihr schrecklich vor, daß sie das sollte; aber sie wollte sich dazu zwingen. Wenn nur der Sommer vorüber war, dann sollte es fortgehen, und lebewohl, Heimat! Wir sind ja auch in der Fremde, wo wir daheim sind.

Der nächste Annehmer, den die beiden Waisen in der Ortsregierung gehabt hatten, war jetzt machtlos. Der alte Rodelbauer lag schwer krank darnieder, und in der Nacht nach der stürmischen Gemeinderatssitzung verschied er.

Barfüßele und die schwarze Marann' waren diejenigen, die auf dem Kirchhofe bei seiner Beerdigung am meisten weinten. Ja, die schwarze Marann' sagte auf dem Heimwege noch als besonderen Grund: »Der Rodelbauer ist der letzte noch Lebende gewesen, mit dem ich einstmals in meinen jungen Jahren getanzt habe. Mein letzter Tänzer ist nun gestorben.«

Bald aber hielt sie ihm eine andere Nachrede, denn es zeigte sich, daß der Rodelbauer, der Barfüßele so jahrelang darauf vertröstet hatte, sie in seinem Testamente gar nicht erwähnte, viel weniger ihr etwas vererbte.

Als die schwarze Marann' gar nicht aufhören wollte mit Klagen und Schelten, sagte Barfüßele: »Das geht jetzt in einem hin, es ist jetzt einmal so, es hagelt jetzt von allen Seiten auf mich los, aber die Sonne wird schon wieder scheinen.«

Die Hinterlassenen des Rodelbauern schenkten indes Barfüßele einige Kleider des Alten; sie hätte sie gern zurückgewiesen, aber durfte sie es wagen, jetzt noch mehr Trotz kundzugeben? Auch Dami wollte die Kleider nicht annehmen, aber er mußte nachgeben. Es schien einmal sein Los, in den Kleidern allerlei Abgeschiedener sein Leben zu verbringen.

Der Kohlenmathes nahm Dami zu sich in den Wald zum Meiler, und Zuträger sagten dem Dami, er solle nur einen Prozeß anfangen, man könne ihn nicht ausweisen, weil er noch an keinem andern Orte angenommen sei; das sei stillschweigende Voraussetzung beim Aufgeben des Heimatsrechtes.

Die Leute schienen sich fast daran zu erlustigen, daß die armen Waisen weder Zeit noch Geld hatten, einen Rechtsstreit anzufangen.

Dami schien sich in der Einsamkeit des Waldes wohlzugefallen. Es war so nach seiner Art, daß man sich nicht an- und auszuziehen brauchte, und jedesmal am Sonntagnachmittag kostete es Barfüßele einen Kampf, bis sich Dami nur ein bißchen reinigte; dann saß sie bei ihm und dem Matthes, man sprach wenig, und Barfüßele konnte ihre Gedanken nicht abhalten, daß sie in der Irre umhergingen in der Welt und den suchten, der sie einst einen ganzen Tag so glücklich gemacht und in den Himmel gehoben hatte. Wußte er nichts mehr von ihr, und dachte er nicht mehr an sie? Kann denn der Mensch den andern vergessen, mit dem er einmal so glücklich war?

Es war am Sonntagmorgen gegen Ende Mai, alles war in der Kirche. Es hatte am Tage vorher geregnet. Ein frischer erquickender Atem hauchte von Berg und Thal, denn die Sonne schien hell hernieder. Auch Barfüßele hatte in die Kirche gehen wollen, aber sie lag wie festgebannt unter dem Fenster, während es läutete, und sie versäumte die Kirche. Das war seltsam und noch nie geschehen. Nun, da es zu spät war, entschloß sie sich, allein zu bleiben und daheim in ihrem Gesangbuche zu lesen. Sie kramte in ihrer Truhe und war überrascht von allerlei Sachen, die sie besaß. Sie saß auf dem Boden und las eben einen Gesang und summte ihn halblaut vor sich hin, da regte sich etwas am Fenster. Sie schaute sich um; eine weiße Taube steht auf dem Simse und schaut nach ihr, und wie sich die Blicke des Mädchens und der Taube begegnen, fliegt die Taube davon, und Barfüßele schaut ihr nach, wie sie hinausfliegt über das Feld und sich dort niederläßt.

Dieses Begegnis, das doch so natürlich war, macht sie plötzlich ganz froh, und sie nickt immer hinaus ins Weite nach den Bergen, nach Feld und Wald. Sie ist den ganzen Tag ungewöhnlich heiter. Sie kann nicht sagen, warum, es ist ihr, als ob ihr eine Freude in der Seele jauchzte, sie weiß nicht, woher sie kam. Und so oft sie auch am Mittag, an die Thürpfoste gelehnt, über die seltsame Erregung, die sie spürt, den Kopf schüttelt, sie weicht nicht von ihr. »Es muß sein, es muß doch sein, daß jemand gut an dich gedacht hat; und warum kann das nicht sein, daß so eine Taube der stille Bote ist, der mir das sagt? Die Tiere leben doch auch auf der Welt, wo die Gedanken der Menschen hin- und herfliegen, und wer weiß, ob sie nicht alles still davontragen.«

Die Menschen, die an Barfüßele vorübergingen, konnten nicht ahnen, was für ein seltsames Leben sich in ihr bewegte.


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