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Wo ist dein Bruder.

Dunkle stille Nacht war's, als Alban erwachte. Er griff um sich, und schaudernd prallte er zurück, er faßte ein Menschenantlitz. Die Erinnerung tauchte in ihm auf, das war Vinzenz, sein eines Auge glitzerte starr in der dunkeln Nacht. Er rief ihn mit Namen, er wusch ihm das Antlitz, kein Laut, keine Bewegung. Er legte sein Ohr an das Herz des Bruders. Ach zu spät! Dieses Herz schlug nicht mehr. Er rief laut um Hilfe zu Gott und den Menschen, vergebens, keine Antwort ertönte. Er raffte sich auf und trug den Bruder in den Armen am Bachesufer fort, er riß sich blutig an dem Felsen, aber er ließ nicht los. Jetzt schritt er in den Wald, aber er brach zusammen unter der Last, und laut weinend warf er sich auf sie nieder und sprang dann davon, durch die Nacht hin immer: »Vinzenz! Vinzenz!« rufend. Er stand vor dem elterlichen Hause, alles kam ihm entgegen.

»Wo ist dein Bruder?« fragte der Vater.

»Im Walde, tot,« stöhnte Alban, und ein Blutstrom quoll ihm bei diesen Worten aus dem Munde.

Der Vater riß die Axt aus der Thürpfoste und wollte auf Alban los, Alban kniete nieder wie ein Opferlamm; aber Dominik fiel dem Vater in den Arm und schleuderte ihn zurück mit den Worten:

»Habt Ihr nicht genug Elend, wollt Ihr noch mehr?«

»Du legst Hand an mich?« schrie der Furchenbauer

»Ja, ich,« erwiderte Dominik trotzig. Er hob Alban in die Höhe und fragte ihn, wo Vinzenz liege. Alban bezeichnete die Stelle, dort, wo er am Tage vorher im Unmute mit dem Beil das Geländer hinabgeschleudert hatte.

Die Knechte, die fremden Drescher, die in den Scheunen schliefen, wurden aufgeboten, und mit Fackeln zog man hinaus: Alban wollte mit, aber beim ersten Schritt brach er zusammen und mußte in die Stube getragen werden.

Durch den nächtigen Wald lief der Furchenbauer mit der Fackel und rief immer: »Vinzenz! Vinzenz!« so daß er zuletzt nur noch mit heiserer Stimme den Namen lallen konnte.

Es wurde Tag, aber das war kein Tag, ein fester Nebel stand über Berg und Thal, man ging in Wolken, man sah nicht Himmel, nicht Erde, kaum den Schritt breit, wo man stand. Im Haupthaar und im Barte des Furchenbauern stand der eisige Reif, und nur noch vor sich hin murmelte er den Namen: Vinzenz.

Man fand Vinzenz an der bezeichneten Stelle nicht, Alban mußte nicht recht gewußt haben, wo er ihn abgelegt.

Der Tag stieg höher, aber der Nebel wich nicht, er war mit Händen zu greifen, als sechs Mann auf einer Bahre aus Baumstämmen die Leiche des Vinzenz daher brachten. Unter dem Hofthore drückte ihm der Vater das eine Auge zu, dieses Auge, das so vorwurfsvoll drein starrte. Keine Thräne kam über die Wange des Furchenbauern, und starr schaute er auf die Frau und auf Ameile, die bei dem entsetzlichen Unglück doch weinen konnten.

Man hatte einen reitenden Boten nach dem Arzte geschickt, er kam zugleich mit dem Oberamtmann und dessen Frau, und bald darauf fuhr auch der Hirzenbauer in den Hof.

Der Nagelschmied mit seiner Vreni kam auch, und durch alle hindurch drang Vreni, und niemand wagte es, sie abzuhalten, daß sie zu dem Kranken eilte.

Wie war jetzt der Hof so voll von fremden Menschen, und von den eigenen war der eine Sohn tot, und der Arzt erklärte jeden Belebungsversuch vergebens, und der andre hatte vielleicht eine Todeswunde und raste mit seiner letzten Kraft!

Der Oberamtmann ging nach dem Felsen, um den Thatbestand in Augenschein zu nehmen, er fand die unverzeihliche Fahrlässigkeit: den Mangel eines Geländers. Die Oberamtmännin blieb bei den Frauen und erwies sich in allem ordnend und hilfreich.

Im Leibgedingstüble lag die Leiche des Vinzenz, der Vater saß dabei, und noch immer hörte man keinen Laut von ihm; das Wort, das zuerst über diese starren zusammengepreßten Lippen ging, mußte Zerschmetterndes bekunden. Als der Hirzenbauer zu dem Trauernden eintrat, wies er ihn mit der Hand hinaus und verhüllte sein Angesicht mit beiden Händen. Der Hirzenbauer ging, aber bald nach ihm trat der Gipsmüller ein; auch ihm wurde gewinkt, wegzugehen, aber er folgte nicht; er setzte sich, ohne ein Wort zu reden, neben seinen Schwager, und so saßen die beiden Männer stumm nebeneinander, vor ihnen die Leiche.

Im Hofe war es lautlos still, nur bisweilen hörte man den raschen Hufschlag eines Pferdes; kein Taktschlag aus den Scheunen ertönte, selbst die fremden Drescher, die nicht im Taglohn standen, feierten, ihre Hände zitterten noch, sie hatten die Leiche getragen, und auf dem Heu saßen sie bei einander und sprachen leise davon, wie elend doch auch der große Reichtum machen könne.

Alban war in Ruhe gesunken, der Arzt verordnete, daß man ihm Schnee aufs Haupt lege. Ein Drescher und der Kühbub wurden mit Kübeln nach dem zwei Stunden entfernten hohen Berge geschickt, wo es bereits geschneit haben sollte. Ein Knecht wurde mit einem der Fuchsen nach der Stadt in die Apotheke geschickt.

Um Mittag begannen die Drescher plötzlich zu dreschen, und Alban erwachte laut schreiend: »Wo ist dein Bruder?« Er klagte, daß ihm jeder Schlag das Hirn träfe. Dominik eilte, den Dreschern Einhalt zu thun. So viele Hände waren zu beschäftigen, und man dachte nicht daran, sie müßig zu lassen. Dominik befahl ihnen, die Aepfel auf den Wagen zu laden, der Furchenbauer hatte ihm gesagt, daß er sie heute abliefern wolle, und der Nagelschmied fand sich bereit, die Ablieferung zu übernehmen. Man konnte dem großen Leide im Hause in nichts beistehen, es blieb nichts übrig, als die Arbeit zu vollführen, die der Tag verlangte, Dominik wußte selber oft nicht, was er thun sollte, und stand oft mitten in einem raschen Gang müßig und selbstvergessen da, bis er dessen inne wurde und hin und her rannte und immer wieder vergaß, was er gewollt hatte. Ameile kam jetzt zu ihm, das Kind hing sich an ihren Rock und ließ nicht ab von ihr, sie sagte, man müsse das Aepfelschütteln aufgeben, Alban klage: das Poltern der Aepfel sei ihm, als schütte man die Schollen auf sein Grab. Jetzt endlich wurden die Arbeiter zum Müßiggang beordert.

Der Oberamtmann stand beim Hirzenbauer am Brunnen, und sie wogen miteinander hin und her abermals die Vorteile und Nachteile der geschlossenen Güter. Der Hirzenbauer sagte: »O, Herr Oberamtmann! Ich habe auf der Versammlung und öffentlich nicht alles sagen können, und ich mag's noch nicht sagen, was für Schandbarkeiten mit dem geschlossenen Erbgang verbunden sind. Der Furchenbauer da hat das traurige Glück gehabt, daß ihm fünf Kinder als klein gestorben sind. Ich weiß wohl, daß mit dem Zerteilen neues Unglück haufengenug kommt, aber kann man's anders machen, und darf man?« Der Oberamtmann war heute besonders freundlich mit dem Hirzenbauer, denn er erkannte den, wenn auch starren, doch reinen Gerechtigkeitssinn des Mannes.

Als der Hirzenbauer und der Oberamtmann mit seiner Frau wegfuhren, kam gerade der Kühbub mit einem Kübel voll Schnee, er war vorausgeeilt, der Drescher blieb klugerweise noch einige Stunden auf dem Berge, um dann mit frischem Schnee zu kommen. Bald traf auch der reitende Bote aus der Apotheke ein. Alban duldete niemand um sich als Vreni und Dominik, selbst die Mutter und Ameile durften sich ihm nicht nahen.

Einen Tag und eine Nacht saß der Furchenbauer bei der Leiche seines Sohnes und aß nicht und trank nicht und sprach kein Wort.

Als man am Morgen darauf die Leiche des Vinzenz zu Grabe führte, schwankte er am Stabe, den Alban ihm geschnitten, hinter der Leiche drein. Erst auf dem Kirchhof, wo er die eingesunkenen Kreuze an den Gräbern der Kinder sah, die Vinzenz vorausgegangen waren, brach er zum erstenmal in lautes und heftiges Weinen aus.

Auf der Heimfahrt – der Gipsmüller that es nicht anders, er mußte sich auf den Wagen setzen – sprach der Furchenbauer das erste Wort zu seinem Schwager, und die zitternde Hand erhebend sagte er:

»Gott hat mich hart gestraft, aber er hat mir doch recht gegeben, mein Gut bleibt doch bei einander.«

Gleich nach dem Leichenbegängnis führte der Nagelschmied Amrei nach Siebenhöfen. Seit der Zerrüttung des Hauses weinte das Kind unaufhörlich nach seiner Mutter und verging fast vor Heimweh.

Alban hatte nichts davon gemerkt, als man die Leiche seines Bruders fortbrachte, jetzt, da man das Kind fortführte, merkte er es auf seinem Krankenlager und sagte vor sich hin:

»B'hüt dich Gott, Amrei.«

Der Vater, der sich bisher gar nicht um Alban gekümmert, war jetzt sorglich bedacht um ihn; er hörte still nickend, daß Alban ruhig sei, aber keinen Schlaf finde; daß er alles bis aufs kleinste erzählt habe, wie es ihm ergangen und wie er dem Bruder im guten nachgeeilt sei; er nickte still zu diesen Berichten. Selber durfte er sich Alban noch am wenigsten nahen, denn dieser schrie wie rasend auf, als er zu ihm trat, und sogar wenn er ungesehen in der Stube war, merkte es der Kranke und war voll fieberischer Hast, die er augenscheinlich zu bekämpfen suchte.

Der Zustand Albans war veränderlich, der Arzt wollte trotz allen Drängens keinen ganz tröstlichen Bescheid gehen.

Eines Tages mußte alles die Stube verlassen, nur Dominik und Vreni durften zurückbleiben. Die beiden mußten Alban im Bett aufrichten, und er sprach:

»Dominik, es wird alles dein. Meinem Peiniger vertrau' ich's nicht. Gib mir deine Hand drauf, daß du dem Nagelschmied und meiner Vreni mein Erbteil gibst. Mein' Vreni ist vor Gott mein.«

Dominik reichte die Hand und sagte:

»Du bist nicht so krank, aber du kannst's gerichtlich machen, wenn du willst, wenn's dich beruhigt.«

»Ich will nichts mehr vom Gericht. . . . Familiensache. . . . Ich glaub' dir . . . und wenn du Kinder bekommst, sei gerecht. Gerechtigkeit. . . . Wo ist dein Bruder? . . . Gerechtigkeit . . .«

Das waren die letzten hellen Worte, die Alban sprach, er raste noch mehrere Tage besinnungslos und befand sich oft in der großen Volksversammlung und schrie: »Ruhe! Stille! Bravo!«

Mit den Worten: »Wo ist dein Bruder?« hauchte er seinen letzten Atem aus. Seine Wangen waren rot.

Als man dem Furchenbauer den Tod seines Sohnes berichtete, stampfte er zornig auf, und seine Faust ballte sich.

»Das ist sein letzter –« schrie er, er verschwieg die andern Worte. Er mochte es als eine Unthat seines Sohnes betrachten, daß er ihm durch den Tod seine letzte Hoffnung zerstörte, sein Gut kam in fremde Hand.

Bald nach Alban begrub man auch die Mutter, sie hatte niemand ihr Leid geklagt, und eines Morgens fand man sie tot im Bette.

Der Furchenbauer, der nun Dominik als einzigen Erben vor sich sah, redete ihm viel zu, daß er ihm verspreche, wenn er Kinder bekomme, das Gut nie zu teilen. Dominik weigerte dies und sagte zuletzt, er habe dem sterbenden Alban das Gelöbnis gegeben, gerecht gegen jedes seiner Kinder zu sein.

Der Furchenbauer ging starr und stumm im Hofe umher, er redete mit niemand und ging durch Stall und Scheunen wie ein Gespenst. Im Wald ließ er sich eine alte Tanne hauen, sie zu Brettern versägen und brachte sie selbst auf den Hof.

Im Frühling, am selben Tag, als der Nagelschmied mit seiner Familie auswanderte, fand mau den Furchenbauer plötzlich tot. Dunkle Gerüchte gingen über seine Todesart. Man hat nie etwas Bestimmtes darüber erfahren.


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