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Nicht mehr daheim.

Im Hause Luzians war's oft öde, als ob auf einmal alle Ruhe und Ansässigkeit daraus entflohen wäre. Wenn sonst alles ins Feld gegangen war, so blieb doch die Ahne zu Hause, und jeder Rückkehrende erhielt einen freundlichen Willkomm. Jetzt blieb sowohl Bäbi als die Frau nur ungern allein daheim; sie konnten da eine gewisse Bangigkeit nicht los werden, sie glaubten die Stimme der Ahne in der Nebenstube hören zu müssen. Aus dem Dorfe fand sich gar kein Besuch mehr ein, das Haus Luzians war wie ausgeschieden. Kam auch zum Feierabend bisweilen noch der Wendel, so hatte Luzian stets Heimliches mit ihm zu reden.

Dagegen kam der Doktor öfter, und seine Teilnahme war in der That eine innige. Bäbi war jetzt immer froh, wenn er kam, denn er erheiterte Luzian und brachte ihn oft zum Lachen, während dieser sonst immer ernst und nachdenklich einherging. Bäbi wußte nicht, was das zu bedeuten habe, daß der Vater mit einer gewissen Feierlichkeit fast tagtäglich Haus und Stall und Scheune durchmusterte, da und dort alles neu instandsetzte, während das Haus doch so wohlbehalten war, daß, wie Wendel einst sagte, man es dem Nagel an der Wand anmerke, daß er satt ist. Auch sprach der Vater oft davon, daß er doch die schönsten Aecker in der ganzen Gemarkung habe, und Bäbi wußte nicht, was er damit wolle; sie und die Mutter zerbrachen sich oft den Kopf darüber, und wenn die letztere es wagte, ihren Mann offen zu fragen, erwiderte er: »Du hast den ersten Gedanken gehabt. Du wirst bald alles erfahren. Man kann die Streu nicht schütteln, so lang man im Bett liegt.«

Wenn nun der Doktor öfter kam, verließ Bäbi die Stube nicht mehr, sie blieb vielmehr da und freute sich, wie herzlich der doch fremde Mann der Ahne gedachte, und wie harmlos er an allem teilnahm. Ja, sie wagte es öfter, mit drein zu reden, und Luzian sah sie manchmal verstohlen an, in Gedanken den Kopf wiegend, ob er wohl da seinen Schwiegersohn vor sich habe.

Der Herbst kam rasch herbei, und Luzian ließ außergewöhnlich schnell abdreschen. Er nahm die doppelte Anzahl Drescher von sonst und half vom Morgen bis zum späten Abend mit; dann ließ er ganz ungewohnter Weise alles Korn vermessen, ehe man es auf den Speicher brachte. Er wollte sogar das Heu abwiegen lassen, wenn das nicht zu viel Mühe gemacht hätte.

Wenn die ganze Familie beisammen war, schwebte seit dem Tode der Ahne ein versöhnter Geist unter ihnen.

Gleich tags darauf hatte die Frau zu Luzian gesagt:

»Seitdem die Mutter tot ist, ist es mir grad', wie wenn ich dir jetzt erst von neuem in ein fremd' Haus gefolgt und mit dir allein wäre. Lach' mich nicht aus, ich hab' so Heimweh wie ein Mädle nach der Hochzeit. Mein' Mutter ist nicht da, ich hab' sie sonst alles fragen können und war allfort daheim.«

»Du bist auch mein junges Weible, und jetzt geht erst eine neue Hochzeit an,« entgegnete Luzian.

»Ja,« fuhr die Frau fort, »ich möcht' jetzt alle Stund' bei dir bleiben, mich an deinen Rock hängen wie ein Kind an die Mutter, ich möcht' dir überall nachlaufen.«

So hatte sich ein neuer inniger Anschluß festgesetzt zwischen beiden Eheleuten, die schon das zweite Geschlecht aus ihrer Ehe aufwachsen sahen.

Ein Scheidebrief durchschnitt jetzt das neugeeinte Leben.

Am Mittag, gegen Ende Oktober, kam ein großes Schreiben mit einem großen Amtssiegel aus der Stadt. Luzian wendete das Schreiben mehrmals hin und her, ohne es zu eröffnen, er ahnte wohl seinen Inhalt; dennoch durchfuhr ihn ein Schreck, als er jetzt las. Er schaute rechts und links über seine Schulter, ob niemand da sei, der ihn fasse. In der Zuschrift stand, daß Luzian wegen freventlicher Störung des Gottesdienstes zu sechs Wochen bürgerlichem Gefängnis verurteilt sei. Da stand's in wenigen Worten; das war schnell gesagt, aber wie viel einsame trübe Stunden, Tage und Nächte waren darin eingeschlossen.

Luzian rief Bäbi und seine Frau in die Stube; er faßte die Hand der letzteren und sagte: »Margret, es ist jetzt alles im Haus im stand, ich muß auf sechs Wochen verreisen, nein, offen will ich dir's sagen, gelt, du bist ruhig und gescheit? Denk' an dein' Mutter! Also da steht's, ich muß wegen der Pfarrersgeschichte auf sechs Wochen in den Turm.«

Bei dem letzten Worte schrie die Frau gellend auf, aber Luzian beruhigte sie, und Bäbi sagte: »Ich geh' zum König und thu' einen Fußfall; das darf nicht sein. Lieber Gott! darf man so einen Mann einsperren wie einen Nichtsnutz? Sie müssen sich ja schämen.«

»Jetzt sei ruhig, Bäbi,« entgegnete Luzian, »ich muß geduldig über mich nehmen, was da draus kommt, daß ich die Wahrheit gesagt hab'. Denk' nur, wie viele Menschen den Tod haben darüber leiden müssen.«

Bäbi faltete still die Hände und drückte sie an ihre hochklopfende Brust.

Luzian wollte schnell seine Strafzeit vollführen.

»Man muß es machen, wie die Ahne gesagt hat,« bemerkte er, »man muß bei der Arznei, die man einmal schlucken muß, die Nas' zuhalten und schnell hinunter mit.«

Er ordnete noch alles rasch im Hause, und andern Tages schnürte er sich ein kleines Bündel, ritt nach der Stadt und stellte sich dem Oberamt zur Abbüßung. Der Oberamtmann riet ihm, doch an das Kreisgericht zu appellieren; der Doktor, der zugegen war, sagte: er wolle ihm ein Zeugnis geben, daß eine Gefängnisstrafe ihm bei seiner Blutfülle und Korpulenz eine Krankheit zuziehe; beide aber bestanden darauf, daß er antrage, das Gefängnis möge in eine Geldstrafe verwandelt werden. Luzian aber weigerte sich dessen und verlangte. nach seiner Zelle geführt zu werden.

»Ich hab' immer glaubt,« sagte Luzian, »mein' Sach' wird kriminalisch. Wenn mein' Sach', wie ich seh', nicht vor das öffentliche Schlußgericht kommt, so will ich meine Strafe, und jetzt, ich kann nicht mehr warten, bis nach einem halben Jahr eine andre Resolution kommt. Ich steh' mit einem Fuß im Steigbügel, ich habe beim öffentlichen Verfahren noch einmal vor aller Welt aussprechen wollen, was uns die Pfaffen anthun; damit sie alle, gute und schlechte, aufgeknüpft werden, wenn auch ein paar brave dabei sind; sie verdienen's doch, weil sie noch Geistliche bleiben; ich lass' es jetzt sein, ich bin der Mann nicht, der der Welt helfen kann. Zuerst muß ich jetzt noch ins Loch und dann 'naus zum Loch.«

Der Oberamtmann und der Doktor führten nun Luzian selber in sein Gefängnis; sie blieben nur eine Weile bei ihm, dann wurde die Thür geschlossen, und er war allein.

Bald nachdem er einige Stunden im Gefängnisse saß, kam ihm dieses doch ganz anders vor, als er gedacht hatte. Eine seltsame Lust hatte ihn rasch zur Abbüßung der Strafe greifen lassen; er war sein Lebenlang noch nie Tage und Wochen mit sich allein gewesen; er glaubte, alles müsse in ihm besser geschlichtet und geebnet werden, wenn er einmal so ungestört, von der ganzen Welt nichts wissend, in sich selbst hinabstiege; denn da drinnen war es bei alledem noch wirr und kraus. Auch empfand er eine eigentümliche Wollust darin, unverdiente Strafe abzubüßen; das gab ihm noch mehr Recht, sein lebenlang gegen die Pfafferei zu kämpfen.

Wenn der Luzian von heute auf den der vergangenen Monate hätte zurückschauen und ihn lebendig in allem seinem Thun erblicken können, er hätte sich gewundert über den, der jetzt zu solchen ganz ungewöhnlichen Gelüsten und Behaben gekommen war.

Nachdem er eine Weile auf der Pritsche geruht, erhob er sich plötzlich, und sein Blick schweifte an den Wänden umher, und – wie seltsame Verlangen steigen oft plötzlich in der Seele auf – er wollte in einen Spiegel schauen, um sein Aussehen zu betrachten. Lächelnd gewahrte er, daß dieses Stück Hausrat nirgends an den kahlen Wänden sich vorfand. Wozu sollten auch die Gefangenen dessen bedürfen? Sie erscheinen vor niemand, sie können mit sich machen, was sie wollen. »Ich möcht' nur einmal ein andrer Mensch sein und mich von weitem daher kommen sehen, wie ich da herumlaufe und was für ein Bursch ich eigentlich bin, wie man mich ansieht, was man von mir hat, ob man mich gleich für einen ehrlichen Kerl hält, so bei den ersten paar Worten. Warum weiß ich jetzt, wie mein Margret aussieht und der Wendel und der Doktor und der Pfarrer, und wenn ich malen könnt', könnt' ich sie dahin malen; und mich selber hab' ich doch auch genug geschaut, und ich weiß doch nicht, wie ich ausseh' . . . Mein Herz und meine Gedanken kenne ich auch nicht so, ich meine, ich kenne die von anderen Leuten viel besser, und doch kann und muß ich mich auf mich allein am besten verlassen . . . Was Reue. Es ist nichts nutz, wenn man uns allfort sagt, das und das hättest du besser machen müssen, oder wenn man sich selber vorschwatzt, ich möcht' um so und so viel Jahr jünger sein; nichts da, an dem läßt sich nichts mehr besteln und machen, heut, heut ist gesattelt. Wenn Gott sagt: heute, sagt: der Teufel: morgen, und der Pfaff sagt: gestern.«

Diese letzten Worte sprach Luzian mit den Lippen, aber ohne Stimme; es schien fast, als bete er ein stilles Gebet.

Wie schwer steigt sich's hinauf die Gedankenhöhen und hinab die Tiefen, wenn immer ein Gedanke sich auf den andern türmt und plötzlich kollernd wegrollt. Es bedarf da eines festen Steigers und kecken Springers. Luzian schaute zu dem vergitterten Fenster hinaus und horchte auf die verschiedenen Sangesweisen der über und unter ihm Eingekerkerten. Es kam ihm jetzt unfreundschaftlich vor, daß der Doktor und der Amtmann ihn so bald verlassen und seit so langer Zeit nicht wieder besucht hatten. Mußten sie nicht immer draußen auf Schritt und Tritt dran denken, daß er hier einsam eingekerkert sei? Konnten sie das nur einen Augenblick vergessen?

Armer Mensch, der du glaubst, dein Schicksal werde von einer andern Brust in der ganzen Ausbreitung seiner Folgen getragen.

Es wird Abend, die Thür knarrt, die Riegel werden heftig zugeschlagen, der Gefängniswärter tritt ein, ihm folgt Bäbi mit einem Hängekorb am Arm. Sie sagte ihrem Vater einfach: »Guten Abend« und ließ keinerlei heftige Kundgebung merken; dann erzählte sie, daß Egidi mit seiner Frau und den Kindern während des Vaters Abwesenheit bei der Mutter wohne, sie selber bleibe nun beim Vater und habe durch den Doktor die Erlaubnis vom Oberamtmann bekommen, ihrem Vater Gesellschaft zu leisten.

»Wer hat dich an den Doktor gewiesen?« fragte Luzian.

»Niemand, ich bin von selber zu ihm gangen, die Ahne selig hat recht gehabt, er ist gespässig, aber doch ein grundbraver Mensch, er ist gleich mit mir zum Oberamtmann.«

Luzian fixierte seine Tochter scharf und zog dabei die Brauen ein. Nach einer Weile sagte er wieder:

»Ja, du kannst doch aber nicht da schlafen?«

»O da ist schon fürgesorgt; ich schlaf' bei des Wendels Agath, die beim Oberamtmann dient, die Madam hat mir's schon erlaubt.«

Jetzt fühlte Luzian doch, daß es Herzen außer uns gibt, deren Pulsschlag der unsre ist.

Von nun an war Bäbi fast den ganzen Tag beim Vater, sie spann fleißig an der Kunkel, während Luzian in den Büchern las, die ihm der Amtmann und der Doktor gegeben hatten. Das Lesen ward ihm doch schwer; das war kein Geschäft für ihn, morgens beim Aufstehen, mittags wieder und abends noch einmal. Er hielt es in einem Zuge kaum länger als eine halbe Stunde aus, und wenn er dann wieder begann, las er das Alte noch einmal, weil es ihm vorkam, als ob er's nicht recht verstanden habe.

»Es ist etwas anders, wenn das Lesen ein Schleck (Leckerbissen), als wie wenn es ein Geschäft ist. Guck, deswegen habe ich mich auch im stillen immer davor gefürchtet, einmal Landtagsabgeordneter zu werden. Ich bin nicht so dumm, ich red' auch gern mit drein, wie man den Staat und die Gemeinde und wie man die Gesetze einrichten soll; aber das kann ich nur, wenn ich den Tag über geschafft hab'. Wenn ich so im Ständehaus, in dem großen Saal, bei den vielen Menschen vier, fünf, sechs Monate sitzen und weiter nichts thun sollte, als ein' Tag wie den andern von neuen Gesetzen, von den Finanzen und von all dem hören und da mitreden: mir ging der Trumm' (Faden) aus.«

So sagte Luzian zu seiner Bäbi. Bäbi übernahm es nun oft, dem Vater vorzulesen. Ein Buch besonders war es, das Luzian mächtig anzog und über das er viel sprach; es war das Leben Benjamin Franklins und dessen kleine Aufsätze.

»Ich geb' das Dutzend Evangelisten und die großen und kleinen Propheten drein für den einzigen Mann,« sagte Luzian einmal.

Der Doktor und der Oberamtmann kamen bisweilen gemeinsam, und ersterer noch öfter allein. Da gab es dann manche gute herzstärkende Gespräche, bei denen Bäbi still zuhorchte. Die Art des Doktors hatte etwas besonders Wohlthuendes. Man sah es wohl, auch der Oberamtmann bemühte sich, seine innere Leutseligkeit kund zu geben, aber er war und blieb doch etwas bockbeinig, wie es der Doktor einmal nannte. Dieser dagegen war harmlos lustig, er hatte sich im Ton nicht erst herunter zu spannen; sein Benehmen gegen Bäbi war ein durchaus unbefangenes, als ob er nie Ansprüche auf sie gemacht hätte und nie etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre. In der That betrachtete er die Sache als längst abgethan und erledigt, und eben dadurch gewann Bäbi eine gewisse verwandtschaftliche Zutraulichkeit zu ihm, wie zu einem Vetter. Das gestand sie ihm einmal, und er nannte sie seitdem nicht anders als »Jungfer Bäsle«.

Luzian betrachtete oft im stillen seine Tochter und den Arzt. Sollte sich da wirklich eine entschiedene Neigung festsetzen? Das kam ihm bei seinem Vorhaben sehr in die Quere, und doch griff er nicht ein.

Die Hälfte der Strafzeit war noch nicht um, als Luzian alle Bücher satt hatte und gar nichts Gedrucktes mehr lesen konnte. Er hatte zu viel Bücher auf einmal bekommen, das war gegen alle Gewohnheit von ehedem, und als ihm das eine nicht mundete, versuchte er es mit einem zweiten und so mit einem dritten; es gelang ihm dadurch nicht mehr, mit dem alten Appetit zu einem angebissenen zurückzukehren. Er blätterte darin, wollte da und dort einen Brocken holen und legte endlich das Ganze weg.

Es war Bäbi auch lächerlich, wie vielleicht vielen andern, aber Luzian ließ sich nicht davon abhalten; er setzte sich zu seiner Tochter an die Kunkel und lernte mit ihr den Flachs spinnen. Das war eine kleine Arbeit und allerdings nicht geeignet für einen Mann von so kraftvollem Baue wie Luzian, aber es war doch eine Arbeit; man hatte dabei nicht mit dem Kopfe zu thun wie immerfort beim Lesen. Bäbi sagte oft, sie thäte sich die Augen ausschämen, wenn ein Mensch sähe und wüßte, daß ihr Vater an der Kunkel sitzt und spinnt; aber Luzian gewann eine wirkliche Freude an diesem Thun, das ihm die Tage und Abende verkürzte, und wenn er so bei seiner Tochter saß und mit ihr spann, wie er es bald meisterlich verstand, so konnte er auch viel besser reden, als wenn er so arbeitsledig war. In den Stunden, in welchen Vater und Tochter an einem Rocken spannen, war es oft, als ob strahlende Seelenfaden sich aus einem Urquell hervorzögen zu einem heiligen Gewebe.

Luzian ging so weit, daß er einmal zu Bäbi sagte: »Ich hab's gar nicht gewußt, daß du . . . nicht so dumm bist.«

».Ja, ich hätt' sollen ein Bub werden, ich wollt' der Welt was aufzuraten geben,« sagte Bäbi keck.

Diese Tage des Gefängnisses wurden so für Bäbi die seligsten.

Wenn jemand die Treppe heraufkam, oder sich irgend eine Thür im Gefängnisturm bewegte, ließ Bäbi nicht ab, bis der Vater schnell von der Kunkel aufstand. Sie riß dann den Faden ab, damit niemand etwas von der gemeinsamen Arbeit merke. Nur die Mutter, die zum Besuche ihres Mannes kam, erfuhr von Luzians heimlicher Tätigkeit.

Auch ein neuer Besuch wiederholte sich bald täglich.

Es geschieht wohl oft, daß im Abscheiden aus altgewohnten Verhältnissen wir erst jetzt Personen und Beziehungen entdecken, die nun erst unsrer Erkenntnis oder unsrem Leben sich nahe stellen. Eine neue Hand faßt dich, und eine ungewohnte hält dich mit ungeahntem innigem Drucke. Wir scheiden aus dem alten Leben, das im letzten Momente ein unbekanntes neues geworden.

Der Pfarrer Rollenkopf, dem Luzian nur einmal im Walde begegnet war, suchte diesen jetzt im Gefängnis auf. Mit ihm vereint wollte er eine neue Gemeinde um sich scharen und dem alten Kirchentum entgegentreten. Er fand ungeahnten Widerstand. Er hielt Luzian vor, daß damit nichts gethan sei, wenn er sich selbst von der Kirche lossage, das sei kaum ein Splitter, der sich von dem gewaltigen Baue losbröckele, der Bau selber spüre nichts davon, er stehe in sich fest; es gelte darum, den Bau von innen heraus zu sprengen durch Bildung von Genossenschaften. Luzian erwiderte:

»Das Menschengeschlecht hat's jetzt seit so und so viel tausend Jahren probiert mit dem Zusammenthun in Glaubensgemeinschaften und Kirchen, und was ist dabei herauskommen? Ihr wisset's besser als ich. Jetzt mein' ich, probiert man's einmal so lang ohne Kirchen und Gemeinden; schlimmer kann's in keinem Fall werden.«

Als der Pfarrer ihm ein andermal eindringlich vorstellte, er möge doch der Hilflosen, der Leidenden und Kranken gedenken, denen ein geläuterter Glaube und die ewige Wahrheit im Worte Gottes Trost und Labung gewähre – entgegnete Luzian kurz:

»Arznei aus der Apotheke ist keine Kost für Gesunde.«

Nicht immer jedoch war Luzian gegen Rollenkopf so scharfschneidig gekehrt, vielmehr fühlte er sich meist angeglüht von dem edeln Feuereifer des jungen Mannes, dem noch dazu eine gewisse Schwermut anhaftete, weil er sich Vorwürfe darüber machte, daß er nicht früher und nicht freiwillig mit der Kirche gebrochen habe; er hätte dann seine Gemeinde, die ihm damals noch treulich anhing, mit sich aus der Kirche geführt.

Aber nicht nur der Pfarrer, sondern im Verein mit ihm bisweilen auch noch der Oberamtmann und der Doktor ergingen sich bei Luzian im Gefängnisse in den tiefsten Erörterungen über Religion und Kirche. Der Amtmann sagte einmal, es ließe sich ein neuer Phädon daraus gestaltest, wenn man nur einen Schnellschreiber zur Hand hätte. Sehr oft verliefen sich die Gespräche in solche geschichtliche und philosophische Erörterungen, daß Luzian still zuhörend wenig thätigen Teil daran nahm. Bäbi hörte gleichfalls mit der größten Anstrengung zu, eroberte aber nicht viel dabei.

Luzian gewann eine innige Liebe zu Rollenkopf und sprach mit seiner Bäbi oft davon. Diese aber war still, denn mitten unter den religiösen Debatten war dem exkommunizierten Pfarrer ein neues Leben aufgegangen. Mit dem tiefsten Schreck bemerkte Bäbi an den Blicken Rollenkopfs und an einzelnen Worten, daß er ihr anders zugethan sei als ein Beichtvater einem Beichtkinde, und trotzdem sie beide außerhalb der Kirche standen, sah sie in Rollenkopf doch stets den geweihten Priester.

Einst paßte Rollenkopf die Zeit ab, als Bäbi aus dem Turm nach dem Amthause ging, und gestand ihr offen, daß er sie heiraten, und sie zur neukatholischen Pfarrerin machen wolle. Bäbi glaubte in den Boden zu sinken, und antwortete rasch: »Ich heirat' gar nicht.«

Sie eilte zu ihrer Freundin, der sie aber nicht zu bekennen wagte, was ein Pfarrer ihr gesagt.

Wieder hatte Rollenkopf einmal den Heimgang Bäbis ins Amtshaus abgepaßt, aber auch der Doktor kam, und beide begleiteten sie nun. Bäbi kam's gar wundersam vor, solche Herren zu Begleitern zu haben. Sie berichtete das des Wendels Agath', und diese sagte: »Die beiden wollen dich heiraten und dein reiches Gut dazu; du bist auch eine recht anständige halbe Witfrau. Der Doktor sucht schon lange nach so einer, weil ihn die Mädle nicht mögen, und der Pfarrer braucht eine Ketzerin; aber ich hab' dir seit gestern zu sagen vergessen, daß des Paules Vater gestorben ist.«

»Das wird dem Paule doppelt weh thun, es muß einem schrecklich sein, wenn eines wegstirbt, mit dem man oft im Zank und Hader gewesen ist.«

»Es gibt Leut', die anders denken,« sagte Agath', »denen ist's im Gegenteil gerade recht, wenn sie so einen Polterteufel los sind. Jetzt ist der Paule und sein Haus noch einmal so viel wert. Was meinst jetzt?«

»Ich heirat' gar nicht,« erwiderte Bäbi.

Die kluge Tochter Wendels entgegnete: »Wenn das Wort eine Brück' sein sollt', da ging' ich auch nicht darüber, die bricht ein.«

Bäbi ging in ihre Kammer, und was sie längst abgethan glaubte, erwachte aufs neue und preßte ihr stille Thränen aus.


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