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Ein Kind im Walde und ein Ruf im Munde der Menschen.

Am Sonntagmorgen war es im Thalgrunde voll frischen Tauduftes. Die Tannen an der Sonnenhalde rauschten so geruhig im sanften Morgenwind, und die mächtig großen Jahresschosse, die sie in diesem Sommer angesetzt, glitzerten und flimmerten. Der Bach floß arbeitsledig dahin, still murmelnd wie ein vergnügter Spaziergänger; über ihm flog ein Schwalbenschwarm in kühnen Bogen auf und nieder, es waren die Alten, die die Jungen im Fluge übten zur weiten Fahrt übers Meer. Bald senkte sich die eine um die andre rasch hernieder, haschte einen frischen Morgentrunk aus dem Bache und reihte sich schnell wieder ein in den schwärmenden Kreis; unten aus dem Bache schossen die Fische nach der Oberfläche und haschten nach schwärmenden Mücken. Eine Goldammer saß auf der äußersten Spitze des Kirschbaumwipfels, sang unaufhörlich hinein in den blauen Himmel und wetzte sich immer wieder den Schnabel an dem Zweige, auf dem sie saß. Ruhe und sanfte Kühlung quoll aus Berg und Thal. Jetzt öffnete sich die Hausthür an der Waldmühle, und heraus trat eine Frau, die ein mit weißen Linnen bedecktes Kind in beiden Armen vor sich trug. Drei Frauen, mit Kränzen von künstlichen Blumen auf dem Haupte, folgten ihr, und bald auch kam Egidi in seinem langen blauen Rocke, den Hut in der Hand. Aus dem Stubenfenster oben schaute ein Mädchen den Weggehenden nach; es war Bäbi, die bei der Wöchnerin zurückblieb. Die Frauen trugen das Kind durch den Wald hinan dem Dorfe zu.

Da ist ein Kind geboren auf der einsamen Waldmühle, fern von der großen Gemeinschaft der Menschen, und es wird hingebracht in die heilige Versammlung, wo alles sich zusammenfindet von den einsamen Gehöften, und ausgesprochen wird, daß das Kind gehöre in den großen Bund der Menschen, der es tragen und halten muß, damit es einst ein lebendiges thatenreiches Glied desselben werde. Das Kind wird dann aus den Händen der Menschheit wieder zurückgegeben in die Arme der Mutter, an deren Brust es gedeiht, bis es sich selbst seinen Weg sucht und dann weiter schreitet in die Einigung der zerstreut wohnenden Menschen. Alle sollen es wissen, daß ihnen ein Bruder, eine Schwester geboren wurde, und die frommen Wünsche aller sollen es willkommen heißen, noch bevor es sie hört und sieht und versteht. Was soll es nun aber heißen, den Teufel aus dem neugeborenen Kinde austreiben? O schmähliche Verirrung des Menschenverstandes!

Das waren die bald klaren, bald dunkeln Gedanken, die an diesem Morgen durch die Seele Luzians zogen. Er verließ das Dorf, das ihm die Kirche verschloß, und ging dem Kind entgegen, hinab in den Wald. Als er dort die Frauen traf, zog er die Linnen weg von dem Antlitz des Kindes, und es schlug die großen blauen Augen nach ihm auf. Er legte ihm die Hand auf das Haupt, in welchem er den Pulsschlag fühlte. Er schüttelte den Tau von dem überhängenden Zweige einer Buche leise auf das Antlitz des Kindes und sprach mit einer Stimme, die aller Herzen erschütterte: »Das ist das ewige Weihwasser, mit dem ich dich begieße; werde rechtschaffen und liebevoll, wie es deine Großmutter Kordula war, deren Namen du tragen sollst.« Drauf schritt er rasch von dannen, und niemand sprach ein Wort, ja niemand wollte es wagen, ihm nachzuschauen; nur die Schwiegermutter Egidis hatte den Mut, rückwärts zu sehen, und sie sah, wie Luzian vom Wege ab tief in den Wald hineinsprang . . .

Als man jetzt vom Dorf her Glockengeläute vernahm, ermahnte man sich gegenseitig zur Eile, damit man noch zur rechten Zeit komme. Als der Taufzug vor dem Hause Luzians vorüber kam, öffnete sich kein Fenster, niemand kam zur Begleitung heraus.

Wir können dem Taufzug auch nicht in die Kirche folgen, wir müssen nur so viel berichten, daß im ganzen Dorf an diesem Sonntag über die traurige Taufe des Kindes gesprochen wurde, bei der die nächsten Anverwandten fehlten.

Wir müssen Luzian in den Wald folgen.

Er hätte sich gern in das dunkelste Dickicht vergraben, in eine Höhle sich versenkt, nur um den Menschen zu entfliehen; und doch zog es ihn wieder zu ihnen hin. Die Kirchenglocken tönten von allen Fernen und ließen das Rauschen des Waldes nicht so vernehmlich werden wie in jener stillen Nacht. Vor dem Geiste Luzians sproßte ein neuer Wald auf. »Ich habe einmal in einem Buch gelesen,« dachte er, »daß irgendwo die Eltern bei Geburt eines Kindes einen Baum pflanzen. Wie schön müßte so ein Menschenwald sein, wenn das jeder thäte, und die Gemeinde gibt einen Platz dazu her, und wenn der Mensch gestorben ist, und wenn der Baum keine Frucht mehr gibt, wird er umgehauen und zu etwas Nützlichem verwendet. Wie närrisch sind doch die Leute, daß sie glauben, es wäre etwas Höheres, wenn man aus einem Baum eine Kanzel, als wenn man einen Leiterwagen daraus macht; es ist ja alles gut, wenn's recht ist. Und was für freudige Versammlungen könnten sein, von den lebenden Menschen im grünen Menschenwald!«

Luzian war jetzt in der Stimmung, um sich in allerlei Schwärmerei zu verlieren, aber die Bande der Familie und des alltäglichen Wirkens hielten ihn fest.

Trotz der weihevollen Art, mit der er das Kind im Walde getauft, war heute schon ein häßlicher Zornesmut durch seine Seele gezogen. Die Frau war voll Jammerns und Klagens, sie sagte: »Mir ist so bang, so furchtsam, wie wenn in der nächsten Minut' ein großer Schrecken über mich kommen müßt', wie wenn eine Axt nach mir ausgeholt wäre und mir jetzt gleich das Hirn spaltete.«

Auf diese Rede hatte Luzian mit bitterem Wort entgegnet. Jetzt fiel ihm all' das wieder ein, und er dachte: »Es ist unrecht, daß du von den Deinigen Hilfe verlangst in der Not, im Gegenteil, du mußt ihnen Hilfe bringen, denn du hast ihnen die Not gebracht.«

Mit versöhnlichem Herzen kehrte Luzian heim. Er fand seine Frau gleich bereit, denn die Ahne hatte ihre Tochter scharf vorgenommen und ihr ins Herz gepflanzt, daß es jetzt gelte, die gelobte Treue zu bewähren; darum sagte Frau Margret nach Tische: »Luzian, mach nur, daß die Sache bei den Gerichten bald ein Ende hat, und dann wollen wir fort aus dem Dorf, ich geh' mit dir, wohin es sei, nur fort; ich wollte, ich könnte auch all' die Menschen aus meinem Gedächtnisse vergessen, die jetzt so gegen uns sind.«

»Ja,« sagte die Ahne, »wenn das die Religion ist, daß man einen verschimpfiert und einem Dinge nachsagt, woran sein Lebtag keins gedacht hat, da will ich lieber gar kein' Religion.«

Die Frauen hatten nämlich erfahren, daß man Luzian die gräßlichsten Unthaten nachredete. Man wollte in der Vergangenheit Belege für sein gegenwärtiges Handeln finden, und nichts war zu heilig, das man nicht antastete.

Es gibt Gedanken und Aussprüche, die, ohne unsre Seele zu treffen, sie doch so widrig beleidigen, wie wenn man nahe vor dem offenen Auge mit einer Messerspitze hin und her fährt. Wir scheuen uns fast, es zu sagen, aber es gehört mit zur Geschichte: selbst das Verhältnis Luzians zur Ahne wurde mit dem niedrigsten Geifer besudelt. Niemand konnte sagen, woher diese Nachreden kamen, man konnte die Urquelle nicht entdecken, sie sprangen aus dem Boden, da und dort; während man die eine verfolgte, brach die andre los.

Frau Margret eiferte über ihre Mutter, sie hätte Luzian nichts von dem Geschwätz sagen sollen; aber die Ahne sagte:

»Ich kenn' meinen Luzian. Wenn er auch alles Schlechte von den Menschen weiß, er wird doch keinen Haß auf sie werfen. Die Menschen sind mehr dumm als bös; den Kaiser Joseph haben sie vergiftet, und dir, Luzian, möchten sie gern dein gut Gemüt mit bösen Nachreden vergiften. Das geht aber nicht, gelt, ich kenn' dich? Ich trag' dein Herz in meinem Herzen.«

Luzian ließ sich nun alles erzählen: wie er schon lange im geheimen lutherisch sei und versprochen habe, die katholische Kirche zu beschimpfen, wie er die Waisen betrogen, wie er diesen und jenen zur Gant gebracht, um nachher dessen Acker aufzukaufen, und Hundertfältiges dieser Art. Er hörte es mit Gleichmut an. Ihm kam es vor, als ob man das von einem andern Menschen sagte; die Leute mußten ja selbst wissen, daß alles erlogen sei, dennoch stellte sich bei ihm ein Gefühl des Ekels und dabei eine stille, aber gründliche Verachtung ein. Er hatte es nie geglaubt, daß man es wagen könnte, seinen Namen mit derlei Dingen in Verbindung zu bringen. Auf der Straße faßte er diesen und jenen an und sagte: »Hast auch schon gehört? ich bin schon lang ein geheimer Lutherischer? Ich habe die Waisen betrogen, den und jenen in Gant gebracht.« – Die Verleumdung über das Verhältnis zur Ahne berührte er nicht, das war zu empörend. – »Nun, was sagst du dazu?« schloß er in der Regel seine Rede.

Natürlich ward ihm selten ein so heftiger Zornesausbruch darüber kundgegeben, als er erwarten mußte.

»Freilich, hab's auch gehört, es ist schändlich, aber du kannst die Leut' reden lassen,« so lautete in der Regel die Antwort.

Er rief manchmal zornig aus: »Du hättest dem ins Gesicht schlagen sollen, der so was über mich gesagt, und der Geschlagene wieder dem, der's ihm gesagt hat, und so wären wir zuletzt hinunter zu dem Maulwurf gekommen, der den Haufen aufwirft, und den hätt' man maustot gemacht.«

So erhaben sich auch Luzian über all' die Nachreden fühlte, so hatte er doch eine peinliche Empfindung darüber; ihm war's, als ob das innerste Heiligtum seines Lebens von ungeweihten Händen berührt worden wäre. So muß es frommen Gläubigen zu Mute sein, die ihr wundertätiges Heiligtum aus den Händen ungläubiger Räuber unversehrt wieder erringen. Ein Gefühl der Trauer verläßt sie nicht, daß man so freventlich damit umgegangen.

Wie die Speise, die sich in unser leibliches Leben verwandelt, so geht es auch leicht mit allen Erlebnissen, die wir in einer Zeit gewinnen, in der wir von einem einzigen Gedanken beherrscht sind; sie verwandeln sich unversehens in einen Teil dieses Denklebens, so fremd und beziehungslos sie auch anfangs erscheinen mochten. Zum erstenmal ging jetzt Luzian das Gefühl der Ehre in seiner Hoheit auf. Wohl hat sie ihre tiefste Wurzel in der Selbsterhaltung, aber eben dieser Ursprung tritt in ihr geläutert auf. Sich selbst ehren und alles so thun, daß man dies könne, das schließt die höchste Tugend in sich. Spricht aber die Religion nicht gerade aus, daß wir alles zur Ehre Gottes thun müssen? Wohl, alles zur Ehre des unvertilgbaren Heiligtums, das in uns gepflanzt ist. Warum lehrt die Religion immer und vorzugsweise, sich selbst gering achten? »Lernet euch selbst ehren, möchte ich den Menschen zurufen, du bist König und Priester, so du das Heiligtum der Ehre in dir auferbauest und rein erhältst.«


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