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Sie ziehen in die weite Welt.

Vroni war von der Mühle hereingekommen und blieb die ganze letzte Woche, sie schlief mit Lorle in einem Bette, und die Mädchen verplauderten oft die halben Nächte. Lorle konnte der Vroni nicht genug auf Herz legen, wie sie die Eltern pflegen solle, wenn sie nicht mehr da sei.

Am Vorabend der Hochzeit stand Lorle bei der Bärbel und weinte bitterlich, daß sie nun auch diese getreue Pflegerin verlassen solle; sie klagte, wie sie sich in der Stadt werde gar nicht zu helfen wissen, da sagte die Bärbel:

»Ich kann's nicht mehr, ich hab' ihm versprochen, daß ich nichts sagen will, aber es geht nicht. Sei ruhig, der Reinhard hat so lange an mir bittet und zerrt, daß ich jetzt zu euch nach der Stadt geh'. Sei heiter, ich bleib' bei dir, so lang du mich behältst.«

Lorle eilte zu Reinhard und umhalste ihn mit maßloser Innigkeit; sie verscheuchte ihm dadurch auch den Mißmut, den er soeben durch einen Brief des Kollaborators empfunden hatte; er hatte ihn als seinen einzigen Freund zur Hochzeit eingeladen; die abschlägige Antwort, die verweigerten Urlaub als Grund angab, war voll grämlicher Bitterkeit auch gegen Reinhard.

Am Hochzeitmorgen sah Reinhard Lorle nur einen Augenblick, und er sagte: »Mir ist so stolz und hoch zu Mut, wie einem König an seinem Krönungstage.«

»Nicht so, fromm sein,« erwiderte Lorle, das waren die einzigen Worte, die sie vor der Trauung mit ihm redete.

Lorle ließ sich noch in ihrer Dorftracht trauen. Als sie aus der Kirche kam, ging sie auf ihr Kämmerlein, um die Stadtkleider anzuziehen. Lange lag sie hier auf den Knieen und betete weinend: »Heiliger, guter Gott, ich will gern sterben, wann du willst, du hast mir bisher geholfen, ich will alles auf mich nehmen, ich hab' das erlebt, du bist gut und hast mich das erleben lassen, hilf mir gut sein, hilf!«

Sie richtete sich auf und rief Vroni, daß sie sie ankleide; sie zog keines der weit ausgeschnittenen seidenen Kleider an, sondern ein einfaches weißes, das bis an den Hals geschlossen war.

Ein jedes sah voll Freude auf Lorle, als sie herabkam, ihr Gang, jede Bewegung ihrer Hand, alles war so feierlich wie ein heiliger Choral.

Bei Tische ging's lustig her, der Wadeleswirt war überaus aufgeräumt und machte allerlei Späße. Lorle war's, als wäre sie verantwortlich für alle Reden ihres Vaters, und sie fand manches nicht am Platze; sie gäbelte nur immer so auf dem Teller herum, aß aber nichts, trotz aller Zureden. »Ich bin satt, ganz satt,« war ihre stete Entgegnung, die die vollste Wahrheit enthielt.

»Lasset's in Fried',« rief endlich der Wadeleswirt, »wenn das Lorle auch nichts ißt, meine Kinder sind g'fräßig und g'süffig, es schmeckt ihnen alles, sie kommen aus einem rauhen Stall; von deswegen, Professor, könnet Ihr mit meinem Lorle bis Paris reisen, es ist nicht schleckig.«

Nach dieser Rede schaute er rundum allen Leuten ins Gesicht, sich den Beifall zu holen, weil er so etwas gar Gescheites gesagt hatte; als aber niemand Lob zunickte, rief er, vom Wein erregt: »Zur Gesundheit, Herr Pfarrer, auf die neu' Kirch', und daß sie auch von innen . . . Ja ich hab' was, aber es wird nicht gesagt, von meinem Tochtermann, aber es wird vorher nichts gesagt.«

Die Tafelmusik spielte manche lustige Weise, und die Fröhlichkeit hatte noch lange nicht ihren Gipfelpunkt erreicht, als man jetzt in einer Pause Peitschenknallen vor der Thür vernahm: Reinhard und Lorle standen auf, alles folgte ihnen. Vor dem Hause stand das Wägelchen, das Gepäck war sorgsam festgebunden, der Rapp war angespannt, und Martin stand da und hielt das Leitseil.

Lorle sah immer auf den Boden, als sie über den Hof ging, als wäre überall etwas, das sie aufhielte, über das sie wegsteigen müsse. Die Hochzeitsgäste standen alle rings um das Wägelchen, da kam der Wendelin und übergab Lorle schluchzend eine Amsel, die er gefangen, in einem selbstverfertigten Käfig, Lorle sollte sie mitnehmen; man versprach ihm, daß die Bärbel sie mit nach der Stadt bringen werde, da sie nicht für die Reise tauge. Der Knabe ging still mit seinem Vogel davon. Der Wadeleswirt hatte die Peitsche vom Wägelchen genommen und hieb dem Rappen eines auf, daß dieser sich hoch aufbäumte und ihn Martin kaum halten konnte.

»Paß auf,« sagte jetzt der Wadeleswirt zu Reinhard, »wenn man von Haus wegfährt, muß man dem Gaul ein Fitzerle geben, daß er's auch weiß, daß man die Peitsch' bei sich hat; hernach braucht man sie oft den ganzen Weg nicht mehr. So ist's auch mit dem Weib. Man muß sie gleich von Anfang merken lassen, wer Meister ist, nachher ist's gut, und man kann die Peitsche ruhig neben sich hinstecken, aber das Leitseil muß man festhalten, rr! hu! Rapp! o oha!«

Der Wadeleswirt sah schmunzelnd auf ob seiner klugen Rede; er hatte heute Unglück, er konnte noch so Gescheites vorbringen, man hörte nicht recht darauf. Lorle stand an die Mutter gelehnt und weinte; es war, als wollte sie zusammenbrechen vor Schmerz. Die Mutter sagte: »Alter, du könntest auch was Besseres reden zum Abschied, wenn ein Kind fortgeht, kann sein auf ewig.« – Sie preßte die Lippen zusammen, sie konnte nicht weiter sprechen.

Dem Wirt war's plötzlich, wie wenn man ihm einen Kübel Wasser über den Kopf schüttete; er legte die Peitsche auf das Wägelchen und sagte:

»Nu, nu. nu, nur stet. Lorle, ich will dir was sagen, heul nicht; wenn du Geld brauchst, was dir fehlt, was es ist, du weißt, du hast einen Vater, und wenn's einen Buben gibt, weißt, wo du die Gevattersleut' holst, verstanden? Jetzt heul nicht, ich kann das Heulen nicht leiden; heul nicht, oder ich laß dich bigott nicht vom Fleck.« – Er schlug sich den Hut tiefer in den Kopf, ballte beide Fäuste und fuhr fort: »Du bist mir nicht feil, nicht um ein' Million. Professor, komm her; wenn du noch Reu' hast, komm her, kannst mir mein Lorle da lassen, bleib daheim, Lorle!«

Die junge Frau schlug lächelnd die Augen auf und reichte dem Vater die Hand, dieser fuhr fort: »Professor, jetzt hör noch eins, ich will dir was sagen, bleib da mit samt dem Lorle; wirf denen in der Stadt den Bettel vor die Thür, du brauchst's nicht, du bist mein Tochtermann und übernimmst die Wirtschaft, du kannst Lindenwirt sein, ich übergeb' dir alles, wir ziehen ins Unterstüble; laß abpacken, bleibet da.«

»Und meine Kunst und mein Geschäft?« fragte Reinhard.

»Ja freilich, davon versteh' ich nichts,« antwortete der Vater, er hielt Lorles Hand in der seinen und schärfte sich die Lippen mit den Zähnen; das sollte die Bewegung, die sich seines Antlitzes bemächtigte, zurückdämmen.

Die Mutter nahm Reinhard beiseite und sagte: »Habt nur immer ein getreu Aug' auf mein Lorle, so gibt's kein Kind mehr, soweit der Himmel blau ist; es hat ein gar lindes Herz, und wenn es einen Kummer hat, verdruckt es ihn in sich hinein, wenn's ihm auch schier das Herz abstoßt und . . . sorget dafür, daß es sich in den Stadtkleidern nicht verkältet, es ist nicht dran gewohnt, und lasset ihm ein Fleischsüpple kochen, wo ihr über Nacht bleibet, es muß sie essen, es muß, es hat heut noch keinen Bissen übers Herz bracht und . . . und denket auch oft an Eure Mutter im Himmel . . . und b'hüt Euch Gott.«

Mit Lorle sprach die Mutter selbst gar nichts mehr, sie streichelte nur immer den schönen Mantel, den sie über hatte, und fragte: »Hast auch warm? Nimm dich nur in acht, es wird kühl gegen Abend, besonders im Fahren.«

Lorle nickte bejahend, sie konnte nicht mehr reden.

Jetzt rief der Wadeleswirt: »Stephan! bring noch ein' Bouteille Altweiberwein auf den Gaul. Ich bring' dir's, Professor, trink, und Lorle trink auch, du mußt.«

»Ja,« sagte die Mutter, »trink, es g'wärmt.«

Lorle mußte zuletzt noch trinken; eine Thräne fiel in das Glas.

Nun wurde sie in das Wägelchen gehoben, und als Reinhard eben auch hinaufwollte, gab ihm der Wadeleswirt noch einen derben Schlag und sagte:

»Mach, daß du fortkommst, du Lump, du schlechter Kerle, du Heidenbub', nimmst mir mein Mädle mit fort.«

Das waren lauter Liebkosungen, und Lorle mußte unter Thränen lachen.

»Jetzt hü! in Gottes Namen, fahr zu!« rief der Wadeleswirt.

Die Musikanten, die bisher still zugeschaut hatten, spielten einen lustigen Marsch, und fort rollte das Wägelchen . . .

Wer je dabei stand, wie ihm ein Liebes entführt wurde und die ganze Seele drängt sich den Entfernenden nach, der mag mitfühlen, wie es den Eltern zu Mute war, als ihr Kind dahinzog. Die Mutter stand da, und ihr war's, als wanke der Boden unter ihr, als werde sie ebenfalls fortgezogen, und nichts stehe mehr fest; ihr Kind, das sie unter dem Herzen getragen, über das ihr Auge wachte, so manches Jahr in stillen Nächten wie im Lärm des Tages, dahin, dahin – und doch hielt sie die Hand festgeschlossen, als fasse sie ihr fern hinziehendes Kind an einem Geistesbande. Endlich schrie sie laut auf und fiel ihrem Mann um den Hals. Alles sah gerührt auf die beiden. Der Pfarrer bemühte sich, die Trauernden durch Trostesworte aufzurichten; die Mutter wendete ihm ihr thränennasses Antlitz zu und schüttelte den Kopf verneinend, der Wadeleswirt aber sagte: »Das ist jetzt alles gut, ja, ja, aber da könnet Ihr nicht mitreden. Herr Pfarrer, das könnet Ihr nicht wissen, was das heißt, ein Kind, sein Kind weggeben.«

Der Pfarrer schwieg.

»Komm 'rein, Alte,« sagte der Wadeleswirt nun, seine Frau unterm Arm fassend, was er fast nie that, »komm, jetzt müssen wir uns halt wieder allein gern haben. Von Anfang wie wir gehaust haben, haben wir keine Kinder gehabt, und jetzt haben wir bald wieder keine daheim, komm, wir wollen noch ein Tänzle machen; Spielleut', hellauf!«

In der Wirtsstube war der Wadeleswirt froh, seinen Gram in Zorn verwandeln zu können; er schimpfte auf die neue Mode, daß man alsbald nach dem Hochzeitstisch wegfahre und den Tanz allein lasse: »das ist ja wie ein Kindbett ohne Kind,« sagte er immer.

Lorle war indes mit Reinhard rasch dahingefahren, ohne sich umzuschauen, sie hielt sich fest am Wagensitz, es war ihr, als ob sie jetzt zum erstenmal in ihrem Leben auf einem Wägelchen sitze: da steigt man auf ein hohes Gestell und läßt sich fortrollen und bewegt sich nicht selber. »Wir fahren fort« – sagte sie zu Reinhard, er wußte nicht, was das zu bedeuten habe.

Vor dem Dorfe saß Wendelin mit seinem Käfig am Wegraine. Als die Hochzeitsleute ihm nahe kamen, nahm er den Vogel heraus und hielt ihn hoch hinauf den Fahrenden hin. War's freiwillig oder von ungefähr? Der Vogel entwischte der Hand und flog davon. Wendelin kehrte mit dem leeren Käfig heim.

Wortlos fuhr das junge Ehepaar dahin, Lorle hatte so viele Gedanken, daß sie eigentlich keinen bestimmten hatte. Als man jetzt an der Steige hielt, wo gesperrt wurde, sagte sie: »Fahr nur stet, Martin. Warum hast du denn den Rappen eingespannt, der geht ja nicht gern in der Lanne? Komm, Reinhard, wir wollen auch absteigen.«

»Wollen wir nicht lieber sitzen bleiben? Doch, wie du willst.«

Reinhard sprang vom Wägelchen, er half nun auch Lorle und hielt sie eine Weile auf beiden Händen frei in der Luft, bis sie rief: »So laß mich doch auf den Boden.«

Im Weitergehen sagte Reinhard: »Wie ich dich frei in der Luft gehalten, so habe ich dich hinweggehoben von deinem Boden; ich allein halte dich, du bist mein, vor allen Menschen der Welt, vor allen.«

Lorle wußte nicht recht, was er damit sagen wollte, sie meinte nur, er habe gesagt, daß er viel stärker als sie und ihr Herr sei; sie ließ sich das gern gefallen.

»Denkst du noch, was du träumt hast?« fragte sie jetzt.

Reinhard hatte den Traum von der ersten Nacht im Dorf völlig vergessen, Lorle beteuerte aber bei der Wiedererzählung, daß sie sich deshalb nicht im mindesten fürchte. »Ich glaub' nicht an Träum',« versicherte sie, »ich hab' schon mehr als zehnmal träumt, mein Vater sei gestorben und ich hinter der Leich' drein gangen, und er ist doch mit Gottes Hilf' noch frisch und gesund, aber es macht mir doch bang, daß er so dick wird und nimmer gern laufen mag. Wenn ich nur wüßt', wie es ihm jetzt geht. Es ist mir, wie wenn ich ihn schon ewig lang nicht gesehen hätt', aber nein, jetzt sind sie daheim am Geschirraufspülen; da werden sie vor zehn in der Nacht nicht fertig, und des Wendelins Mutter, die hilft, die ist so ungeschickt und läßt alles aus der Hand fallen.«

»Laß jetzt die Bärbel am Spülstein und sei bei mir,« entgegnete Reinhard.

»Ja, ja, jetzt schwätz aber auch du, ich bring' sonst lauter dumm' Zeug vor.«

»Wir brauchen gar nicht reden, wenn ich dich nur hab'.«

»Ist mir auch recht.«

Man war in G., der nächsten Stadt, angekommen; Reinhard und Lorle aßen allein auf ihrem Zimmer, er gab ihr die ersten Löffel Suppe zu essen wie einem Kinde, sie ließ sich's gefallen, dann aber griff sie selber tapfer zu. Als abgegessen war, stellte Lorle die Teller aufeinander, schüttelte das Tischtuch zum Fenster hinaus ab und legte es in die kenntlichen Falten.

»Da sieht man die Wirtstochter,« sagte Reinhard lachend, »das brauchst du nicht zu thun, das kann der Kellner.«

»Laß mich nur,« entgegnete Lorle, »ich kann's nicht leiden, wenn abgegessen ist und das Geschirr steht noch auf dem Tisch.«

Er ließ sie gewähren und nannte sie sein Hausmütterchen, das ihm jede fremde Wohnung zur Heimat mache. Sie saßen nun ruhig aneinander gelehnt beisammen, aber plötzlich fiel Reinhard vor ihr nieder, umfaßte ihre Kniee und rief schluchzend und weinend:

»Ich bin dich nicht wert, du Reine, Holde.«

Lorle hob ihn auf und tröstete ihn, dann aber sagte sie: »Jetzt hab' ich auch eine Bitt', wir wollen weiter fahren, es ist ja so schön mondhell; thu's mir zulieb, lieber Reinhard.«

Die beiden fuhren weiter durch die mondbeglänzte Nacht in stillem Entzücken.

Lorle gedachte aber auch oft nach Hause, sie hätte gar zu gern gewußt, ob sie jetzt wohl schon schlafen gehen oder ob sie noch tanzen. Einmal sagte sie zu Reinhard: »Kennst du noch den schönen Dreher, den sie aufgespielt haben, wie wir daheim fortgefahren sind? Mir ist's allfort, wie wenn ich Musik hör'.«

Zur selben Zeit war zu Hause die Mutter hinaufgegangen in Lorles Kämmerchen, und als sie hier das Bett des Kindes sah, konnte sie sich erst recht ausweinen; sie blickte lange hinein in den Mond und ging dann endlich still hinab.

Der Tanz hatte bald geendet, denn man mußte sich aufsparen für den nächsten Sonntag, da die Einweihung der Kirche stattfinden sollte.

Martin fuhr das junge Ehepaar noch drei Tage, und Lorle war's immer, als ob das nur eine Spazierfahrt wäre, von der sie morgen wieder nach Hause kehrten, und alles bliebe im alten Gange.

Hatte die Verlobung auf Lorle einen so tiefen Eindruck gemacht, während sie Reinhard nur wenig berührte, so war dies jetzt mit der Trauung umgekehrt. Durch die Verlobung sah sich Lorle dem ganzen Dorf gegenüber als eine ganz neue Person an, und für sie war schon damals der Bund unauflöslich geschlossen; Reinhard dagegen, der der weiten Welt angehörte, kam sich jetzt in ihr wie ein ganz andrer Mensch vor, durch ein unauflösliches Band mit einem Wesen außer ihm verbunden, er, der sonst so ganz allein war – ihm war's, als ob die Bäume und Berge ihn neu anschauten, als hätte alles ein andres Leben gewonnen, weil er selber ein andres begann.

Eine Eigenheit Lorles, die wohl zum Teil noch vom strengen Regiment ihres Vaters herrührte, wesentlich aber auch aus ihrem Mitgefühl für Mensch und Vieh stammte, war die, daß sie in fieberischer Unruhe war, sobald das Wägelchen vor dem Hause angespannt stand. »Es ist mir, wie wenn ich selber angespannt wär',« sagte sie auf die Zurechtweisung Reinhards. Um ihr solche Hast und Unruhe abzugewöhnen, zögerte Reinhard nun noch viel bequemer und behaglicher als sonst bei der Abfahrt, und Lorle entschuldigte sich jedesmal bei Martin, daß sie ihn so lang warten ließen.

Am dritten Abend, vom »Dreikönig« in Basel aus, machte sich Martin auf den Heimweg. Tief im Herzen weh that Lorle diese letzte Trennung von ihrem eigenen Wägelchen, vom Rapp und besonders vom Martin, und sie sagte: »Viel tausend Grüß' an alle daheim, so viel Grüß', als nur auf den Wagen gehen und der Rapp ziehen kann.«

Während Lorle dem Wegfahrenden nachtrauerte, sagte Reinhard, sie tröstend: »Sei fröhlich, laß die ganze Welt hinter dir versinken; ich habe dich herausgetragen aus dem Strom des gewohnten Lebens, wir sind allein, ganz allein. Denk jetzt nicht mehr heim.«

Heute zum erstenmal speisten sie auch an der öffentlichen Wirtstafel. Reinhard wollte Lorle zerstreuen, und doch ward er übellaunig, als ihm dies gelang. Lorles Tischnachbar, ein lustig aussehender junger Mann, sagte zu ihr: »Sie sind gewiß eine fertige Klavierspielerin, gnädige Frau?«

»Ei warum?«

»Die Klavierspielerinnen gebrauchen die linke Hand wie die rechte, sie reichen sie oft beim Gruße.«

»Nein, ich kann nicht Klavier spielen, wir haben aber daheim ein eigen Klavier; mein Vater hat gewollt, ich soll's lernen, ich hab' aber kein' Geduld gehabt und hab' mich auch geschämt, so nichts zu thun. Das ist bloß eine üble Angewohnheit von mir mit der linken Hand.«

Der junge Mann war äußerst verbindlich und verwickelte Lorle bei jedem frischen Gerichte in ein neues Gespräch, so sehr sich auch Reinhard Mühe gab, selber das Wort zu ergreifen und Lorle an sich zu ziehen; der Fremde hatte alsbald wieder Lorle zum Reden gebracht und machte sie oft laut lachen. Reinhard war fest überzeugt, daß der Fremde sich über sie lustig mache, obgleich er eigentlich keinen Grund dafür angeben konnte, er war voll Zorn und fand doch keine Gelegenheit, ihn auszulassen. – Auf dem Zimmer bedeutete er dann Lorle, daß es sich für eine Frau nicht schicke, an einer öffentlichen Tafel so laut zu lachen, und daß es überhaupt nicht passe, mit jedem Nachbar zu reden. Gegen letzteres wehrte sich Lorle, sie behauptete, wenn man mit jemanden von einer Schüssel esse, müsse man auch mit ihm reden, sie habe im Gegenteil die andern bemitleidet, die für sich gegessen hätten, wie ein Krankes auf seinem einsamen Bette. Daß sie sich das Linkische abgewöhnen solle, gab sie zu, obgleich Reinhard das früher so schön gefunden habe.

»Bist du mir nun bös?«

»Ach Gott im Himmel, warum denn? Du bist ja so gut.«

»Du mußt auch manches an mir ändern, du mußt mir nicht nachgeben; wir wollen uns vornehmen, einander zu bessern.«

»Nichts so vornehmen, gradaus sein,« entgegnete Lorle. Sie konnte sich nicht leicht eine Norm und Richtschnur machen, sie lebte und handelte aus der Sicherheit ihres Naturells; während Reinhard, von den besten Anflügen erfaßt, sich das Edelste vorsetzte, dabei aber doch meist, wenn's drauf und dran kam, aus der augenblicklichen Stimmung handelte.

Nun ging's hinein in die Pracht der Alpenwelt.

Beim Alpenglühen rief Lorle einmal aus: »Reinhard, sag, ist's denn im Himmel schöner?«

»Gutes, herziges Kind, das kann ich auch nicht wissen.«

»Nicht Kind sagen,« bemerkte Lorle.

»Nun denn, Engel, ja du bist's; ich weiß nun, wie's im Himmel ist, ich bin bei dir.«

Die untergehende Sonne überglühte zwei selig Umschlungene.

Reinhard hatte eine willige Zuhörerin, indem er nun auf den Wanderungen die Schönheiten der Natur und die malerischen Gesichtspunkte erklärte; Lorle hörte ihn immer gern sprechen, auch wenn sie ihn nicht ganz begriff. Bisweilen machte sie auch eine Abschweifung, indem sie ihn auf den Stand der Kartoffeln aufmerksam machte, und wie die Ochsen ganz anders eingespannt seien als daheim. Schnitten solche Anmerkungen auch oft eine begeisterte Auseinandersetzung entzwei, so nahm Reinhard sie in Geduld wieder auf. Eine Eigentümlichkeit offenbarte sich bei diesen Auseinandersetzungen: Reinhard hatte bis jetzt durchaus im Dialekt mit Lorle gesprochen, zwar ohne Vorsatz, denn es ergab sich von selbst, auch war ihm wohl und heimisch dabei; nun aber war's ihm oft, als hätte er mit seiner Seele eine Fastnachtsmummerei vorgenommen, es war ihm ein fremdes Kleid für den Werktag, er fühlte, daß die ganze Welt der Reflexion, der Allgemeingedanken, keine rechte Heimat im Dialekte hatte; alles Persönliche konnte er darin kundgeben, aber nichts, was darüber hinausging. Er bat daher auch Lorle, sich nach und nach mehr an das Hochdeutsche zu gewöhnen, und sie versprach's willfährig; sie sah immer staunend an ihm hinauf, wenn er so Herrliches redete, und sie sagte einmal:

»Du hättest doch eine Gescheitere oder gar nicht heiraten sollen, aber nein, es hat dich doch niemand so lieb wie ich, du herziger Mensch.«

Er bat sie nun, immer recht teil zu nehmen an dem, was er denke und erstrebe, sie war voll Demut zu allem bereit; sie wiederholte sich oft manche Worte, die er gesagt hatte und die gar schön geklungen hatten, mehrmals leise, um sie sicher zu behalten.

Seitdem Lorle den Modehut aufhatte, plagte sie die Sonne weit mehr als früher, da sie noch barhaupt ging, und doch vergaß sie beim Ausgehen fast jedesmal ihren Sonnenschirm, man mußte ihn oft nachholen, und war er nicht aufgespannt, so ließ sie ihn beispiellos oft fallen; es that ihr wehe, wenn Reinhard galanterweise ihn aufhob, und sie band sich ihn daher fest um die Hand. – Mit dem großen Uebertuche konnte sie sich gar nicht bewegen, ebensowenig mit der Echarpe; sie knüpfte ersteres, sobald sie aus der Stadt war, auf dem Rücken zusammen, und letztere band sie wie eine Reiterschärpe an der Seite. Nie durfte ihr Reinhard etwas abnehmen, ja sie wollte ihm bei Wanderungen seinen Rock tragen, wie die Bauernmädchen in der Regel die Jacke ihrer Burschen am Arm hängen haben. So lange sie Handschuhe anhatte, kam sie sich ganz fremd vor, sie konnte nicht so gut reden als sonst; sobald sie nur konnte, wurden daher die Handschuhe abgestreift. Diese Kleinigkeiten gaben zu vielen heiteren Neckereien Anlaß.

Auf dem Züricher See weinte Lorle die ersten Frauenthränen, und zwar über die neue Kirche zu Weißenbach.

Schon bei der Abfahrt sprach Lorle von nichts andrem, als daß jetzt, an diesem hellen Sonntag, zu Hause die Kirche eingeweiht werde; sie sah nichts von all der Herrlichkeit rings umher, und Reinhard hörte ihr eine Weile ruhig zu, dann bat er sie, doch auch umzuschauen nach dem, was sie hier umgebe; sie ward still, Reinhard setzte sich auf ein einsames Plätzchen auf dem Schiffe. Als nun die Kirchenglocken von nah und fern erklangen, ging er zu Lorle und sagte: »Horch, wie schön!«

»Ja,« sagte sie, »jetzt gehen sie daheim in die Kirch', und die Vroni hat ihre neue Haub' auf, und der Wendelin hat die neue Jack' an, die ich der Bärbel für ihn geben hab'.«

Reinhard sagte zornig: »Du kannst doch ewig nicht über dein Dorf hinausdenken, das ist einfältig!«

Heiße Thränen rollten über die Wangen Lorles, und Reinhard ließ sie eine Stunde allein sitzen.

Am Abend war indes Lorle ganz glücklich durch die Mitteilung Reinhards, daß sie sich nun auf den Heimweg machen wollten. Reinhard hatte dies beschlossen, weil er die Ueberzeugung hatte, daß Lorle erst im eigenen Haushalt sich vollkommen wohl fühlen werde, und er selbst sehnte sich auch nach stiller Häuslichkeit. Seit vielen Jahren hatte er ohne Familie frei sich in der Welt umhergetummelt, er mochte kaum ahnen, mit welchen zarten und doch starken Wurzeln das Leben solch eines Mädchens mit dem Heimatboden verwachsen war; jetzt sollten sie beide gemeinsam auf neuem Grunde wachsen.

Vorher aber mußte Reinhard noch dafür zugestutzt werden. Auf der letzten Station, wo man Halt machte, nahm er sich seinen schönen Bart ab, denn der Oberhofmeister hatte ihm bemerkt, daß sich dieser mit Reinhards Titulatur und Hofstellung nicht vertrage. Scherzend, aber doch mit einer gewissen Wehmut, gab sich Reinhard die etikettmäßige Glätte. Lorle jammerte gar sehr, indem sie sagte: »Du bist gar nimmer so schön wie früher, heißt das: mir ist's gleich, aber es ist doch schad.« Sie strich ihm mit der Hand über das kahle Gesicht und beklagte, daß es nun so rauh sei.

»Wenn das dein Vater sähe, würde er lachen; er hat's prophezeit,« sagte Reinhard.

Lorle ahnte dunkel, welchen kleinlichen, engbrüstigen Verhältnissen sie entgegen gingen; sie suchte aber sich und Reinhard zu erheitern, und es gelang ihr.


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