Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Buchenwald war grün geworden. In seinem saftigen Laubwerk, in den blaßgrünen Weiden am Ostseestrand, auf den Wellen des Meeres flüsterten, blitzten und glühten Sommermärchen. Es war nur eine Wiederholung desselben anmuthigen Spieles, das die alljährlich sich erneuernde Natur mit der alten, ernsten, stillen Erde treibt, die finstere Denkerstirn mit Kränzen schmückend, dem verschlossenen Busen Millionen Zeichen frisch keimenden, jugendlichen Lebens entlockend! Es war dasselbe Spiel, das Richard Artefeld oder Robert Arnold, wie er jetzt heißt und wie er fortan genannt werden soll, nun schon oftmals in seiner neuen Heimath mit immer gleichem Entzücken belauscht hatte; es waren dieselben Märchen, die um ihn her in Blüthenkelchen schimmerten, mit den Wellen des Meeres geheimnißvolle Lieder sangen. Arnold fand die Worte dazu, wenn er in die stillen Augen seines Weibes sah, und dann erzählte er sie seinen Kindern.
Wendula wuchs auf unter Märchen. Auch Vater Reimer suchte aus seiner Jugendzeit, in der er das Meer befahren, seltsame Geschichten hervor, und nicht nur Wendula hörte ihm gern zu, auch der kleine Richard lauschte mit offenem Munde und sah kein leuchtendes Segel am fernen Horizont vorüberziehen, ohne zu sagen: »Auf dem Schiff will ich fahren, wenn ich groß bin.«
Sein Vater nickte dazu und litt es nicht, daß Anna, in vorausgefühlter ängstlicher Muttersorge, ihm die Neigung ausredete. Er behütete mit wachsamem Auge die innere Freiheit seiner Kinder.
»Aus sich selbst müssen sie in das Leben hineinwachsen,« sagte er, »wir wollen sie führen und stützen, aber nirgends sie zwingen. Die Eltern, die zum Zwang greifen müssen, um ihre Autorität zu behaupten, haben schon ein Unkraut wuchern lassen, das kein Zwang wieder ausrottet, sie haben ihr Ansehen schon verscherzt. Der Gehorsam muß ebenso gut aus innerer Nothwendigkeit entspringen, wie jede andere Tugend. Innere Nothwendigkeit ist der einzige Zwang, dem man sich in voller Freiheit unterwirft.«
Er sprach gern und viel über den Gegenstand, und Anna, ohne den Quell seiner Reflexionen zu kennen, ja, ohne dieselben vielleicht jederzeit zu verstehen, hörte ihm doch gern zu und handelte seinen Wünschen gemäß, instinctmäßig herausfindend, wie weit seine Lehre sich in Wirklichkeit und ohne Schaden zu bringen auf die Erziehung anwenden ließ. Sie bewachte Wendula's selbstständige Natur, damit der Zug nach Freiheit, den sie vom Vater geerbt, den er sorgsam hegte und pflegte, ihm auch wohl zu viel nachgab, nicht in's Ungebundene hinausschweife. Sie bewachte sie aber nicht etwa, so wie man einen Gefangenen bewacht, sondern in dem Sinn, in dem die fromme Sage das Dasein jedes einzelnen Erdenkindes unter die Obhut eines schützenden Engels stellt.
Sie war der schützende Engel für ihr ganzes Haus. Still und sanft wandelte sie durch dasselbe, immer thätig, immer freundlich und mild. Wer viel nach Worten verlangte, dem war sie wenig, man mußte sich genügen lassen, daß sie durch Thaten sprach. So hell wie ihr Antlitz, so klar und durchsichtig war ihr ganzes Wesen.
Ihren Mann liebte sie innig, wie er sie, sie gehörten einander an in Gegenwart und Zukunft, nur die Vergangenheit theilten sie nicht. Anna's frühere Liebe zu Friedrich war mehr der Traum eines Kindes, als wirklich bewußte Empfindung des Herzens gewesen. Sie war vollständig aus dem Traum erwacht, warum sollte sie ihn da erst erzählen, dem eine falsche Bedeutung geben, was jetzt eine viel schönere für sie hatte. Anna war zudem eben so spröde als schüchtern, sie konnte nicht von ihren Gefühlen sprechen, wer ihr Wesen nicht verstand, hätte sie leicht für kühl, für abgeschlossen halten müssen; es fiel ihr aber niemals ein, daß ihr Mann oder ihre Kinder sie nicht verstehen könnten, und über diese hinaus hörten ihre Ansprüche auf.
Aus sehr anderen Gründen hatte ihr Mann ihr seine Jugendgeschichte verschwiegen. Wenn man den Abendstern klar und hell am Himmel leuchten sieht, läßt man ungern den Gedanken aufkommen, daß sein ungetrübtes Auge auf irgend einer irdischen Unschönheit, einem irdischen Gebrechen weilen könne. So rein wie er uns, möchte man auch ihn anschauen. Wie tief dunkel auch die Nacht sein mag, im Umkreis der Strahlenatmosphäre des Sternes ist sie licht. Richard wollte die sternenklare Reinheit seines Weibes nicht durch die Schattenbilder seiner Jugend trüben. Er konnte die Erinnerung nicht verbannen, aber er meinte, es sei leichter, sie allein zu tragen. Wie sollte er Anna hineinziehen in die noch unausgefochtenen inneren Kämpfe, in ihrer Nähe schwand jede Bitterkeit des Lebens.
Auch Friedrich empfand diesen Einfluß, aber er empfand ihn noch als ein Unglück. Er konnte den Verlust Anna's nicht verschmerzen, so sehr er sich auch bemühte es zu thun. Er konnte es nicht vergessen, daß sie die Seine hätte werden können und ihm nun für immer fern stand. Der Gedanke kam nicht, wenn er bei ihr war. Die Kühle ihres Wesens, das heißt nicht eine Kühle, die erkältend wirkt, sondern vielmehr eine solche, die wie der Morgenwind mit anmuthiger Frische alle bösen Nebel verscheucht, diese Kühle ließ keinen Wunsch, der ein Unrecht gewesen wäre, aufkommen. Die unsichtbare Scheidewand, die sie mit unbewußtem Tact zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit aufgerichtet, war nicht zu übersteigen. Nur Keckheit hätte die kunstlosen Schranken niederzureißen gewagt. Sie fielen auch nicht, wenn er ihr fern war, aber dann packte ihn die Lust, dagegen zu rennen und, wenn nicht anders, sich den schmerzenden Kopf daran zu zerbrechen.
Der arme Mensch that sein Möglichstes, um das zu bleiben, was er gewesen war, denn nur so meinte er sich retten zu können. Er hielt die Freundschaft mit Frau Wallner getreulich aufrecht, ihre Theilnahme war auch noch sein bester Trost. Er ließ sich von ihr erzählen und vorschwatzen was sie wollte, er lohnte ihr jede Freundlichkeit mit dankbarer Erkenntniß derselben, er widmete ihr die Gefühle eines Sohnes und goß, ohne es zu wollen und zu wissen, Oel in das Feuer ihrer Zukunftspläne. Er verrichtete seine Obliegenheiten mit fast übertriebener Pflichttreue, er lief sich müde und matt im Walde, er sang sogar seine alten Lieder, aber Alles umsonst.
»Ich bin nur der Affe meines früheren Ichs und weiter nichts,« sagte er mit bitterm Scherz.
Eine Zeit lang hatte er es versucht, Anna's Gegenwart zu vermeiden, aber da war es noch viel schlimmer geworden, da hatte er seine Gedanken vollends nicht mehr beherrschen können. Er wußte auch nicht was er sagen sollte, wenn sein Freund ihn abzuholen kam oder Wendula ihm Vorwürfe machte und ihm das Versprechen abnahm, an einem der nächsten Tage wiederzukommen. Abzuschlagen war ihr so leicht nichts und ihr sein Wort zu brechen vermochte er eben so wenig, denn als sie ihm das erste Mal sein Versprechen abgefordert, hatte sie in ihrer seltsam altklugen und charakteristischen Weise hinzugesetzt:
»Vater sagt, es giebt Leute, die ihr Wort nicht halten, wenn Du so bist, dann mag ich Dich nicht mehr leiden.«
So ging er denn hin, wenn sein Freund ihn holte, wenn er es Wendula versprochen hatte, wenn sein Herz ihn zog und er der Sehnsucht nicht mehr widerstehen konnte. Er ging zuletzt fast alltäglich hin, bald des Morgens, bald des Abends, oft nur auf Minuten, aber er ging hin. Dort allein fühlte er, daß er lebte.
Mit Anna selbst verkehrte er am wenigsten, er sprach sogar selten ein Wort mit ihr und sie ermuthigte ihn auch nicht dazu. Wendula war das Bindemittel zwischen ihr und ihm. Er liebte in der Kleinen sie selbst und die Mutter; die dem Tode geweihte Leidenschaft für die Letztere schien sich so allein zu einem reinen, selbstsuchtslosen Gefühl verklären zu können. Er warb übrigens nicht ohne Nebenbuhler um die Gunst der Kleinen. Er rivalisirte mit Vater Reimer, hatte diesem aber fast einen Vorsprung abgewonnen, denn Wendula. die sonst dem alten Manne nicht von der Seite gewichen, wenn er nach dem Fangel kam, verließ ihn jetzt oft um Friedrichs willen.
»Die kleine wetterwendische Hexe,« sagte Vater Reimer einst lachend, »fängt jetzt schon an ein glattes Gesicht einem runzeligen vorzuziehen. O, wenn sie erst groß sein wird, dann werden Sie auch das Nachsehen haben, Herr Günther, wie ich jetzt. Dann wird wieder ein Jüngerer kommen und dann sind meine Geschichten vergebens erzählt und Ihre Spiele umsonst gespielt.«
»Ja gewiß, man giebt meist sein Herz vergebens dahin!« seufzte Friedrich.
Wendula sah die Beiden groß an.
»Ihr sollt nicht so sprechen, daß ich es nicht verstehe,« sagte sie, »was willst Du denn, Vater Reimer?«
Der alte Mann nahm das Kind auf den Schooß.
»Wen hast Du lieber, Wendula,« fragte er, »mich oder den Herrn Günther?«
»Manchmal Dich und manchmal ihn,« lautete die rasche Antwort; »wenn Du mir Geschichten erzählst, Dich, und wenn er mit mir spielt, ihn.«
»Und wenn wir Beide uns gar nicht um Dich kümmerten, würdest Du uns dann nicht lieb haben?« fragte der alte Mann weiter.
»Doch, Dich, Du hast mich aus dem Wasser gezogen,« sagte Wendula, ohne sich zu besinnen.
»Mich also würdest Du nicht lieb haben, weil ich Dich nicht aus dem Wasser gezogen habe?« sagte Friedrich vorwurfsvoll.
»Doch, Dich auch,« versicherte Wendula.
»Aber warum, da Du doch Gründe haben mußt, warum würdest Du mich lieb haben, auch wenn ich nicht mit Dir spielte, Dir nicht Geschichten erzählte?« fuhr Friedrich fort.
»Ich weiß nicht, Vater sagt, man soll nicht so viel fragen,« antwortete Wendula kurz und sich abwendend.
Plötzlich aber kehrte sie zu Friedrich zurück und sagte: »Ich habe mich besonnen, ich habe Dich lieb, weil Du mich auch lieb hast.«
Friedrich küßte das Kind.
»Wenn Du mich aber lieb hast, kannst Du mir auch eine Geschichte erzählen,« fuhr Wendula fort, wieder zu den Ansprüchen ihres Alters zurückkehrend, denn je jünger man ist, um so weniger will man etwas von einer Liebe wissen, die sich nicht thatsächlich bewährt.
Friedrich that aber noch etwas Besseres als Liebesbeweis und Siegel auf das Bündniß. Er schenkte dem Kinde einen Canarienvogel. Nach dem ersten Freudenrausch zwar wollte Wendula ihn freilassen, aber als Alle ihr versicherten, daß die Freiheit dem kleinen Thierchen nur Schaden bringen, daß er, seiner Heimath entführt, nicht anders existiren könne als im Käfig, da gewann die Freude über den Besitz des kleinen Sängers die Oberhand, und Friedrich erwarb sich durch das Geschenk einen eben so großen Anspruch auf die Treue des kleinen Herzens, als Vater Reimer durch die Lebensrettung. Ja, fast einen noch größeren, denn selbst in der schlummernden Ahnung eines Kindergemüths bedeutet das eigene Leben kaum so viel, als ein lebendiger Gegengenstand der Liebe, der demselben Zweck und Bedeutung giebt.
Leider genügten die glücklichen Stunden und Minuten, die Friedrich in der Arnold'schen Familie verlebte, nicht, ihn für die Armuth des eigenen Lebens vollständig zu entschädigen. War er auch immer bereit, sich des Glückes Anderer zu freuen, es mit voller Seele mitzuempfinden, so kamen doch Augenblicke, wo er mit heißer Sehnsucht auch für sich selbst nach dem Glück verlangte, wo die Entbehrung ihn fast mit Bitterkeit erfüllte. Sein Geist krankte an innerem Zwiespalt und die Wechselwirkung zwischen Seele und Körper blieb nicht aus. Er fühlte sich oft tief erschöpft, und sein Antlitz fing an die Spuren dieser Erschöpfung zu tragen.
Frau Wallner sah es mit Kummer und Aerger. Sie grämte sich um den jungen Mann und warf ihren Zorn auf diejenige, deren Treulosigkeit seine Jugendfrische zu zerstören drohte. Sie sehnte sich darnach, ihm helfen zu können und sie gestraft zu sehen. Sie liebte Friedrich, sie hatte ihre Pläne mit ihm, sollte es wieder Anna sein, welche dieselben scheitern machte? War es denn nicht schon rührend bescheiden für ihre Tochter, die zu viel größeren Ansprüchen berechtigt war, mit dem einfachen Loose zufrieden zu sein, das Friedrich ihr gewähren konnte?
In Wahrheit bedeutete ihre Zufriedenheit nicht viel mehr, als daß sie es verstand, aus der Noth eine Tugend zu machen. Sie hatte es aufgegeben, ihre Tochter eine vornehmere Heirath eingehen zu sehen, sie begriff den verkehrten Geschmack der Männer nicht, sie schmähte die Welt, die Tugend und Schönheit im Verein mit der Armuth nicht zu schätzen weiß, und – kehrte zu bescheideneren Ansprüchen zurück.
Die mütterliche Phantasie träumte nun von einem Idyll im Walde, statt von glänzenden Sälen, von Dienern mit goldbordirten Röcken und Equipagen, träumte von einem schlichten Jägersmann, statt von den Cavalieren von über sechs Fuß Länge, die alle ihrer Tochter zu Füßen lagen und sie himmelhoch baten, doch endlich zu entscheiden, welcher von ihnen erhört und welche der Verzweiflung geweiht werden sollten. Diese Träume waren untergegangen in der bessern Erkenntniß von der wachsenden Mangelhaftigkeit der Welt, die sich seit der Zeit ihrer Jugend unendlich verändert haben mußte, denn sie – sie hätte doch beinah einen Baron geheirathet, und es war die Schuld ihres eigenen Vaters, daß nichts daraus wurde, daß das Liebesverhältniß zerrissen werden und sie, die hübsche Bürgermeisterstochter, den unbedeutenden, viel älteren Förster heirathen mußte.
Hätte sie dem Baron folgen dürfen, wie ganz anders stünde es nun um Rosetten, »aber ich habe das Meinige gethan,« fügte sie in Gedanken oftmals hinzu, »ich habe sie in die Welt geschickt, in die sie gehört, will man sie nicht anerkennen, oder leidet's vielleicht die Frau Baronin nicht, daß man das hübsche junge Mädchen ihr vorzieht, läßt sie Keinen an sie heran, gut, unverheirathet soll sie deshalb nicht bleiben. Der schlimmste Mann ist immer noch besser wie keiner, und Friedrich ist kein schlimmer Mann, im Gegentheil, es giebt keinen bessern, und spornt man ihn gehörig an, so erlangt er wohl auch noch eine bessere Stelle, als diese hier ist.«
Genug, Frau Wallner hatte Friedrich zu ihrem Schwiegersohn erwählt. Er mußte nur erst Anna vergessen und Rosetten sehen. Große Eile hatte es ja nicht, denn noch war Rosette ja gut versorgt und es konnte sich auch immer noch etwas Besseres für sie finden.
In alle diese Pläne hinein fiel plötzlich die Nachricht von der möglichen Wiederverheirathung der Frau von Stern, und damit wurden Frau Wallner's unbestimmte Vorsätze zu einer klaren und festen Absicht. Rosettens Brief, der ihr die Nachricht brachte, war an demselben Tage gekommen, an dem Friedrich das Schreiben von Anna's Muhme erhielt, das allen seinen frohen Hoffnungen auf einmal ein Ende machte, ohne daß er ahnte, wie sein sinkender Stern nun an dem Horizont seiner mütterlichen Freundin und gutherzigen Trösterin hell aufging. Rosettens Brief lautete:
Liebe Mutter!
Ich habe Dir etwas sehr Schlimmes mitzutheilen: ich werde wahrscheinlich nicht mehr lange bei Adelen bleiben. Sie wird heirathen, Noch sagt sie es nicht, und daß sie es nicht sagt, ist schon der erste Bruch des Vertrauens, der erste Bruch unserer Freundschaft. Sie hätte mich vielleicht nicht erst in ihr Haus aufnehmen, nicht diese intime Freundschaft mit mir anfangen sollen, wenn es nun doch ein Ende haben muß; aber es ist nun schon nicht anders: wenn die Leute heirathen wollen, sterben sie für alles Andere, und die gerechtesten Ansprüche müssen verstummen. Es muß doch etwas Seltsames um die Liebe sein, ich möchte wohl wissen, ob ich auch so lieben könnte und woran es liegt, daß es noch nicht geschehen ist. Ich glaube, ich bin zu gut und zu klug für die Männer. Von Herrn Dorn, demselben, den jetzt Adele heirathen will, dachte ich anfangs, daß er mir gefährlich werden könnte, er machte erst einen gewaltigen Unterschied zwischen Adelen und mir, er war viel wärmer und vertraulicher gegen mich; aber ich weiß nicht: ist Adele kokett gegen ihn gewesen, weil sie verliebt war und ihn mir nicht lassen wollte, oder hat er es sich überlegt, daß sie eine reiche Wittwe ist und ich nur ein armes Mädchen bin – genug, als er im vorigen Winter nach Wien kam, da hatte sich das Blatt auf einmal gewendet, und ich merkte bald, was die Glocke geschlagen hatte. Aber wie war Adele auch! Sie that ja Alles, was er wünschte. Sie vertheidigte oft gewaltig ihre Ansichten, aber in der That opferte sie ihm doch Alles, was sie so nutzlos in Worten behauptete und vertheidigte. Sie war wie umgewandelt, und was ihm mißfiel, that sie nicht, und wenn es ihr auch sonst das größte Vergnügen gemacht hatte. Das war zu viel, das hätte ich nicht gethan. –
Der Winter war sehr langweilig für mich. Wir gingen gar nicht in große Gesellschaften, wir waren meist Abend für Abend zu Hause, und außer Herrn Dorn kamen nur wenige Leute zu uns und gar keine jungen Herren. Es war ein wenig eigennützig, daß Adele gar nicht an mein Vergnügen dachte, aber verliebte Leute sind nun einmal eigennützig. Necken durfte ich sie aber gar nicht, und wenn ich von anderen Menschen und Dingen sprach als von Herrn Dorn, oder seinen Büchern, oder seinen Grundsätzen, seinen Wünschen, seiner Vortrefflichkeit, hörte sie gar nicht zu. Ach, Mutter, es war sehr langweilig und ich habe mich sehr nach Dir gesehnt. Du bist doch die Beste, Mutter, Du wirst mich nicht vergessen um Anderer willen, ach, ich sehne mich auch wirklich, zu Dir zurückzukehren Ich bin der Welt so recht überdrüssig. Wenn man nicht eine reiche und vornehme Frau ist, kehrt sie Einem den Rücken. Ich werde nun auch bald alt werden, da ist es doch besser, man zieht sich zurück.
Ach, Mutter, ich möchte wohl auch glücklich sein! Ich glaube, wenn ich Herrn Arnold hätte lieben können, wäre ich es gewesen, aber ich konnte es doch nicht. Es muß aber sehr angenehm sein, Jemand zu haben, von dem man schöner gefunden wird als alle anderen Menschen, und wenn man wie eine Meerkatze aussieht, Jemand, der gar keine Fehler an uns findet, oder dem doch die Fehler erst recht gefallen, Jemand, dessen Engel man sein kann, kurz Jemand, der uns ganz blind liebt.
Die arme Adele! Herr Dorn wird sie nicht blind lieben.
Daß Adele ihn trotzdem gern hat, merkte ich schon, als wir im vorigen Jahre die Saison in ***** gemeinschaftlich verlebten, da leugnete sie aber, jetzt schweigt sie nur. Aber ich weiß doch, was ich weiß, und seit gestern bin ich meiner Sache gewiß. Es ist gestern abgereist nach Stettin zu ihm Vater. Es sind Erbschaftsangelegenheiten zu ordnen, sagt sie. Das ist auch wahr, denn sie haben zu gleichen Theilen ein großes Gut in Polen geerbt, die Ansprüche sind aber nicht ganz klar, und es ist allerhand herbeizuschaffen, sie zu begründen. Das geht mich aber nichts an und geht auch nur nebenher. Sie scherzten viel mit einander, wer dem Andern seinen Antheil an dem Gute übertragen würde – ich denke, sie werden wohl eine Vereinigung treffen, die sie Beide im Besitz erhält. An ihrer Stelle verkaufte ich es, nach Polen ginge ich nicht und wenn es mit Gold gepflastert wäre. Da ist mir unser Wald doch lieber, da giebt es wenigstens keine Wölfe.
Nun aber, um zum Schluß zu kommen: als Dorn abgereist war, ging Adele auf ihr Zimmer und sagte, sie wolle schreiben; ich ging in's Theater, denn was sollte ich Besseres thun, ich bedurfte auch des Trostes, nicht wegen der Abreise, aber wegen Adelens Treulosigkeit gegen mich, und wollte erst etwas erheitert sein, ehe ich Dir schrieb, Mütterchen. Wenn ich mich gräme, grämst Du Dich ja immer doppelt.
Als ich aus dem Theater kam, tranken wir Thee zusammen, Adele und ich, und ich war so amüsant wie möglich und erzählte ihr das ganze Stück, was ich eben gesehen hatte. Ich merkte aber wohl, daß sie kein Wort hörte, und es wurde mir nun recht schwer, die Thränen hinunterzuschlucken. Auf einmal stand sie auf, ging ein paarmal in der Stube auf und ab, blieb dann bei mir stehen, sah mich so recht freundlich an, wie sie mich lange nicht angesehen hatte, küßte mich dann auf die Stirn und sagte: »Rosette, wenn ich mich wieder verheirathen sollte, bleibst Du dann bei mir?« »Nein,« sagte ich entschieden, aber nun liefen mir doch die Thränen herunter, und ich machte ihr bittere Vorwürfe und sagte ihr auch, daß sie mit dem anspruchsvollen Menschen, dem Herrn Dorn, nicht glücklich werden würde, und daß sie mich getäuscht hätte mit ihrer Freundschaft, und was ich nun mit meinem Herzen machen sollte, das ich ihr all' die Jahre hindurch geopfert hätte, und das sie nun verstieße. Nicht wahr, Mutter, ich hatte ganz recht, ihr das Alles zu sagen? Sie fühlte es auch, denn sie konnte gar nicht antworten vor lauter Thränen.
Wir hatten lange schweigend nebeneinander gesessen, da umfaßte sie mich so recht zärtlich, ganz wie sie es sonst zu thun pflegte, und sagte: »Mache Dir keine Sorge um meine Heirath, noch ist es nicht so weit. Kommt es aber dahin und Du willst nicht bei mir bleiben, so werde ich dafür sorgen, daß Du angenehm und behaglich leben kannst, bei und mit Deiner Mutter, oder wo und wie Du es willst. Ich habe egoistisch gehandelt, Dich den gewohnten Verhältnissen zu entfremden, verzeih es mir, Rosette, ich will es gut machen, so weit es irgend in meiner Macht steht. Du sollst nicht verlassen sein, sollst nichts entbehren. Ich kann Deinetwegen mein Glück nicht aufgeben, ich würde eher mein Leben aufgeben, aber vor äußeren Entbehrungen kann und will ich Dich schützen. Vielleicht heirathest Du auch eher, wenn Du nicht mehr an mich gefesselt bist. Thu es Kind, behalte Dein Herz nicht für Dich. Es schlägt so viel glücklicher, wenn es für einen Andern schlagen darf.«
Das war doch recht hübsch von Adelen gesprochen. O, ich habe sie dennoch lieb, trotz ihres Unrechts gegen mich. Der abscheuliche Dorn ist allein daran schuld, er trennt uns, und wer weiß, ob er Adelen liebt. Sie will ja aber in ihr Unglück gehen, wenn es nur an seiner Hand ist. Es muß schön sein, so geliebt zu werden.
Ich habe mir nun aber ausgedacht, wie Alles werden soll. Sowie sie sich verlobt hat, komme ich zu Dir. Bei Herrn Günther kannst Du dann nicht bleiben, denn dann könnten wir nicht zusammen leben. Vielleicht giebt Adele mir so viel, daß wir uns ein kleines Haus in Häringsdorf kaufen können, sie sind ja nicht theuer, und geht das nicht, so miethen wir es uns, richten es behaglich ein und vermiethen es zum Theil im Sommer an Badegäste. Da können wir gleich Bekanntschaften machen, und wenn dann der Winter auch etwas eintönig wird, so kann man sich ja auch mit mancherlei die Zeit vertreiben. Ich habe recht hübsche Bücher und kann Dir vorlesen, Mütterchen, ich habe auch genug gesehen, um Dir zehn Jahre davon zu erzählen, auch weiß ich eine Menge hübscher Arbeiten, die ich anfertigen und mich damit amüsiren kann. Und unser Leben richten wir uns ein bischen so ein, wie ich es hier gewohnt bin; wir haben unsern netten kleinen Theetisch des Abends und ich mache den Thee, und wenn Herr Günther wirklich ein so gebildeter und guter junger Mensch ist, wie Du schreibst, so kann er manchmal des Abends zu uns kommen und bei uns Thee trinken.
O Mutter, ich freue mich darauf. Ich habe solch' Stillleben so lange entbehrt, und eine einfache schlichte Natur, wie Herr Günther sein muß, wird mir wohlthun nach den Erfahrungen, die ich gemacht. Ist er dankbar und gut gegen Dich, so will ich auch nichts darnach fragen, ob er so feine Manieren hat, wie die Herren, an deren Umgang ich jetzt gewöhnt bin. Was helfen glatte Manieren, ist keine Treue dabei, Adele hat gut reden, wenn sie zu mir sagt: heirathe! Ich habe ja kein Geld wie sie, und durch Liebe allein kauft man kein Herz. Oder doch, Mutter? Adele hat immer Geld gehabt und Dorn's Herz nicht besessen, und nun rührt ihn zuletzt doch ihre Liebe. Wie demüthig sie aber auch ist! O, der müßte noch kommen, der mich so demüthig machte. Er braucht aber nicht zu kommen, ich habe Dich, Mutter, und Du bist besser wie die ganze Welt.
Deine Dich treuliebende
gehorsame Tochter
Rosette.
Von dem Inhalt dieses Briefes hatte Frau Wallner ihrem Schützlinge nichts mitgetheilt als Grüße und Segenswünsche, die gar nicht darin standen.
»Es ist ein Fingerzeig Gottes, daß sie Beide zu gleicher Zeit frei werden,« sagte sie zu sich selbst und machte sich bereit, den Fingerzeig, der so wunderbar auf ihre Pläne deutete, in Demuth anzuerkennen und ihm nach Kräften zu folgen, »es ist Gottes Wille, daß die beiden guten Kinder zusammenkommen, daß sie einander trösten und lieben. Günther ist der beste Mann, den ich kenne, und Rosette die liebevollste Tochter, sie müssen einander heirathen. Man würde versucht sein, an der Weisheit und Gerechtigkeit Gottes zu zweifeln, würden sie nicht Mann und Frau. Sie müssen es werden, sie müssen's!«
Frau Katzenpfötchen war aber klug genug, das Muß vor denen zu verhüllen, die bestimmt waren, demselben zu folgen. Sie ahnte etwas von dem Oppositionsgeist des Menschen, der sich gegen jedes sichtbare Muß sträubt. Sie war auch fromm genug, um Alles ruhig der Leitung des Himmels zu überlassen, und begnügte sich einstweilen damit, sich das künftige Leben im Försterhause, als Mutter der jungen Frau und Großmutter ganz reizender, mit Hülfe von Frau von Stern's großmüthigem Beitrag zur Haushaltung, sehr niedlich angezogener Kinder, mit den hellsten Farben auszumalen. Ja, sie ging noch weiter, sie verlegte den Schauplatz des künftigen häuslichen Glückes in irgend eine ferne Oberförsterei, wo sie vorläufig Familienberathungen hielt, ob man die Heirath von Rosettens jüngster Tochter mit Adelens ältestem Sohne zugeben wolle, ehe dessen Eltern ganz bestimmt erklärten, wie viel Zulage sie dem jungen Paar zu geben gedächten.
Friedrich's tiefe Niedergeschlagenheit machte zuweilen die Luftschlösser ein wenig erzittern, aber Frau Wallner baute auf den lieben Gott und ihr gutes Recht und ließ sich nicht irre machen, in ihrer Weise Alles zu thun, um den betrübten Menschen aufzurichten. Er war tief gerührt von dieser uneigennützigen Güte und wies ihre Tröstungen nicht zurück, obgleich er jede directe Beziehung auf Anna vermied.
Es dauerte ihr aber doch gar zu lange, daß er sich mit dem Herzeleid herumtrug. Sie meinte, er hätte es mit dem Winter begraben müssen und nun schleppe er es noch in den Sommer hinüber. Sie nahm sich vor, einmal recht gründlich mit ihm über das Glück der Ehe zu sprechen und die Menschen, die durch eigene oder durch die Schuld Anderer dieses Glückes verlustig gingen, als recht bedauernswerth zu schildern.
»Sie mögen recht haben, Mütterchen,« gab er zu, als sie ihren Vorsatz ausgeführt hatte, »aber was hilft es: ich kann nicht heirathen. Für mich paßt keine Andere, als sie, die ich nicht haben kann.«
»Das ist Einbildung, pure Einbildung,« schalt Frau Wallner. »So gar verschieden sind die Mädchen nicht, daß immer Eine nur die Rechte sein sollte. Das ist überhaupt dummes Zeug, daß die Liebe erst in's Herz einziehen soll, wenn ein Paar hübsche Augen uns ansehen. Die Liebe ist lange vorher da, die wird mit uns geboren und wächst mit uns und sucht ihren Gegenstand. Ist's nicht der Eine, kann's doch der Andere sein, aber je länger wir suchen, um so schwerer finden wir, aber suchen muß man, sonst drückt sie uns das Herz ab. Hinaus will sie und muß sie. Die Mädchen sind dazu da und die Männer ebenso, daß sie ihre Herzen mit einander austauschen. Macht es denn einen gar so großen Unterschied, ob Eine blaue oder braune Augen hat, ob sie lustig oder still ist? Liebt man Jemanden nur erst recht, so wird er auch allemal das, was man in ihm sieht. Alle Welt nannte meinen guten Alten langweilig, weil er nie von selbst sprach und den ganzen Tag rauchte, meinen Sie, daß ich ihn langweilig gefunden habe? Mir war er just recht, so wie er war, und ich hätte einen Jüngeren auch nicht mehr lieben können, obgleich ich es einmal dachte. Heirathen ist das beste Mittel gegen unglückliche Liebe, ein Thor, der den Kopf hängen läßt, der nicht ungesundes Leid in gesunden Zorn und dann in neues Glück verwandelt Es giebt nette und hübsche Mädchen genug!«
»Ich kann keine Andere lieben,« wiederholte Friedrich, »es mag viel schönere und bessere Mädchen geben, als meine Geliebte es war, was hilft mir das, ich habe doch nur sie lieb gehabt!«
»Ach was,« sagte Frau Wallner halb unwillig, »haben Sie nur erst den Willen und ein nettes Mädchen vor Augen, dann wird es schon gehen. Die Liebe kommt vom Himmel, und wer sie zurückweist, verachtet diesen.«
»Und wer sie mißbraucht und durch Lug und Trug verhöhnt, thut's auch,« unterbrach sie Friedrich. »Der Schnee kommt auch vom Himmel, weiß wie die Unschuld, und der Fußtritt des Menschen macht ihn grau und schmutzig.«
»Ja, aber deshalb bleibt Keiner in der Stube sitzen, wenn draußen Schnee liegt,« versetzte Frau Wallner rasch.
Friedrich lächelte über die Redefertigkeit der Alten.
»Eins ist unvermeidlich, das Andere nicht, darin liegt der Unterschied,« sagte er dann und fügte freundlich und Frau Wallner die Hand reichend hinzu: »Haben Sie Geduld mit mir und lassen Sie die Wunde ausbluten, Mütterchen.«
»Ach was Geduld haben,« brummte sie ihm nach, »es ist vorbei mit der Geduld. Bleibt es so, muß er zu Grunde gehen. Alle Tage hinlaufen zu ihr, die ihn bethört hat und auch jetzt nicht losläßt, obgleich sie Mann und Kinder hat. Es ist eine Sünde und Schande, man versündigt sich mit, wenn man's duldet. Ich hab's zu lange schon gethan, Gott verzeih' mir's, und sie verdienen es alle Beide nicht, weder der Arnold, noch sein gleisnerisches Weib, daß ich sie schone!«
Eines Nachmittags kam Arnold im Vorübergehen in die Försterei und fragte nach Friedrich. Er war nicht daheim.
»Dann wird er bei mir sein,« sagte er.
»Das fürchte ich auch,« seufzte Frau Wallner.
Der Förster überhörte es und wollte weitergehen, aber Frau Wallner litt es nicht. Sie nöthigte den Förster in die Stube und bat ihn, nur ein wenig zu verweilen, sie habe Dringendes mit ihm zu besprechen, und sagte dann, ihm so recht mütterlich freundlich in die Augen sehend, denn so wenig sie ihn auch liebte, that er ihr doch sehr leid:
»Geben Sie es nicht zu, Herr Arnold, daß Günther so viel nach dem Fangel geht, es taugt ihm nichts, wahrhaftig, es taugt ihm nichts.«
»Mein Gott, warum nicht?« fragte Arnold ganz harmlos, »meinen Sie, daß er seinen Dienst deshalb versäumt, ist Klage über ihn gewesen?«
Frau Wallner schüttelte den Kopf.
»Sehen Sie denn gar nicht, wie krank Herr Günther aussieht?« sagte sie eifrig, »wie aufgeregt er ist, wie traurig seine lustigen Lieder klingen, wie er ein ganz veränderter Mensch ist? Das kommt Alles von seinen Gängen nach dem Fangel, er läuft in seinen Tod, wenn er früh und spät dorthin geht«
»Aber liebe Frau,« wandte Arnold ein, »ich bitte Sie, was sollen diese Gänge, wenn sie auch weit sind, einem kräftigen Menschen schaden? Im Gegentheil, sie thun ihm gut. Nein, liebe Frau Wallner, seien Sie unbesorgt, weinen Sie nicht,« – Frau Wallner hatte helle Thränen in den Augen – »er wird sich schon wieder erholen. Er hat Kummer gehabt –«
»O das weiß ich wohl,« unterbrach ihn Frau Wallner, »das hat er mir wohl gesagt, er steht wie ein Sohn zu mir.«
»Nun, dann müssen Sie auch wissen, daß Zerstreuung ihm gut ist,« fuhr Arnold fort. »Sie sollten ihn nur bei mir sehen, wie fröhlich er mit meinen Kindern ist, wie sein Gesicht sich aufhellt, wenn meine Frau ihm ein freundliches Wort sagt.«
»O ich zweifle nicht,« entgegnete Frau Wallner giftig. »Ihre Frau sticht ja Jeden aus, ihr widersteht Keiner.«
Fiel dem Förster ihr Ton auf? Er sagte ernst: »Gewiß, der Zauber weiblicher Würde und Unschuld ist auch unwiderstehlich.«
So abgewiesen, fühlte Frau Wallner sich doppelt berufen, die Falsche zu entlarven, so, schwer die Pflicht auch war.
»Herr Arnold,« begann sie nach einigem Besinnen, »nehmen Sie Günther's Zustand nicht so leicht, Sie wissen sichtlich nicht Alles. Ich werde es Ihnen sagen, aber Sie müssen mir versprechen, meinen Namen nicht zu nennen, wenn Sie von meiner Mittheilung Gebrauch machen wollen.«
Arnold trat zurück, als wolle er die geheimnißvolle Mittheilung abweisen, aber Frau Wallner's Augen liefen schon wieder über und sie sagte heftig:
»Es gilt wahrhaftig sein Leben. Er geht zu Grunde, wenn ihm nicht geholfen wird und sei's auch wider seinen Willen!«
Arnold sah die Alte erschrocken an, sein Blick forderte sie zur Mittheilung auf.
»Erst Ihr Versprechen, meinen Namen nicht zu nennen!« verlangte sie.
Er gab ihr die Hand.
»Nun gut, Günther liebt Ihre Frau,« flüsterte sie ihm eilig zu.
»Das ist ein Irrthum, das kann nicht sein,« entgegnete Arnold, mehr geärgert als erschrocken.
»Es ist doch wahr,« betheuerte sie. »Er war mit Anna so gut als verlobt, aber er hatte lange Zeit nichts von ihr erfahren. Er glaubte sie noch bei ihrer Tante, als er hierher kam. Er hatte eben an sie geschrieben, als er sie unvermuthet als Ihre Frau wiedersah. Sie müssen es selbst wissen, wie verändert er von dem Tage an war, als er den ersten Besuch auf dem Fangel gemacht hatte.«
»Er hatte an dem Abend den Brief erhalten, der ihm die Verheirathung seiner Geliebten meldete,« unterbrach Arnold sie, ängstlich bemüht, sie eines Irrthums zu überführen.
»Ja,« sagte sie, »er ließ in seinem Schreck den Brief hier offen liegen. Ich nahm ihn an mich, damit die Magd ihn nicht lesen sollte, und ganz zufällig fiel mein Blick hinein und auf den Namen: Förster Robert Arnold. Da, ohne zu überlegen was ich that, las ich weiter. Es stand nichts in dem ganzen Briefe als die Nachricht von der Verheirathung des betreffenden jungen Mädchens mit dem Förster Robert Arnold. Herr Günther ahnt es übrigens nicht, daß ich um sein Geheimniß weiß.«
»Nun gut, mag es wahr, mag Anna einst seine Braut gewesen sein, jetzt ist sie meine Frau, und ich habe nicht Ursache zu glauben, daß sie es bedauert, es zu sein,« entgegnete Arnold mit festem Tone.
»Warum sollte sie es denn bedauern?« unterbrach ihn Frau Wallner. »Sie hat ja einen guten, rechtschaffenen Mann, der arme Herr Günther ist der Geprellte. Ich sagte es Ihnen auch nur seinetwegen. Er muß von Ihrer Frau fern gehalten werden. Wie soll er denn seine Liebe vergessen, wenn sie ihm jeden Tag frisch in's Herz gepflanzt wird, wenn er stundenlang mit Ihrer Frau allein sein darf, die ja schon aus Mitleid freundlich gegen ihn sein muß. Um Anna ist mir nicht bange. Wer so lustig und vergnügt ist wie sie, giebt ja den besten Beweis, daß zu seinem Glücke nichts fehlt.«
Frau Wallner sagte das sehr harmlos und freundlich. Sie streichelte mit dem Sammetpfötchen, aber unversehens traf die Kralle, denn die Worte, die Frau Anna's frohen Sinn und ihr Glück priesen, erinnerten Arnold daran, wie still und ernst seine Frau eigentlich war. Er hatte diese Stille, diesen Ernst für natürliche Anlage gehalten, er überlegte jetzt mit plötzlich ausbrechendem Schmerz, ob beides nicht vielmehr die Nachwirkung eines tief empfundenen Herzeleids sein könnte.
»Seien Sie nicht böse, daß ich Sie betrübt habe,« bat Frau Wallner mit Thränen in den Augen, die sie um so bereitwilliger dem Kummer des jungen Mannes zollte, als sie es ja leider hatte sein müssen, die aus lauter Güte und Rechtlichkeitssinn ihm die schmerzende Wunde schlug.
»Sie sind ja Ihrer Frau sicher,« fuhr sie tröstend fort, »Ihnen kann meine Mittheilung nichts schaden. Dennoch hätte ich sie Ihnen gern erspart, aber es wäre nicht recht gewesen.«
Arnold gab ihr nur schweigend die Hand und ging hastig fort.
»Mutter, Mutter, wirkt Dein Fluch?« murmelte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen, als er durch das Walddunkel schritt. »Hat die Macht, die Du zum Vorkämpfer Deiner Sache ausgerufen, die Stelle gefunden, wo ich am sichersten zu treffen bin? War denn Deine Sache eine gerechte und schlägt mich der Himmel in Deinem Namen zu Boden?«
Er verbarg sein Gesicht in den Händen, er athmete tief und schwer, als ob ihm ein Krampf die Brust zusammenpresse, aber als er die Hände sinken ließ und weiter schritt, war sein Antlitz zwar blaß, aber die Züge wieder ruhig und die Augen thränenlos.
Er brauchte jedoch viel längere Zeit als gewöhnlich, um den Weg nach dem Fangel zurückzulegen. Die Sonne stand schon tief, als er in sein Haus eintrat, ach, viel tiefer noch war die Sonne seines Glückes gesunken.
Sein erster Blick, als er eintrat, fiel auf Friedrich.
Der junge Mann saß an einem Tischchen, vor einem aufgeschlagenen Bilderbuch, den Kindern, die neben ihm standen, Bilder zeigend und Geschichten dazu erzählend. Anna hatte ihren Platz am Fenster. Die Augen auf ihre Arbeit geheftet, schien sie auch zuzuhören. Der kleinste Knabe schlief in einer Korbwiege ihr zur Seite. Arnold winkte dem Erzähler zu, sich nicht stören zu lassen, und warf sich auf einen dem Platz seiner Frau gegenüberstehenden Stuhl. Friedrich erzählte weiter:
»Und in der Nacht holte der Engel das kranke Kind und trug es in den Himmel.«
»Bauen sich die Engel auch Nester?« fragte der kleine Richard.
Alle horchten auf.
»Kind, wie kommst Du darauf, was denkst Du Dir unter einem Engel?« fragte Friedrich erstaunt.
»Sie haben doch auch Flügel,« sagte Richard mit sehr nachdenkender Miene.
Die Combination war klar, er rangirte die Engel unter das Federvieh der Flügel wegen. Friedrich lachte laut auf, auch über Anna's und Arnold's Gesichter zog ein Lächeln, nur Wendula blieb ernsthaft. Sie respectirte die weinerliche Miene des Kleinen, der es, wie alle Kinder, nicht liebte ausgelacht zu werden, und sagte erklärend zu ihm:
»Ein Engel ist kein Vogel, die Menschen werden Engel, wenn sie todt sind. Mutter sagt, wenn ein Mensch stirbt, wachsen ihm Flügel und er fliegt in den Himmel zum lieben Gott, das heißt wenn er gut gewesen ist, und dort beim lieben Gott wird er glücklich, und ist es ihm hier schlecht gegangen und er ist doch gut geblieben, dann wird er am allerglücklichsten.«
Arnold warf einen raschen Blick auf seine Frau.
Gehörte sie zu jenen, die erst auf ein Glück dort Oben hoffen, auf ein um so schöneres Glück, weil es ihnen hier Unten versagt war?
Anna erröthete, als Wendula sich auf sie berief, Arnold deutete die schüchterne Empfindung, die das Erröthen hervorrief, sehr falsch. Er hätte weinen mögen über die stille Resignation seiner Frau, die in Güte und Geduld die Bürde des Lebens trug, um für das verfehlte irdische Glück ein himmlisches einzutauschen.
»Mutter wird auch ein Engel werden,« fuhr Wendula fort, »Vater und Onkel auch und Vater Reimer und Richard und das kleine Brüderchen, vielleicht ich auch, aber ich werde wohl nicht artig genug sein,« schwatzte sie fort, nahm dann das Bilderbuch vom Tisch, trug es zu ihrem Vater, schlug eilig das Blatt, auf dem der in Rede stehende Engel mit dem todten Kinde im Arm abgebildet war, auf, zeigte es dem Vater und sagte stolz über ihre Entdeckung:
»So sieht Mutter aus und das Brüderchen hat sie im Arm.«
Es war nur die liebliche Anmuth der schwebenden Gestalt, der sinnende Ernst des Antlitzes und die natürliche Regung des Kinderherzens, in allem Schönen eine Aehnlichkeit mit der Mutter zu finden, was zusammenwirkend Wendula zu diesem Vergleich anregte; auf Arnold's aufgeregtes Gemüth machte es den Eindruck einer Prophezeiung. Er schrak ordentlich zusammen und sagte heftig:
»Gott bewahre, Wendula, willst Du denn, daß die Mutter von uns fort in den Himmel fliegt?«
Anna lächelte.
»Es hat keine Noth,« sagte sie, »noch wachsen mir die Flügel nicht, ich möchte auch jetzt noch nicht sterben.«
» Jetzt noch nicht, ich glaub's,« meinte Arnold. Sein Ton klang bitter.
Anna sah ihn erstaunt an, ließ eine Weile ihre Augen forschend auf seinem Antlitz ruhen und bückte sich dann wieder schweigend auf ihre Arbeit. Wendula kehrte zu Friedrich zurück und drang in ihn weiter zu erzählen; er that es, Alle hörten schweigend zu, nur Arnold's Gesicht war es deutlich anzusehen, daß er mit seinen Gedanken ganz wo anders verweilte. Er hielt die Augen auf Anna geheftet, er studirte ihr Antlitz, ihm war zu Muth, als sähe er dasselbe zum ersten Mal.
In gewissem Sinne sah er es auch zum ersten Mal. Er hatte es wenigstens nie mit dem Gedanken angeschaut, etwas Anderes darin lesen zu wollen, als was es ihm in seinen klaren, reinen Zügen offenbarte. Er suchte auch jetzt nicht nach einem falschen Zuge, nur nach einem falsch verstandenen. Er fand ihn auch, man findet Alles, was man finden will. Die Ruhe und Stille, die ihm immer einen so wohlthuenden Eindruck machte, jetzt erst verstand er sie richtig. Es war die Kirchhofsruhe, die über abgeschiedenen Geistern schwebt und den, der lebendig unter Gräbern wandelt, mit unbeschreiblicher Sehnsucht gen Himmel zieht. Sprach denn nicht diese Sehnsucht deutlich aus dem verklärten Blick der sanften blauen Augen, verlieh sie nicht der zarten Farbe des Antlitzes den durchsichtigen Ton?
Anna's ganze Erscheinung kam ihm auf einmal so unirdisch vor, ihr blondes Haar, im Augenblick vom Abendsonnenstrahl beleuchtet, sah ihm aus wie die Glorie um das Haupt eines Engels. Er sah die Flügel wachsen, die sie aufwärts tragen sollten, sie wuchsen aus dem Leid empor, das er ihr zugefügt hatte. Er maß Anna's Liebe zu Friedrich an der seinen zu ihr, eine solche Liebe war nicht zu überwinden, der Kampf mit ihr mußte tödten. Anna starb auch, starb unter langsamen Qualen, wie ein Märtyrer, Frieden auf der Stirn und Lächeln um die Lippen, starb, um dort Oben glücklich zu werden.
Er stellte sich im Geiste neben Friedrich, verglich sein eigenes finsteres, trotziges, durch die Zerwürfnisse im elterlichen Hause schon in frühester Jugend feindlich gestimmtes Gemüth mit des Freundes offener, kindlich harmloser Seele. Friedrich hätte nicht nöthig gehabt, auch nur einen Gedanken vor ihr zu verschleiern, er mußte den Schatten zwischen sich und Anna dulden, der nicht von seiner Vergangenheit zu trennen war. Wie würde sie vor dem Zwiespalt zurückgewichen sein, der ihn von seiner Heimath entfernt, der ihn sogar seines Namens beraubt hatte. Von seinem Vater hatte er ihr erzählt, und von den Jahren, die er unter dessen Augen verlebte, aber über die tiefe Kluft, die dann folgte, hatte er sie mit verbundenen Augen geführt, abwärts sollte ihr Blick nicht schauen.
Sie kannte ihn nur zur Hälfte, lag nicht darin schon die Unmöglichkeit, ihr Alles zu sein? Aber auch er hatte sie bis jetzt nur halb gekannt. Sie hatte nie ihrer Jugendliebe gegen ihn erwähnt, sie hatte Friedrich, er sie vor seinen Augen wie fremd behandelt. Er wollte keine Schuld, er versuchte es eine Schonung in diesem Einverständniß zu sehen, aber der Gedanke daran goß bittere Tropfen in seinen Leidenskelch. Er riß seinen Geist gewaltsam von dieser Betrachtung los. Er dachte an die Heimath zurück. Seine Kindheit, seine Jugend zogen in Schattenbildern an ihm vorüber, dann verweilte er bei dem letzten Wiedersehen mit seiner Mutter, bei der letzten Unterredung mit ihr. Er wußte noch jedes Wort, was sie und er gesagt hatten, sah jeden ihrer kalten, strengen Blicke, der harte Ton ihrer Stimme verletzte ihn in der Erinnerung auf's Neue. Was hatte er denn von jenem Besuch in der Heimath gehofft, und was hatte er durch ihn errungen? Fluch, statt des Segens!
Freilich hatte die Mutter gesagt: »Ich fluche Dir nicht; aber die Kränkung, die Du mir zugefügt, das beleidigende Wort, was Du mir gesagt, die That, die meiner Erziehung Hohn spricht, mein vergebliches Streben – das ist der Fluch, der die Häuser einstürzt, die des Vaters Segen den Kindern auferbaut.«
Jetzt aber stürzte sein Haus ein, denn sein Weib, die es hütete, liebte einen Andern und hütete es nur mit der Todeswunde im Herzen.
Gott hört also doch auf ungerechten Fluch! –
Aber war denn der Fluch ungerecht? – Hatte er nicht die Mutter beleidigt mit Wort und That, hatte er nicht ihrem Willen getrotzt, ihr Streben verhöhnt? Ja, er hatte es gethan, aber er mußte es thun, wollte er ein Mann sein; sie hatte ihr Recht überschritten, ihre Macht mißbraucht. Er war im Recht gegen sie, im Recht! Er wiederholte das Wort in Gedanken, er richtete sich an demselben empor, und dennoch – mein Gott, läßt sich denn rechten mit der eigenen Mutter? – Liegt nicht in dem schroffen Zerreißen dieser heiligsten Bande schon ein Fluch, dem sich nicht entrinnen läßt, den man tragen muß, wenn man ihn nicht zu versöhnen versteht? Er konnte ihn aber nicht versöhnen, er meinte wenigstens, er könne es nicht, und so blieb ihm nichts Anderes übrig, als den Fluch zu tragen, kräftig, männlich, ohne durch ein Zucken den Schmerz zu verrathen, der ihr, die er unbesonnen in sein Schicksal hineingerissen, vielleicht weh gethan hätte.
Sie war unschuldig, sie durfte nicht noch mehr leiden, mit seinem Schmerz wenigstens sollte sie nichts zu thun haben.
O Gott, wie liebte er sie!
Während all' dieser traurigen Betrachtungen und Gedanken hatte er nicht einmal den Blick von ihr abgewendet, obgleich er sich dessen kaum bewußt war. Immer, wenn sie von der Arbeit aufsah, begegnete sie demselben unverwandten, aber seltsam verschwimmenden Blick. Er peinigte sie, sie fühlte sich wie gebannt, sie erröthete und erblaßte unter demselben. Einmal hatte sie leise gefragt:
»Was ist Dir, warum siehst Du mich so an?« aber er hatte es nicht gehört und den Blick nicht abgewendet.
Ihr Herz fing an zu schlagen, immer heftiger und heftiger, sie legte die Arbeit fort und stand auf.
Da erst erwachte er aus seinem Sinnen.
»Mein Gott, Anna, was ist Dir?« rief er erschrocken.
Sie rang nach Athem, sie lehnte sich einen Augenblick an seine Brust, ihr Herz schlug so heftig, daß er es zu hören glaubte.
»Hast Du das öfter?« fragte er ängstlich.
»Mitunter,« entgegnete sie freundlich und bemüht, ihn zu beruhigen; »aber Du brauchst nicht besorgt deshalb zu sein, ich habe zeitlebens an Herzklopfen gelitten, es ist nur ärger geworden mit der Zeit.«
»Du bist krank, herzenskrank,« sagte er so leise, daß nur sie es hörte, und das letzte Wort betonend.
Sie nahm es ganz harmlos auf, konnte aber die Sache selbst nicht verleugnen, sondern sagte nur:
»Das ist aber nichts Schlimmes, dabei kann man sehr alt werden.«
Er hielt sie noch immer in seinen Armen, obgleich der kleine Anfall vorüber war, und sah sie immer noch mit angsthaften Blicken an.
»So mußt Du mich nicht ansehen,« bat sie, »davon kam es. Ich ängstigte mich, als Du mich so unverwandt betrachtetest und gar nicht auf meine Fragen hörtest. Was wolltest Du denn?«
»Nichts, mein Kind, ich war nur in Gedanken,« versicherte er und wandte sich von ihr zu Friedrich, um ihr Zeit zu lassen, sich von ihrer Verwirrung zu erholen, »denn,« dachte er mit unsaglich bitterer Empfindung, »sie kann meinen Blick nicht mehr vertragen, er quält sie, das soll nicht wieder geschehen.«
Er bemühte sich, ruhig und unbefangen mit Friedrich zu sprechen, aber es gelang ihm schlecht. Diesem entging Arnold's Verstimmung nicht, und war vielleicht ein Grund, daß er früher als gewöhnlich aufbrach.
Arnold forderte ihn nicht zu längerem Bleiben auf, schickte sich aber an, ihn, wie es seine Gewohnheit war, ein Stück Weges zu begleiten.
»Warte nicht mit dem Abendbrod auf mich,« sagte er zu Anna, »ich habe noch im Walde zu thun, es könnte spät werden, bis ich wiederkomme. Bleibe nicht etwa länger auf, wenn es Nacht werden sollte, ehe ich zurück bin.«
Anna sah ihn erstaunt an. Die Möglichkeit seiner späten Rückkehr befremdete sie nicht, denn es war schon oft geschehen, daß er bis tief in die Nacht hinein im Walde blieb, aber die Art, wie er es ihr sagte, war so sonderbar. Er sah so gedrückt, so unruhig aus, und hatte er vorhin das Auge nicht von ihr abgewendet, so floh er jetzt scheu ihren Blick. Etwas von Wilddieben, denen er auf der Spur, von einem vergessenen Auftrag an die Holzfäller vor sich hinmurmelnd, schien er jeder weiteren Frage vorbeugen zu wollen und trieb nur Friedrich zur Eile an. Anna wandte sich seufzend von ihm ab und zu Friedrich, dessen Abschiedsgruß sie eben so unbefangen als freundlich erwiderte, viel freundlicher als den seinen, wie Arnold meinte.
Er biß die Zähne zusammen, sein Herz schlug heftig: es war viel kränker als das Anna's. Eine lange Weile schritt er schweigend neben Friedrich her, endlich sagte er:
»Mir geht heut so viel Beunruhigendes durch den Kopf. Sahst Du, in welchem Zustande meine Frau vorhin war? Sie ist krank, ist es gewiß schon lange und hat es mir nur verborgen. Das war unrecht, war eine falsche Schonung, denn das Uebel wächst nur während dessen und der Schreck ist um so größer, wenn man es dann auf einmal in seiner vollen Stärke gewahr wird.«
Friedrich sah den Freund ganz erschrocken an.
»Hast Du es nicht bemerkt, daß Anna krank ist?« fuhr dieser fort »Sonderbar, daß Dir das entgehen konnte, Du siehst sie doch so viel. Aber Du bist selber leidend, und kranke Leute sind egoistisch und denken nicht an die Leiden Anderen«
»Ich bin gesund, ganz gesund,« versicherte Friedrich, »wenigstens körperlich.«
»Du müßtest es auch geistig sein,« sagte Arnold sehr ernst. »Du müßtest Deinem Uebel Widerstand entgegensetzen, aber ich glaube, Du nährst und pflegst es, das ist nicht männlich.«
Friedrich erröthete, denn der Vorwurf traf, aber er schrieb ihn nur Arnold's freundschaftlichem Interesse zu, es fiel ihm nicht ein, die eigentliche Bedeutung der Warnung zu verstehen.
Richard fuhr fort:
»Du weißt, daß Deine Liebe hoffnungslos ist, sein muß, und thust nichts, sie zu besiegen. Man sieht es Dir an, daß Du Tag und Nacht an sie denkst, der Gedanke verzehrt Dich. Du darfst auch im Geiste das Antlitz Deiner Geliebten nicht mehr aufsuchen, vermagst Du es nicht, ohne Wünsche hineinzuschauen. Sie gehört einem Andern! Vielleicht hat sie Dich nicht einmal geliebt –«
»Ja, das hat sie,« unterbrach ihn Friedrich schnell und unbesonnen, aber freilich immer in der festen Ueberzeugung, Arnold sei vollständig unbekannt mit der eigentlichen Sachlage. Es wurde ihm so unsaglich schwer, seine Liebe aufzugeben, nun sollte er sie gar noch als einen wesenlosen Traum betrachten! Dazu ermannte er sich nicht im ersten Schreck der Zumuthung.
»Warum sollte sie denn einen Andern geheirathet haben?« sagte Arnold in gleichgültigem Tone, obgleich es ihm schwer wurde, seine eigentliche Empfindung zu verbergen.
»Sie war eine Waise, es ging ihr schlecht bei ihrer Verwandten,« erklärte Friedrich, »sie wurde von dieser wie eine Last betrachtet. Verlobt war ich nicht mit ihr, und sie hatte seit Jahren nichts von mir gehört. Da heirathete sie den Mann, der ihr Erlösung brachte, den sie nicht liebte wie mich, den sie aber achtete. Es war nicht ganz recht gehandelt, aber menschlich. Sie verdient keinen Tadel.«
»Weißt Du das von ihr selbst, hast Du noch etwas direct durch sie über ihr Schicksal erfahren?« fragte Arnold, noch immer seine Stimme beherrschend, »und es ist doch nicht möglich, daß Du selbst in der Entfernung noch in einem vertrauten Verhältniß zu ihr stehst, in einem Verhältniß, das ihren Mann beleidigen könnte?«
»Nein, bei Gott nicht!« versicherte Friedrich, »ich könnte ihrem Manne jederzeit ruhig in's Auge sehen. Ich beraube ihn nicht, und wäre ich schlecht genug es zu wollen, sie wäre die Erste, die mich für die Sünde zur Verantwortung ziehen würde. Alles was ich über sie erfahren konnte, giebt mir Zeugniß, daß sie glücklich ist. Das Glück hat vielerlei Gestalt, Arnold, und es ist manche Ehe zu den glücklichen zu zählen, die nicht aus Liebe geschlossen wurde. So wie ich sie kenne, kann sie ihre Pflichten nur mit Liebe erfüllen.«
»Es ist immer ein armseliges Glück, das man nur der Pflicht verdankt und gleichsam erst aus zweiter Hand empfängt,« erwiderte Arnold erbittert.
Dieser Ton der Erbitterung riß Friedrich aus seiner Unbefangenheit. Er sah Arnold halb erschrocken, halb fragend an, dieser fuhr fort: »Wenn sie meine Frau wäre, sie, die Dich früher geliebt hat, ich würde wenigstens den Himmel bitten, sie vor jedem Wiedersehen mit Dir zu bewahren. Ich würde vielleicht weder Dir noch ihr etwas Böses zutrauen, aber ich würde es nicht ertragen können, den ruhigen Frieden, den sie aus dem zertrümmerten Glück ihrer ersten Liebe gerettet, auf's Spiel gesetzt zu sehen. Ich würde eifersüchtig sein auf jede wiedererwachte Erinnerung, ich würde wahnsinnig vor Schmerz, verurtheilte man mich, den Kampf mit einem Gefühl anzusehen, das keine Macht der Welt zu vernichten im Stande ist. Eines Weibes zweite Liebe sein – der Gedanke ist unerträglich! Täglich daran gemahnt zu werden durch den, der ihre erste war, könnte mich um den Verstand bringen. Ich kann einmal Alles nur aus vollem und mit ganzem Herzen thun, lieben wie hassen, zürnen und verzeihen, verehren und verachten. Bemächtigt sich ein Gefühl meiner Seele, dann verschreibe ich ihm diese auf Tod und Leben. Auf feine Nuancen verstehe ich mich nicht, meine Natur ist zu sehr aus dem Groben gehauen. Nun weiß ich, geschehene Dinge lassen sich nicht ändern, und wäre ich so unglücklich gewesen, eine Frau zu heirathen, die vor mir einen Andern geliebt und für mich nichts mehr übrig hat als eine armselige Pflichttreue, ich könnte ihr den unüberlegt ausgeübten Betrug verzeihen, aus Liebe, ich könnte mich bescheiden lernen, weil ich es müßte und weil ich glauben würde, daß sie nicht im Stande wäre, ihre Pflicht absichtlich zu verletzen, aber ich würde es nicht dulden, daß der, den sie mir vorgezogen, sich wieder in ihre Gedanken, vor ihr Antlitz drängt und meine Hausehre beleidigt. Die Menschen sind zudem so schwach. Es ist, wie Du vorher sagtest, manches Unrecht so menschlich. Es wollen Viele nichts Böses thun und sind hineingerissen, ehe sie es denken. Es wird manche Gedankensünde zur That, und wer die Kraft nicht hat, dem Gedanken zu widerstehen, die Versuchung zu fliehen, der hat schon den ersten Schritt abwärts gethan. Ich möchte Dich also bitten, Friedrich, siehst Du jemals Deine Geliebte wieder, fliehe sie, um ihret- und Deinetwillen, fliehe sie aus schuldiger Rücksicht für ihren Mann, dem Du schon geraubt hast, was ihm Keiner ersetzen kann! Aus Pflichtgefühl, aus Gewissenhaftigkeit halte Dich fern von ihr, hat sie Kinder, auch der Kinder wegen. Du brauchst es ja nicht hart, nicht rauh, nicht so zu thun, daß sie die Absicht merkt und erschrickt oder verletzt wird, aber thun mußt Du es, wenn Du rechtschaffen bist und die Ehe heilig hältst. – Vielleicht,« fuhr Arnold, nachdem er, wie um sich zu erholen, eine Weile inne gehalten hatte, fort, »vielleicht sendet Dir der Himmel auch noch ein braves Weib. Ich wollte, er thäte es, das allein könnte alle Zerwürfnisse einigermaßen ausgleichen, könnte Dich auch noch wieder glücklich machen. Du wirst sagen, Du hast auch nur noch ein halbes Herz zu geben, wahr – aber die Frauen sind viel resignirter als wir, sie können es leichter ertragen, nicht des Mannes erste Liebe zu sein, übernehmen sie doch das barmherzige Amt der Trösterin! Es wäre auch übel für sie, wären sie weniger resignirt, denn wir sind im Allgemeinen in dem Punkt schlimme Burschen. Es hat selten einmal Einer den Instinct, gleich die Rechte zu finden, und bis es geschehen, ist doch Alles nur ein Spiel. Es ist nicht Jedem gleich so ernst mit der Liebe, wie Dir und mir, aber die Deine muß sterben, hörst Du, sie muß. Hoffnungslosigkeit ist ihr Tod, und wenn Du meinst, die Waffe werde nicht sicher genug auf Dein Herz gerichtet, so habe den Muth, Dich selber hineinzustürzen, und erlöse so Deine und ihre Seele!«
Friedrich hatte mit tiefer Bewegung zugehört, als Arnold mit einer Wärme und Innigkeit, die ein bis in's Innerste erschüttertes Herz verriethen, so zu ihm sprach.
Es war allerdings nicht mehr möglich, Arnold's eigentliche Meinung mißzuverstehen, auch fragte Friedrich nicht erst, woher jener die Kenntniß erlangte, die seine Worte verriethen, er sagte nur mit einem offenen, Verzeihung erflehenden Blick auf Arnold:
»Ich habe nichts Schlechtes gewollt, gewiß nicht, Arnold, ich würde nicht fähig sein, etwas Schlechtes zu thun. Glaube mir, ich halte meine Liebe für eine hoffnungslose, daß sie dennoch nicht starb, ist nicht meine Schuld. Hätte mich nur einen Augenblick der schmeichelnde Gedanke erfaßt, ich sei noch geliebt, o dann wäre ich geflohen, gewiß, ich wäre es!«
Arnold sah den Freund mit prüfenden Blicken an.
»Wie war denn Anna damals, als ihr Herz Dir gehörte?« fragte er mit tiefem Ernst, »war sie heiter und fröhlich, oder lag jener sinnende Ernst schon auf ihrer Stirn? jenes rührende Lächeln, was einen so engelhaften Eindruck macht, spielte es schon um ihre Lippen? Sage mir aber die Wahrheit, Du bist es mir schuldig! Es ist auch nun zu spät, irgend etwas beschönigen zu wollen.«
»Sie war noch sehr jung, als ich sie kannte,« antwortete Friedrich, »war zwar immer eine stille Natur, aber doch der harmlosen Fröhlichkeit hingegeben, die zu jenen jungen Jahren gehört. Sie nahm nicht Theil an meinen Kinderstreichen, aber sie konnte doch herzlich darüber lachen. Nur zuweilen nahm sie die ernste Miene an, die jetzt –« er hielt inne.
»Die jetzt,« ergänzte Arnold den Satz, »die jetzt ein Gemüth verräth, in dem der Frohsinn ausgeklungen und ruhiger, sanfter Ergebung Platz gemacht hat.«
In Friedrichs Augen leuchtete der Widerspruch auf, aber Arnold litt nicht, daß er ihn in Worte kleidete. Er reichte dem Freunde die Hand.
»Wir wollen nun nicht weiter darüber sprechen,« sagte er fest, »was darüber zu sagen nöthig war, ist gesagt, möge nun auch geschehen, was geschehen muß. Ich rechne fest auf Dich und bitte noch einmal, sanft mit ihr zu verfahren.«
Friedrich antwortete nur durch einen Blick, dann trennten sie sich, und während Friedrich den Weg einschlug, der nach seinem nicht mehr weit entfernten Hause führte, ging Arnold weiter in den Wald hinein, dem unbeschreiblichen Zuge nachgehend, der ihn Einsamkeit, die tiefste Einsamkeit aufsuchen hieß.
Anna ging während dessen den gewohnten Beschäftigungen nach, aber nur mit halbem Herzen und so zerstreut, daß Wendula ihrem Gedächtnisse zu Hülfe kommen mußte. Sie besorgte das Abendbrod und gab den Kindern ihr Theil. Sie selbst hatte nicht die mindeste Lust etwas zu essen und that es nur, als sie bemerkte, daß Wendula ganz still ihren Löffel weglegte. Dann brachte sie die Kinder zu Bett und blieb bei ihnen, bis sie eingeschlafen waren, ging dann in die Wohnstube zurück, wo sie ihre kleine Lampe auf den Nähtisch an's Fenster stellte, dieses öffnete, an demselben Platz nahm und ihr Nähzeug hervorholte, sich die Zeit durch fleißiges Arbeiten zu verkürzen. Draußen im Walde rauschte der Wind und schüttelte die Bäume, aber tief versteckt und von allen Seiten geschützt, wie das Forsthaus es war, drang nur so viel von der erregten Luft in das Fenster, ihr die heiße Stirn zu kühlen. Sie nähte emsig eine, zwei Stunden, nur manchmal bog sie sich zum Fenster hinaus um zu lauschen, aber kein nahender Fußtritt ließ sich vernehmen, kein Ton drang in ihr Ohr, als das Sausen des stärker werdenden Sturmes.
Schade, daß die Gedanken zweier Menschen, die sich lieb haben, nicht jederzeit auch in der Ferne, auch ohne die Vermittelung der wortlosen Sprache des Antlitzes, zum gegenseitigen Verständniß hindurchdringen, daß man so geneigt ist, der eigenen vorgefaßten Meinung größeren Glauben zu schenken, und wenn sie auch der Erfahrung von Jahren trotzte, als der überzeugenden Stimme der Wahrheit, die keinen Zeugen für sich herbeiruft, weil es ihr nie einfällt, derselben bedürfen zu können. Manche Menschen glauben sich vorherbestimmt zum Unglück und führen nicht selten durch diesen Glauben dasselbe erst herbei.
Worauf stützt sich denn aber meist dieser Glaube der Vorherbestimmung zum Unglück? Doch nur auf die anklagende Stimme des Gewissens und wenn sie auch so leise anklagt, daß ihre Sprache mehr geahnt als verstanden wird.
»Ich soll nicht glücklich sein, Gott will es nicht,« dieser Gedanke war's, der dem gebrochenen Geist Arnold's immer und immer wiederkehrte, als er durch den Wald stürmte, seinen Schmerz in Stille und Einsamkeit austoben zu lassen und sich auf das Schattenleben vorzubereiten, zu dem er sich von nun an verurtheilt glaubte.
»Aber,« dachte er, »warum muß sie mitleiden durch meine Schuld, sie, die nichts gethan hat, den Zorn des Himmels zu rechtfertigen. Sie hat nicht, wie ich, gegen ein Gesetz der Natur freveln müssen, warum trifft der rächende Flammenstrahl von Oben nun auch ihr Haupt?« – –
Thörichte, frevelnde Frage, menschlicher Kurzsichtigkeit entspringend. Reicht denn die Gerechtigkeit Gottes nicht weit über die Grenzen hinaus, innerhalb welcher wir ihr oft ein Ziel zu setzen wagen? Wissen wir denn den genauen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft, können wir es denn ermessen, wann und für wen die heut ausgestreute Saat des Unrechtes ihre Leidensfrucht trägt, wer in die Kette der Ereignisse verflochten, wenn auch fern stehend der Schuld oder dem Leid des Augenblickes, doch durch das, was heut geschieht, Lohn oder Strafe empfängt oder unwissentlich vorbereitet für einen Andern?
Nicht blinder Zufall bestimmt unser Loos. Der Mensch ist nicht der Spielball des Geschickes, das ihn heut auf die Höhe des Glückes emporhebt und morgen in den Abgrund der Verzweiflung stürzt, diesen zu Thaten des Edelsinnes, jenen zu Unrecht und Verbrechen treibt und die Folgen willkürlich auf schuldige und unschuldige Häupter fallen läßt. Weiter, viel weiter reicht das verschuldete oder unverschuldete Schicksal. Nicht als Individuum steht man den Ereignissen gegenüber, wenn sie sich auch scheinbar nur an die eigene Person knüpfen, sondern als untrennbar vom großen Weltganzen. Keiner empfängt Leid und Freude für sich allein, und in der Freiheit des Thuns zügeln einen Jeden die Gesetze allgemein gültiger Moral, Gesetze, deren richtige Erkenntniß zugleich ein Sporn zu allem Guten, wie eine, die Freiheit vor Ausartung in Willkür schützende Schranke ist. Es giebt kein Schicksal durch und für den Einzelnen. Einer leidet für Viele, ebenso wie Viele wieder von dem Geschick des Einzelnen leiden und wie das Glück, das ein Haupt bescheint, Strahlen wirft auf den Weg unzähliger Anderer.
An dem Begriff einer gemeinsamen Familie, deren unsichtbarer Zusammenhang sich dem kurzsichtigen menschlichen Auge nur in einzelnen Zügen und Momenten offenbart, an dem Glauben an einen gemeinsamen, allliebenden und Alles weise lenkenden Vater zerbricht die Frage: warum? und scheitert die aberwitzige Klage über Zufall und Willkür des Weltregiments.
Arnold's kämpfender Geist rang sich wenigstens zu dem Glauben hindurch, der die Erkenntniß vermittelt, und zu der Ergebung, ohne die der Glaube nichts ist als ein hohles Wort. Für seine Schuld nahm er die Buße hin, Anna's unverschuldetes Leid überwies er dem Himmel und gelobte sich, ohne Murren, ohne Klagen, in kraftvoller Resignation jedes Opfer zu bringen, das sie mit ihrem Schicksal versöhnen könne, da er nicht im Stande war, sie von demselben zu befreien. Daß sich auch Stolz in seine Resignation mischte, gestand er sich nicht ein, noch weniger, daß dieser selbe harte, unbeugsame Stolz es war, der auf einmal eine unübersteigliche Schranke zwischen ihm und der Frau aufrichtete, deren zweite Liebe zu sein das tief gekränkte, trotzige Herz verschmähte.
In der ersten heftigen Aufwallung seines Schmerzes war der Gedanke: wenn Du stirbst, ist sie frei, zwar machtvoll an ihn herangetreten und immer wieder zuckte er durch die heftig arbeitenden leidenschaftlichen Gefühle seiner Seele, aber immer wieder bekämpfte er ihn durch den noch mächtigeren: sie ist zu rein, um ihr Glück einer Sünde verdanken zu können. Für sich hätte er sich vielleicht vor der Sünde nicht gescheut – in Anna's Namen wagte er nicht sie zu begehen. – –
Mitternacht war vorüber. Anna saß noch am Fenster und wartete auf die Rückkehr ihres Mannes. Das Nähzeug war ihrer Hand entfallen, die Unruhe in ihr war zu groß, sie ließ sich auch äußerlich nicht mehr niederhalten. Sie stand bald auf und ging leise durch's Zimmer, bald bog sie sich weit zum Fenster hinaus, aufmerksam jedem Geräusch lauschend, das durch die Nacht zu ihr drang. Solch' qualvolles Warten schärft das Gehör, und selbst da, wo sonst Grabesstille herrscht, erheben sich Töne und Klänge, den einsam Wartenden immer auf's Neue irre zu führen.
Bei jedem Rauschen des Windes fuhr Anna zusammen, und wenn sie sich von dem Irrthum überzeugt, klammerte sich ihre Unruhe an einen andern Vorwand zur Angst, und sie bildete sich ein, aus dem Winde müsse Sturm werden und es sei gefährlich unter den Bäumen zu wandeln, während die entfesselten Geister der Luft durch die Aeste stürmten, zerbrechend und umreißend, was nicht kräftig genug war Widerstand zu leisten. Hundertmal war Arnold noch später des Abends heimgekehrt und sie hatte sich nicht geängstigt, warum that sie es heut? Sie wußte selbst keine andere Erklärung als: er war so sonderbar heut. Er hatte sie angesehen, wie man Jemand ansieht, von dem man für immer Abschied nimmt, geradeso wie ihre Mutter sie angesehen, als sie auf dem Sterbebette lag, so voll Liebe, Innigkeit und tiefer Trauer. Was hatte er nur gehabt? Anna machte sich Vorwürfe über ihre peinigende Angst, konnte sie aber eben so wenig besiegen, als den Herzschlag dämpfen, der ihr den Athem benahm.
In der Nebenstube schliefen die Kinder ruhig und fest. Sie überzeugte sich davon und versuchte aus den friedlichen, lachenden Gesichtern Beruhigung zu schöpfen. Es gelang ihr für eine Weile, aber dann brach die Herzensangst wieder aus. Um nur freier athmen zu können, ging sie vor die Thür, aber die dichte Laube vor derselben entzog ihr den Anblick des Himmels, nach dem sie sich sehnte. Sie ging weiter, sie betrat den Pfad, der in den Wald führte, es wurde ihr wohler, als sie weiterging. Sie überzeugte sich auch, daß von Sturm noch keine Rede sei, das dichtgewachsene Gehölz schützte genugsam auch vor den mitunter heftigeren Windstößen.
Sie ging langsam weiter und weiter, immer in der Erwartung, jetzt müsse sie ihrem Manne begegnen, und unbekümmert zu dem Gedanken lächelnd, er könne sie etwa ihrer Angst wegen schelten. So hatte sie den Ausgang des Waldes erreicht, vor ihr lag der Weg, der über die Felder nach Häringsdorf, nach den mit demselben zusammenhängenden Dörfern Neuhof und Neukrug, dann weiter nach der Forst führt, in der Friedrich's Revier lag. Ein Gedanke fiel ihr ein: wenn sie den Fußweg einschlug, kam sie an eine einzelnstehende Hütte. Dort wohnte Vater Reimer, zu diesem wollte sie gehen. Hatte ihr Mann mit den Holzfällern zu thun gehabt, so mußte er da vorübergekommen sein, und dann hatte Vater Reimer ihn unbedingt gesehen. Schon der Gedanke war ein Labsal für sie, und die Angst machte sie egoistisch und ließ sie vergessen, daß sie dem alten Manne vielleicht die Nachtruhe störe.
Er war aber wach, als sie kam, und wollte eben an den Strand, mit seinem Boot auf den Flunderfang ausfahren. Er hatte Arnold gar nicht vorübergehen sehen, es gelang ihm aber doch, die aufgeregte Frau zu beruhigen.
»Wie können Sie sich nur ängstigen,« sagte er, »es ist ja gar kein Grund dazu da. Hier im Walde ist, seit ich denken kann, kein Mensch verunglückt. Es ist just gar nichts drin, was Einem Schaden bringen könnte, und wer, so wie er, Weg und Steg kennt, kann sich doch auch nicht verirrt haben. Was in aller Welt soll ihm nur geschehen?«
»Ich weiß es nicht,« sagte Anna kleinlaut, »aber wenn der liebe Gott ein Unglück schicken will, so kommt es, auch ohne daß wir ahnen woher.«
»Gewiß,« antwortete Vater Reimer mit gutmüthigem Spott, »er kann die See übertreten und ihn fortspülen lassen, er kann auch mit dem bischen Wind, was wir heut haben, die Bäume ausreißen und ihm über den Hals stürzen, er kann ja auch ein Stückchen Himmel herunterwerfen und ihn damit tödten, ja, was könnte der liebe Gott nicht Alles, wenn es ihn belustigte, den Unsinn wahr zu machen, den seine Menschenkinder sich ausdenken. Da er aber das nicht thut, denke ich, Sie überlassen ihm getrost Ihren Mann und gehen nach Hause und zu Bett. Wollte der liebe Gott eine Heimsuchung schicken, Sie könnten's ja doch nicht hindern. Wozu wollen Sie sich denn in der Nachtluft erkälten und krank machen?«
Anna lächelte, blieb aber noch zögernd stehen.
»Wissen Sie was,« sagte der alte Mann, »ich werde einmal ein wenig im Walde nachsehen. Begegne ich ihm irgendwo, so ist es Zufall, denn wissen darf er es nicht, daß wir ihn wie ein kleines Kind im Walde suchen, weil er einmal das Abendgebet zu Hause verpaßt hat. Ich werde aber dann schon hören, ob er heimgeht oder noch Weiteres zu thun hat, und dann bringe ich Nachricht. Gehen Sie also, liebe Frau, er könnte ja derweile nach Hause gekommen sein.«
Anna erschrak vor dem Gedanken,
»Ich werde Sie lieber erst nach Hause bringen und dann nach dem Herrn Förster sehen,« meinte der Alte, dem das blasse Gesicht Anna's und die aufgeregte Stimmung der sonst so vernünftigen Frau Bedenken erregte, aber sie wies sein Anerbieten zurück.
»Wollt Ihr mir etwas zu Liebe thun, so seht nach meinem Manne,« bat sie, »ich scheue mich nicht, allein zurückzugehen, und nun ich weiß, daß noch ein Mensch außer mir sich um Arnold kümmert, werde »ich ganz ruhig sein. Seid nicht böse, lieber Vater Reimer, daß ich Euch um den Fischfang bringe.«
»Das thut nichts,« beruhigte sie der Alte, »ich fahr' ein andermal Ich werde mir auch nächstens einmal die Wendula dazu holen, ich hab's ihr versprochen und den Schlaf holt sie schon nach. Sie ist aber ein prachtvolles Kind, und man wird ordentlich klüger, wenn man mit ihr spricht.«
Der gute Alte wollte Anna auf andere Gedanken lenken.
Ihre Augen leuchteten auf, als er so lobend von Wendula sprach, aber sie kehrte doch im Geist wieder zu Arnold zurück, als sie den Rückweg antrat und die Befürchtung, er könne inzwischen nach Hause gekommen sein, ihre Schritte beschleunigte.
Ihre Angst um ihn war etwas gewichen, dafür beschlich sie jetzt das leise Grauen, das Einen so leicht überfällt, wenn die Nerven gereizt sind und eine ungewöhnliche Situation uns aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Anna schauerte zusammen, als sie den Wald wieder betrat, und unwillkürlich heftete sich ihr Blick auf jeden Gegenstand, der ihr in's Auge fiel und sich doch in der unsichern nächtlichen Beleuchtung nicht deutlich erkennen ließ. Der Mond war untergegangen, Wolken verhüllten die Sterne, bald schien der Weg, dem sie folgte, sich ganz im Dunkel zu verlieren, bald fiel ein unheimliches Dämmerlicht aus denselben, das Allem eine gespenstische Form und Gestalt gab. Sie beschleunigte ihre Schritte, aber plötzlich blieb sie stehen und athmete hoch auf. Der Laut einer Kinderstimme drang in ihr Ohr: »Mama!« Sie hatte deutlich das Wort gehört, aber wie Geisterton war es verhallt und kein fernerer Laut unterbrach die tiefe Stille.
Eine abergläubische Furcht überkam sie. Sie glaubte zwar, ihre Phantasie habe sie getäuscht, aber sie legte sich doch diese Täuschung als eine Warnung von Oben aus. Sie hatte ihre Kinder so allein im Hause gelassen, Wendula mochte aufgewacht sein, sie vermißt und nun in leicht begreiflicher Angst nach der Mutter verlangt haben. Und was konnte nicht noch Alles geschehen sein! Die unwahrscheinlichsten Befürchtungen bemächtigten sich ihrer Seele, die kalten Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, sie lehnte sich einen Augenblick an einen Baumstamm, um nicht umzusinken, und schloß die Augen. Als sie dieselben wieder öffnete, fiel ihr erster Blick auf einen, durch die dunkeln Büsche hindurch blendend weiß ihr entgegenleuchtenden Gegenstand. Sie konnte nicht gleich erkennen, was es war, sie näherte sich erst langsam, immer die Augen starr darauf hingerichtet, stieß aber dann plötzlich einen Ruf der Ueberraschung ans und eilte hastig auf denselben zu.
Es war ein seltsamer Fund, den sie gemacht. Ein schlafendes Kind lag vor ihr, ein kleines Mädchen, wie gebettet in dem üppigen Kraut der Blaubeeren, beide Aermchen über den Kopf geschlungen, das Gesicht in die weiße Schürze gedrückt, die es sich untergebreitet haben mußte und in die es vielleicht bittere Thränen hineingeweint haben mochte, ehe es einschlief. Die Füße waren ganz bedeckt von dem grünen Gras, nur die dunkeln Locken auf der weißen Schürze und das buntfarbige Kleidchen waren sichtbar.
Anna hob das Kind auf, die Berührung erweckte es nicht; es rief zwar wieder mit derselben, vom Schlaf gedämpften und deshalb so unirdisch klingenden Stimme »Mama, Mama!«, aber ohne die Augen zu öffnen und mit dem Kopf sich in Anna's umschließenden Arm schmiegend. Es war ein liebliches Kindergesicht, über das der Schlaf seinen Fittig breitete, die Wangen in jenem warmen Farbenton strahlend, den der Schlaf über ein Kindergesicht zu hauchen pflegt, dunkle Wimpern beschatteten die Rosengluth, um den Mund zuckte noch das Weinen, über dem die kleine Verirrte eingeschlafen sein mochte.
Anna's Herz schwoll vor Theilnahme für die Kleine und Mitgefühl für die arme Mutter, die es jetzt wahrscheinlich in verzweiflungsvoller Angst suchte.
Sie versuchte es zu wecken, um augenblicklich Auskunft zu erhalten und es der Mutter zurückbringen zu können, aber vergebens. Die Kleine mußte zu tief erschöpft sein, sie öffnete wohl für einen Augenblick die schlaftrunkenen Augen, aber nur um sie sogleich wieder zu schließen und weinerlich zu sagen: »Mama, laß mich schlafen, es ist noch nicht morgen.« Dann schwand das Bewußtsein wieder und sie legte sich so recht bequem in den Armen Anna's zurecht, das Gesicht an deren Busen schmiegend und durch ihre tiefen, ruhigen Athemzüge verrathend, daß sie fest eingeschlafen sei.
Anna war nicht mehr weit von ihrem Hause, und obgleich selbst erschöpft und überhaupt nicht sehr kräftig, erhöhte Aufregung und Mitgefühl ihre Kraft, und sie erreichte ihr Haus, ohne dazwischen ruhen zu müssen. Wie wohl war ihr, als sie dasselbe betrat. Die Kinder schliefen fest, ihr Mann war noch nicht da, aber sie dachte jetzt kaum an denselben und ängstigte sich nicht mehr um ihn. Sie wußte ja nun, warum eine so unbegreifliche Bangigkeit sie hinausgetrieben. Zu dem verirrten Kinde hatte Gott sie hinführen wollen, sein Werkzeug war sie gewesen, das Kind vor Schaden zu behüten. Sie küßte es, als sie es sanft ausgezogen und in ihr eigenes Bett gelegt hatte, sie hätte es nicht inniger küssen können, wenn es ihr eigenes Kind gewesen wäre.
Dann rückte sie den Lehnstuhl ihres Mannes neben ihr Bett und setzte sich hinein, den anbrechenden Morgen und das Erwachen der Kleinen zu erwarten, die ihr das Räthsel der Nacht lösen sollte.
Dort fand sie Vater Reimer, mit dem Kopf in die Lehne des Stuhles zurückgesunken und fest schlafend, als er nach Verlauf einer Stunde kam, um ihr mitzutheilen, daß er ihren Mann gesprochen habe, daß dieser so wie die halbe Einwohnerschaft Häringsdorfs unterwegs sei, ein Kind zu suchen, das sich während des Nachmittags im Walde verlaufen, dessen Abwesenheit die Eltern natürlich in die höchste Verzweiflung gesetzt hätte.
Alle diese Nachrichten behielt er jedoch nun für sich, da er die geängstigte Frau, in den Armen des Schlafes fand. Sich leise aus dem Zimmer zurückziehend, warf er sich in der Nebenstube gleichfalls in einen Stuhl, um bei Anna's Erwachen gleich mit seinem Trost bei der Hand sein zu können. Den kleinen schlummernden Gast, dem sie ihr Lager überlassen, hatte er natürlich nicht bemerkt.