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Frau Artefeld hatte seit dem Tode ihres Mannes schwere, sorgenvolle Jahre verlebt. Nicht von außen kamen die Stürme, die seit jenem Tage, an dem ihr Herz so schmählich verrathen worden war, nicht aufhörten finstere Wetterwolken über ihrem Haupte dahinzujagen. Nicht von außen kamen sie. Ihr Haus stand noch fest und entbehrte des Herrn nicht; noch stieg der Wohlstand der reichen Frau mit jedem Jahr, noch war die Zuversicht zu der Unantastbarkeit ihrer irdischen Güter dieselbe; aber ihr Herz, dasselbe Herz, das, ohne zu bluten, den eigenen Sohn enterbte und verstieß, das so fest und kalt die einzige Tochter einem ungeliebten Manne zur Ehe gab, das Herz hatte auch seinen verwundbaren Punkt, und an den rührte und an dem rüttelte das Schicksal, sie zum Kampfe herausfordernd.
Sie hatte nichts auf der Welt mehr zum Lieben als Georg, und nie sah sie ihn anders als im Schatten jener geheimnißvollen Macht, die, langsam oder schnell den Pfaden jedes Einzelnen folgend, Hoffnungen vernichtet, Erwartungen in den Staub tritt und, jeder Berechnung, jeder Voraussetzung spottend, dem Menschen mit Sicherheit kaum einen größeren Spielraum zu Entschlüssen und Thaten bietet als die nächste Minute, jene geheimnißvolle Macht, die wir Tod nennen und die uns zur Seite steht von dem Moment an, wo das Kind die Augen zum ersten Mal im Leben aufschlägt. Lange hatte der Todesengel an Georg's Lager gestanden, auf das ihn der unglückliche, uns bekannte Vorfall geworfen, langsam zog er sich zurück, aber die Mutter glaubte nicht an sein Entweichen, und die Kälte und Gleichgültigkeit, mit der sie das Schicksal ihrer anderen Kinder rücksichtslos in die Hand genommen und ohne Erbarmen zerbrochen hatte, wurde an ihr gerächt durch eine nie endende Angst um das Leben dieses letzten, theuersten Kindes.
Nur langsam erholte sich Georg damals von den Nachwehen der tödtlichen Krankheit, die ihn Wochen und Monate an's Lager fesselte, um so langsamer vielleicht, als Frau Artefeld allein die Pflege leitete, unter derselben aber nichts Anderes verstand, als eine fortwährend bemerkbare Ueberwachung des Patienten, eine stete Beeinflussung all' seines Thuns, eine fortgesetzte Aufzählung und sehr geräuschvolle Ausführung dessen, was sie für denselben für nützlich und angenehm hielt, eine Art der Pflege, die eher einen Gesunden krank, als einen Kranken gesund machen könnte.
Ihr mangelndes Verständniß namentlich für die seelischen Bedürfnisse eines Leidenden wurde noch fühlbarer, als Georg sich zu erholen anfing und mit krankhafter Reizbarkeit nach Unterhaltung und Abwechselung verlangte.
Vergebens bemühte sie sich, ihren schroffen, starren Geist den kindischen Begriffen Georg's anzupassen, um das immer stärker werdende Verlangen nach Victor oder anderen Spielgefährten in ihm zu unterdrücken, da sie eine fast eifersüchtige Angst hegte, sich durch Andere verdrängt oder auch nur ersetzt zu sehen. Sie versuchte es sogar mit Märchenerzählen, aber auch damit wollte es ihr nicht glücken. Sie selbst wußte keine, und als sie welche zum Zweck des Wiedererzählens las, prägte sich ihr wohl der thatsächliche Inhalt des Gelesenen ein, aber es blieb nichts von dem Zauber, der Anmuth der Einkleidung. Unter dem Einfluß ihres nüchternen Geistes, der von Poesie nichts ahnte, wurde das Märchen zu einer entblätterten, duftlosen Blume, und Georg sagte unwillig: »Das sind keine Märchen, das will ich nicht hören.«
So blieb ihr zuletzt nichts Anderes übrig, als Viktor rufen zu lassen, aber Victor's Märchen, die er sich damals selbst aussann, und in denen die verzauberten Prinzen und Prinzessinnen meist durch Musik erlöst wurden, erweckten auf einmal eine Sehnsucht nach dem Zauber der Töne in Georg, die viel stärker war als selbst die nach den geliebten Märchen. Vielleicht kam sich das arme, kranke Kind, das so plötzlich und zum ersten Mal im Leben von dem Dämon der Krankheit darniedergeworfen war, wie durch einen bösen Zauber gebannt vor und hoffte auf die Erlösung, die in Victor's Märchen eine Rolle spielte, vielleicht lag es auch nur in dem überreizten Nervensystem des Kleinen, daß er so gewaltsam nach Aufregung verlangte.
»Es ist Alles so langweilig und still, ich will Musik haben, Viktor soll mir vorspielen!« klagte er.
»Ich darf es doch wohl nicht,« flüsterte Viktor der Frau Artefeld zu, »Musik muß ihm doch schaden, ich werde sehen ihn davon abzubringen.«
»Was soll Musik ihm schaden? Noch dazu Dein kindisches Spiel!« entgegnete diese, »ich fürchte eher, die Unterhaltung wird nicht lange vorhalten.«
Aber sie hielt vor, denn obgleich der Arzt die Hände über dem Kopf zusammenschlug als er davon hörte, ja, es sogar verbot und gewissenlos nannte, die Nerven seines Patienten so zu reizen, blieb Frau Artefeld dabei, die Unterhaltung sei eine unschädliche und Musik schläfere ein, statt aufzuregen, wie sie aus eigener Erfahrung wisse.
So kam denn Victor täglich, und wenn Georg unermüdlich zuhörte, ohne ein Wort zu sprechen, die glänzenden Augen auf Victor geheftet und mit klopfendem Herzen den Tönen lauschend, und ein paarmal wirklich über der Musik einschlief, so triumphirte sie, die Natur ihres Kindes viel richtiger beurtheilt zu haben als der Arzt.
Unbeschreiblich langsam erholte sich Georg. Der Fuß war längst geheilt, auch seine Kräfte kehrten allmählich wieder, da zeigte sich leider ein neues Uebel, das die völlige Genesung verhinderte. Es war eine Schwäche in den Sehnen und Muskeln des Kniegelenks, und der Fall wurde zwar keineswegs für hoffnungslos, aber doch für langwierig erklärt. Unter dem Einfluß dieses Uebels, das häufig von Anfällen heftigen Schmerzes begleitet war, hatte Georg sich nicht in der kraftvollen Weise entwickelt, wie die Blüthe seiner ersten Kindheit es einst versprochen. Im Wachsthum war er nicht zurückgeblieben, aber sein Bau blieb zart, seine Gesichtsfarbe blaß und seine gereizten Nerven nahmen fortwährende Schonung in Anspruch.
Aber als Trösterin für manche Stunde des Leidens war ihm die, vielleicht früher in ihm schlummernde, aber in der Zeit der Krankheit bewußt gewordene Liebe zur Musik geblieben, die immer mehr Grund und Boden gewann, je mehr sich mit ihr zugleich ein unverkennbares Talent für diese anmuthigste der Künste in ihm entwickelte. Täglich und stündlich während seines Krankenlagers hatte er die Mutter gebeten, ihm Musikunterricht geben zu lassen, und kaum einigermaßen zu Kräften gekommen, mahnte er sie mit krankhafter Ungeduld an die Erfüllung ihres Versprechens. Frau Artefeld fuhr fort in dieser Passion und diesem Wunsch eine vorübergehende Laune zu sehen, die zu unterdrücken, sobald sie ihr unbequem würde, ihr nicht schwer fallen könne, und so hielt sie ihr Versprechen, gestattete es Victor, das Lehreramt anzutreten, und ersuchte ihn nur, die Kinderei nicht gar zu ernsthaft zu nehmen.
Nicht aus Uebereinstimmung mit Frau Artefeld's Meinung handelte Victor nach ihrer Vorschrift, sondern aus Rücksicht auf die schwachen physischen Kräfte seines Schülers nahm er es mit dem Unterricht nicht so ernsthaft und hielt den Lerneifer des Kleinen so viel als möglich zurück. Georg war nicht Victor's erster Schüler. So jung Letzterer war, unterstützte er doch schon Herrn Wagner in seinem Beruf, und dessen praktischen Anweisungen folgend, lehrte und lernte er zugleich, aber freilich immer noch in gewisser Abhängigkeit von seinem Lehrer, dessen Hausgenosse er war. Auch in Beziehung auf Georg's musikalische Ausbildung folgte er den Rathschlägen seines Lehrers.
»Halte ihn zurück,« sagte dieser zu Victor, als er das erste Mal Georg hatte spielen hören, »halte ihn um Gottes willen zurück. Sieh nur, daß er keinen falschen Weg einschlägt, aber wenn er auf dem richtigen ist, halte ihn auf. Vielleicht ist nur ein Talent in dem Kinde, und dann wird es, wenn auch langsam, immer genug reifen, um ihm einmal zur Erholung und Freude zu dienen. Schlummert aber ein Genie in ihm, dann überlaß es dem Himmel, es zu wecken, wenn es in seinem Rathschluß liegt. Wir Beide wollen den Sturm nicht heraufbeschwören, der dies arme Kind in den Abgrund wehen könnte, regte das Genie in ihm die Flügel.«
Victor sah seinen Lehrer erstaunt an. Herr Wagner sprach selten so schwungvoll, und nur, wenn er ganz besonders erregt war.
»Dummer Junge,« beantwortete er jetzt seinen Blick. »Kennst Du Frau Artefeld noch nicht genug, um zu wissen, daß sich unter ihren Augen kein Genie entfalten darf, nicht einmal ein Kaufmannsgenie? Und nun gar ein musikalisches! Sei barmherzig gegen Deinen kleinen Freund und halte ihn zurück.«
Das that denn Victor auch, aber wie er auch Georg's Eifer im Zaume zu halten suchte, wie häufigen Unterbrechungen auch der Unterricht ausgesetzt war, so machte Georg doch auffallende Fortschritte, und die, wie Frau Artefeld gemeint hatte, vorübergehende Laune wurde immer mehr zur bewußten und mit Freude genährten Passion.
Sie war zugleich die reizvollste Blüthe in Georg's Kinderleben, brachte Poesie in die nüchterne Prosa des Tages und entschädigte ihn für manche Entbehrung, die theils sein Kränkeln, theils die seltsame Erziehungsweise der Mutter ihm auferlegte.
Natürlich konnte all' den Ansprüchen, die Georg an ihre Pflege, ja an ihre Ueberwachung seiner kleinen Person machte, nicht genügt werden, ohne der Thätigkeit Abbruch zu thun, die sonst hauptsächlich ihre Zeit und ihre Gedanken erfüllt hatte, und darin lag vielleicht die Größe des Opfers, das sie ihm brachte.
Ohne daß sie ihrem neuen Buchhalter, Herrn Jakobi, zu viel Verdienste dabei einräumte oder ihm eine zu große Unabhängigkeit zugestand, war er es doch hauptsächlich, der es ihr möglich machte, sich ihrem Sohne zu widmen, ohne gleich den Untergang der Firma fürchten zu müssen. Als Georg wochenlang mit Tod und Leben rang, war es doch die Mutter gewesen, die den Sieg über die Kaufmannsfrau errungen hatte. Sie war nicht von dem Bett des Kindes gewichen, das Krankenzimmer war ihre Welt gewesen, sie hatte die ganze Leitung der Geschäfte Herrn Jakobi überlassen, überzeugt, daß nun Alles rückwärts gehen werde, aber doch in dem Glauben, Alles wieder in's Geleis bringen zu können, sobald sie nur das Steuer wieder in die Hand nehmen würde.
Als sie nach Georg's Errettung aus Todesgefahr zum ersten Mal wieder in's Comptoir kam, sich die Bücher vorlegen, sich Rechenschaft von allem Geschehenen geben ließ, war sie erstaunt, nirgends einen Rückschritt zu finden. Es war Alles in musterhafter Ordnung, nichts war versehen, nichts unternommen, was nicht ihre Billigung hatte.
»Ich danke Ihnen, Sie haben meine Instructionen vortrefflich verstanden, Sie sind gewissenhaft im Sinne derselben verfahren,« sagte sie zu Herrn Jakobi, bestätigte ihn in dem Amt des ersten Buchhalters und ließ ihm eine anständige Gratifikation zukommen. Von da an hatte Jakobi freieres Spiel, als je einer seiner Vorgänger gehabt, und in dem Streben nach noch größerer Unabhängigkeit that er Alles, sich in der Gunst seiner Herrin zu befestigen. Letzteres geschah hauptsächlich durch das unverändert ehrerbietige Benehmen, das er gegen sie beobachtete und das er mit einer gewissen Würde zu vereinigen verstand.
Es bleibt dahingestellt, in wie weit Herr Jakobi es wirklich gut mit seiner Herrin meinte, jedenfalls besaß er ihr Vertrauen in so hohem Grade, daß die kleinen Anfeindungen, denen er ausgesetzt war, wie alle bevorzugten Diener ihnen ausgesetzt sind, wirkungslos blieben. Sie beobachtete ihn lange scharf, sie konnte keinen Grund finden, ihm zu mißtrauen. Er that Alles, was sie nur von ihm verlangen konnte, er vertrat sie, so gut sie überhaupt Jemand vertreten konnte, und nie hatte sie, von ihren Reisen zurückgekehrt, den mindesten Grund zur Unzufriedenheit gefunden.
Auch dies letzte Mal nicht, obgleich sie so verdrießlich zurückkam, daß jedes kleine Versehen ihren bittern Tadel erregt haben würde.
Sie war mehr als jemals reisemüde.
Georg's Fuß hatte nicht die mindeste Besserung erfahren, ja der dortige Arzt hatte ihr auf das bestimmteste gesagt, daß er den Gebrauch jedes Bades für unnütz halte.
»Schicken Sie den Kleinen so viel als möglich auf's Land, strengen Sie ihn geistig so wenig als möglich an, lassen Sie ihn sich bewegen bis zur Ermüdung, und Sie werden die guten Folgen sehen. Seine Constitution muß nur im Allgemeinen gekräftigt werden, dann wird auch die Schwäche im Fuße schwinden.«
Voll von diesen Gedanken, und noch nicht wissend, ob sie dieselben anerkennen und wie sie ihnen Folge geben sollte, und sie in Verbindung mit Vorschlägen bringend, die einen Gutsankauf bezweckten und die bisher von ihr zurückgewiesen waren, kam sie nach Hause, all' der üblen Laune hingegeben, die Diejenigen zu empfinden pflegen, die irgend ein Hinderniß aus ihrem Wege für eine Beleidigung ihrer Ansprüche anzusehen gewohnt sind.
»Hier ist eine abermalige Anfrage wegen des in Rede stehenden Gutes,« sagte Jakobi, als er seiner Herrin Rechenschaft von allen während ihrer Abwesenheit stattgefundenen Vorfällen gegeben hatte. »Es möchte vielleicht an der Zeit sein, eine Entscheidung zu treffen, falls die Frau Commerzienräthin nicht schon entschieden haben. Ich habe mich, dem erhaltenen Auftrage gemäß, genau nach den Verhältnissen erkundigt.«
Beiläufig gesagt, hatte Frau Artefeld ihm gar keinen Auftrag gegeben, aber sie hatte in der Zeit, als Empörung, Kummer, Angst und Sorge vielfach auf sie eingestürmt waren, momentan mit einer körperlichen Erschöpfung auch eine geistige Erschlaffung, namentlich in einer Abnahme ihres Gedächtnisses gespürt. Um keinen Preis hätte sie aber irgend Jemand diese Schwäche eingestehen mögen, und so kam es, daß sie sich auch noch, in der Furcht sie zu verrathen, zuweilen solcher Dinge erinnerte, an die sie in Wahrheit vorher nicht gedacht hatte.
»Die Gegend, in der das Gut liegt,« fuhr Jakobi fort, »wurde mir als schön und anmuthig geschildert, was natürlich Nebensache ist. Es soll aber mit einer sehr gesunden Lage einen äußerst kulturfähigen Boden verbinden und somit dem, der das nöthige Capital an Verbesserungen wenden könnte, eine, den Einkaufspreis bedeutend übersteigende Einnahme garantiren. Der jetzige Besitzer kann sich nicht darauf halten. Kommt es zur Sequestration, so ist es sehr fraglich, ob der Verkauf die daraus haftenden Schulden deckt, während sich nach genauester Schätzung des Gutswerthes nur ein augenblicklicher Nachtheil für den denken läßt, der es an sich bringt, immer vorausgesetzt, daß der neue Besitzer in der glücklichen Lage ist, Capitalist zu sein. Da nun die Frau Commerzienräthin mit einer ziemlich, ansehnlichen Summe dabei betheiligt sind, und Sie sich damals, in der großmüthigen Absicht, dem Besitzer aufzuhelfen, zu einem Darlehn willig finden ließen, so ist der Vortheil, der in dem Ankauf des Gutes liegen würde, außer Frage. Frau Commerzienräthin machten mich ja früher selbst schon darauf aufmerksam. Zugleich wäre es ein Act der Großmuth, denn ein Verkauf aus freier Hand gewährte dem jetzigen Besitzer unzweifelhaft die Möglichkeit, sich mit seinen Gläubigern zu verständigen, indem er zugleich seine fernere Existenz sicherte. Es ist ein kaufmännisches Geschäft, dessen Rentabilität in der Zukunft die Opfer, die im Augenblick gebracht werden müssen, ausgleicht.«
Herr Jakobi hatte das Alles in ruhigem, geschäftsmäßigem Tone, und ohne seine Herrin nur anzusehen, gesprochen.
Jetzt aber fuhr er, wärmer werdend und mit einem schüchtern bittenden Blick zu ihr aussehend, fort:
»Es ist das schönste Privilegium der Reichen, daß sie, dem Herzen allein folgend, Barmherzigkeit üben können. Capitalisten stehen fast den Königen gleich. Sie führen das goldene Scepter, das die Welt beherrscht. In ihre Hand ist es gegeben, es zu führen wie ein schwacher Mensch, der sich Huldigung damit erzwingt, oder wie ein Gott, dem sie als freie Gabe dargebracht wird.«
»Es war eigentlich nicht meine Absicht, mir Grundbesitz zu erwerben und die Last meiner Geschäfte zu vermehren,« sagte sie. »Ich verstehe nichts von Landwirthschaft, doch das wäre noch das Wenigste, das ließe sich nachholen; aber ich bin auch zu sehr an die Stadt gefesselt, um mir einen andern, als sehr vorübergehenden Aufenthalt zu gestatten, wenn auch Erholung mir zuweilen willkommen wäre, die Erholung, die im Wechsel der Arbeit liegt, eine andere würde es schwerlich sein.«
»Man erhöht seine Kräfte, wenn man sie zuweilen schont,« wagte Jakobi einzuwenden.
»Wie kann ich sie schonen,« entgegnete Frau Artefeld, »ehe Georg nicht herangewachsen ist, um mir die Arbeit abzunehmen? Ach! und das Heranwachsen thut's nicht allein. Gesund muß er erst werden und kräftig, eher kann ich nicht an meine Ruhe, an meine Wohlfahrt, an eine Zuflucht für meine alten Tage denken. Wer ein Kind hat, dem ist Selbstentäußerung Nothwendigkeit. Das kann ein einzeln stehender Mensch nicht begreifen.«
Jakobi wußte auch mancherlei von der Selbstentäußerung der vor ihm stehenden Frau, namentlich wie sie dieselbe ihren älteren Kindern gegenüber geübt. Die Bilder, die rasch an seinem Geist vorüberflogen, verriethen sich aber nicht in seinem Auge, denn er senkte meist die Wimpern über diesen Spiegel der Seele und richtete selten frei und offen den Blick in das Auge des Andern.
»Haben die Frau Commerzienräthin nicht gemeint,« fing er auf's Neue an, »daß dem kleinen jungen Herrn Landluft besser sein würde als alle Verordnungen der Aerzte, die lästigen Badereisen vor Allem, und daß bei einem blos ländlichen Aufenthalt die Rücksichten fortfielen, die bei einer Badecur mit dem Lernen genommen werden müssen?«
»Wohl wahr,« entgegnete sie, »aber dann müßte ich wieder die Lücke ausfüllen, denn einem Hauslehrer würde ich mein Kind nie anvertrauen. Wie soll ich aber Alles bewältigen, hier und dort die oberste Leitung führen, jeden Augenblick der Pflege meines Kindes widmen und dann noch selbst wieder lernen, die längst vergessenen Kenntnisse hervorholen, um sie ihm beizubringen!«
»Das ist wohl unmöglich,« versetzte Jakobi kleinlaut, »es gehörten außergewöhnliche Kräfte dazu.«
»Die habe ich nun freilich,« entgegnete Frau Artefeld, »ich habe immer einfach und in pünktlichster Regelmäßigkeit gelebt, ich habe immer fleißig gearbeitet und somit nie Zeit gehabt zu den müßigen Träumereien, die geistige wie körperliche Kräfte verzehren. Kummer freilich habe ich auch tragen müssen, aber es war wenigstens keine Schuld dabei, und wen ein gutes Bewußtsein stählt, das merken Sie sich, mein Freund, der überwindet auch siegreich die Anfechtungen des Kummers. Mit meinen Kräften wollte ich es also wohl schon leisten, aber werde ich die nöthige Unterstützung finden? Ich kann doch hier immer nur ungefähre Instructionen zurücklassen, wie ich es auch bei den Reisen in's Bad gethan habe. Diese waren allerdings eine Nothwendigkeit, und ich hoffte von Jahr zu Jahr, daß sie aufhören würden, aber das Gut ist keine Nothwendigkeit, und wenn ich es habe, wird der Besitz ein Anspruch an meine Zeit und Kräfte, den ich natürlich eben so wenig wie jeden derartigen abweisen würde.«
»Eine Nothwendigkeit für den Erwerb läge vielleicht in dem Verlust, den der Bankerott des jetzigen Besitzers unfehlbar für die Firma herbeiführen würde,« entgegnete Jakobi, und setzte dann mit einer bei ihm seltenen Treuherzigkeit hinzu: »ich muß eine Schwäche gestehen, die Frau Commerzienräthin haben sie mir gewiß schon abgemerkt, ich wünsche den Ankauf des Gutes. Es ist eine Eitelkeit für unser Haus. Alle hiesigen größeren Firmen haben Grundbesitz, größeren und kleineren, Gärten, Landhäuser und dergleichen, Frau Commerzienräthin haben nichts und sind die Erste hiesigen Ortes.«
Frau Artefeld lächelte geschmeichelt, sagte aber doch:
»Mein Freund, Ihre Eitelkeit auf mein Haus, obgleich ich sie gern für einen Beweis Ihrer Anhänglichkeit an dasselbe ansehen will, kann doch, wie Sie selbst einsehen werden, unmöglich auf meinen Entschluß einwirken. Es ist hierbei nur zu bedenken, ob ich meine Kräfte nicht überschätze, wenn ich ihnen noch mehr Arbeit zumuthe, denn das steht fest: mir zum Vergnügen kaufe ich das Gut nicht. An mein Vergnügen habe ich nie denken dürfen, ich habe immer nur zugesehen, wenn Andere für das ihre sorgten.«
»Frau Commerzienräthin denken in dieser Beziehung fast zu streng, versagen sich zu viel,« wandte Jakobi ein.
Sie lächelte schmerzlich.
»Das liegt in meiner Stellung. Es ist nicht leicht, der Erste zu sein, mein Freund. Seien Sie froh, daß Sie nur Diener, nicht Herr sind. Die Dienenden haben es wahrhaftig am besten in der Welt, sie haben nicht zu sorgen, nicht zu denken, ihr Thun ist ihnen vorgeschrieben, und halten sie sich streng an die Vorschrift, fällt auch die Verantwortung für sie fort. Sie haben nichts mit den Chancen des Glückes, haben nichts mit schweren Zeiten zu thun, das Alles bedenkt und besorgt die Herrschaft für sie.«
Herrn Jakobi's Augen irrten in der Stube umher und verriethen nichts von dem, was er über das beneidenswerthe Loos der dienenden Klasse dachte und über die sonderbare Verblendung mancher Menschen, die gerade das am meisten preisen, was sie nicht haben, nicht haben möchten, und zu dem sie auch nicht im mindesten passen. Es lag wirklich eine arge Satyre in dem Umstande, den Vorzug der Abhängigkeit von Lippen preisen zu hören, die sich immer nur zum Befehlen zu öffnen pflegten, auch da, wo eine Bitte viel näher gelegen hätte.
»Wenn die Frau Commerzienräthin mir nur noch mehr Arbeit zuweisen wollten,« sagte er endlich schüchtern, »ich könnte gewiß mehr thun, an gutem Willen fehlt es mir nicht.«
»Nein, ich weiß,« entgegnete sie freundlich. »Sie sind zuverlässiger, als es je einer meiner Buchhalter war, aber Sie wissen es wohl, des Herrn Auge sieht immer schärfer, als das der Diener! Ihm steht Erfahrung zur Seite.«
Ob Herr Jakobi das wußte, bleibt dahingestellt, er sagte nur leise:
»Ein gutes Vorbild ersetzt einigermaßen die Erfahrung und der Diener, der sich bemüht, mit seines Herrn Auge zu sehen, studirt dessen Blicke und handelt unter dem Einfluß derselben, auch wenn die Augen eine Weile fern sind. Die Blicke der Vorsehung hat man nie sichtbar vor Augen; doch wird der Gedanke an dieselben zur Religion. Im rechten Glauben findet man aber auch das rechte Handeln.«
Jakobi schwieg, seine Herrin mit einem flüchtigen, forschenden Blick streifend. War es ihm ängstlich, ob die Dosis Schmeichelei nicht doch gar zu stark gewesen?
»Gehen Sie jetzt, es kann mir ja doch kein Anderer rathen,« sagte Frau Artefeld schwermüthig und winkte ihrem treuen Diener Entlassung zu.
Triumphirend theilte Jakobi seiner Braut, der hübschen, jungen, leichtherzigen, vielleicht auch leichtfertigen Directrice eines Putz- und Modewaarengeschäfts das Ergebniß seiner Verhandlungen mit Frau Artefeld mit.
»Sie hat das Gut noch nicht,« bemerkte diese.
»Sie wird es aber kaufen,« versicherte Jakobi; »der Gedanke, die eigene Wichtigkeit durch einen noch erweiterten Wirkungskreis zu erhöhen, ist ein guter Sporn für sie, und den Gedanken habe ich ihr geschickt eingegeben. Bah, sie sagen immer, mit der Frau ist schwer umzugehen, kinderleicht ist's, wahrhaftig! Man muß nur nichts erstürmen wollen und sich nie merken lassen, daß man eigene Ideen hat.«
»Aber was gewinnst Du dabei, wenn sie das Gut kauft?« fragte das junge Mädchen neugierig.
»Freieren Raum im Hause und freiere Hand im Geschäft, das eine für Dich, das andere für mich,« entgegnete er, »und,« fügte er geheimnißvoll hinzu, »ich will Dir noch etwas sagen, was sie selber nicht weiß. Das Geschäft widert sie eigentlich an, und der Boden hier brennt ihr unter den Füßen. Sie kann es nicht verwinden, daß sie jahrelang zum Spielball ihres verstorbenen Mannes gedient, das verleidet ihr Alles, was mit der Erinnerung an ihn zusammenhängt. Hier im Hause verfolgt sie aber die Erinnerung in jedem Zimmer, und das ist ein eben so starkes Motiv gewesen, sie die Badereisen unternehmen zu lassen, als die Kränklichkeit des Sohnes. Sie kann sich aber nirgends wohl fühlen und nirgends lange bleiben, wo sie nicht ihr ganz von ihrem Willen abhängiges Reich unter sich hat, deshalb muß sie sich ankaufen. Ich fürchte zwar sehr, nun wird sie mit dem lieben Gott in Hader gerathen, wenn der die Frucht auf ihren Feldern auf seine und nicht in ihrer Weise wachsen läßt, und es mit dem Regen und Sonnenschein nach eigenem Ermessen hält. Aber das ist seine Sache, und hier kann ich während dessen mein Schäfchen in's Trockene bringen, natürlich auf erlaubtem Wege, und Du, mein Herz, kannst es Dir dann auch behaglich und angenehm im Hause machen, denn sie wird immer längere Zeit fortbleiben und wird sich überzeugen, daß ihr Genie auch von dort aus Alles, was hier vorfällt, übersieht.«
Das Mädchen lachte.
»Wenn sie es nur überhaupt erst zugiebt, daß Du heirathen und ihr Buchhalter bleiben darfst,« sagte sie dann.
»Ich denke, sie wird zu dem Zweck meine Wohnung erweitern,« antwortete Jakobi lakonisch, mit einem siegesgewissen Blick und Lächeln, »sie wird es thun, eben so gut, wie sie das Gut kaufen und wie meine Belohnung dafür, daß ich den Handel zu Stande gebracht habe, nicht ausbleiben wird.«