Victor Auburtin
Einer bläst die Hirtenflöte
Victor Auburtin

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Aus »Kristalle und Kiesel« (1930)

Rothenburg

In Rothenburg o.T. habe ich das schönste Hotelzimmer inne, das ich je in meinem Leben innegehabt habe.

Der Komfort dieses Zimmers besteht in zwei sehr breiten, dicht nebeneinanderstehenden Fenstern, die sich voll auf die mittelfränkische Landschaft öffnen. Die mittelfränkische Landschaft fängt gleich unter diesen Fenstern an und verläuft dann über Roggenfelder, Gerstenfelder, Kleefelder weit bis an die fernen Berge.

Bevor ich schlafen gehe, stelle ich den Krimstecher auf die Marmorplatte des Nachttisches. Und wenn dann die ambrosische Nacht bei angelweit offenen Fenstern durchgeschlafen worden ist, betrachte ich vom Bett aus das frühe Land. Was ist das dort hinten auf der Wiese für ein weißer Strich, der gestern noch nicht da war? Krimstecher her und angeschraubt! Es ist ein Zug Gänse, die schwanzwackelnd zum Morgenbade schreiten.

Dann sinke ich wieder in die schwellenden Kissen zurück und schlafe die nächste Stunde noch einmal so gut.

Was haben Ihre Gänse mit Rothenburg zu tun? wird der Leser fragen. Man braucht nicht nach Rothenburg zu reisen, um Gänse über die Wiese gehen zu sehen.

Doch; um von einem Luxushotel aus Gänse über die Wiese gehen zu sehen, habe ich bis nach Rothenburg reisen müssen. Denn das ist ja der Vorzug dieser seltsamen Stadt, daß sie so unmittelbar in Feld und Wiese hineingestellt ist. In anderen Städten, auch in kleineren, muß der Bürger stundenlang laufen, bis er im Freien ist. Erst kommen die Fabriken, dann die Villenvororte, dann die Laubenkolonien, dann ganze Felder voll alter Konservenbüchsen. Hier ist ein kleines Städtchen mit allen Gewerben eng zusammengepreßt in den Ring der Mauern. Ein paar Schritte durch das dunkle, hallende Tor, und gleich bist du im Freien.

 

Die Ästheten allerdings haben ein Mißtrauen gegen Rothenburg; es erinnert so sehr an die Meininger mit ihren echten Butzenscheiben, die in den Bijouteriefabriken von Chemnitz hergestellt werden. Rothenburg ist aus der Mode gekommen, wie die Wasserfälle, die Burgen am Rhein, die Edelfräulein und die Knappen.

Daß Rothenburg gerade auf die Talentlosigkeit eine besondere Anziehungskraft ausübt, läßt sich nicht leugnen. Man erkennt es an den zahlreichen Malern, die hier in allen Ecken sitzen und Greuliches hinbürsten. Vorsichtig und argwöhnisch geht der Fremde durch die Giebelgassen und unter den eisengerankten Wirtshausschildern vorüber; daß er sich nur ja nicht etwa bei einer unerlaubten Rührung ertappe!

Bis er sich schließlich der Erkenntnis hingibt, daß diese Stadt eben nicht in Chemnitz angefertigt worden ist; daß alles echt ist, echter als in Berlin; und daß schließlich die mittelalterliche Epoche nicht dafür kann, wenn sie uns von den elenden Dichtern der Geibel-Zeit verekelt worden ist.

 

Das Schönste von Rothenburg ist das Haus. Das Haus in der Reihe der Straße. Solch Haus ist ein organisches Wesen; unregelmäßig, gebaucht, schief, hier ein Fenster, dort drei. Nicht nach einem Bauplan gearbeitet, aber gewachsen.

Neben meinem Hotel ist eine Schmiede. Sie steht wohl aus der Zeit des Kaisers Wenzel da, ist aber kunsthistorisch belanglos. An der Ecke ein gedrückter kleiner Erker; breit und sicher öffnet sich der Spitzbogen des Tores; drinnen hantieren die Schmiedeburschen um das Feuer. Abends kommen die Schnitterinnen vom Felde mit ihren Sensen und treten durch den großen Bogen in die Schmiede ein. Ein halbnackter Bursch nimmt die Sensen und klopft sie auf dem Amboß zurecht; dabei erzählt er unanständige Witze, daß die Mädchen sich lachend gegen die Wand lehnen.

Fest zusammengewachsen Menschen, Arbeit und Haus.

So haben zur Zeit des Kaisers Wenzel die Sommermädchen dagestanden unter diesem Bogen; so hat der Schmiedebursch schon damals geklopft. Und so wird es in fünfhundert Jahren noch sein, wenn der Wind der Zeit alle unsere Autogaragen fortgeblasen hat.

Rothenburg hat kein Theater. Die dramatischen Bedürfnisse seiner Bewohner werden durch die schöne Frau Anna Wallenda befriedigt, die eine vorzügliche Akrobatentruppe besitzt. Glücklicherweise war sie zu meiner Zeit gerade da.

Die Vorführung fand auf dem Kapellenplatz statt. Drei Wohnwagen waren angefahren und bildeten Prospekt und Kulissen. Aus allen Fenstern des Platzes sahen Tausende zu, und in der Mitte des Platzes war für die besseren Elemente ein Parkett errichtet. Wir Nassauer aber drückten uns auf dem Bürgersteig herum und gingen immer weiter, wenn der Mann mit dem Teller kam.

Aufgeführt wurde ein Stück, dessen Inhalt kurz angegeben sei. Es erschienen zwei Clowns, jeder mit einem Stuhl und einer Gitarre. Sie stellten die Stühle hin, stiegen hinauf, setzten sich auf die Lehnen und begannen nun zu singen: Male, Male, lebt denn meine Male noch? Das dauerte eine ganze Weile. Dann nahte von hinten her der Tod, angetan mit weißen Gewändern. Als die Clowns die furchtbare Erscheinung erblickten, fielen sie nach hinten herunter, liefen schreiend fort, und damit war es aus.

Das Stück erinnert in seiner ethischen Tendenz etwas an den »Every Man«. Wir schrien einfach vor Begeisterung. Und dabei beachte man, daß ganz die Forderung Lessings erfüllt war: die tiefste Wirkung durch die einfachsten Mittel erzielt.


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