Victor Auburtin
Einer bläst die Hirtenflöte
Victor Auburtin

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Was man ist

Was ist denn eigentlich Dichten? Dichten ist, wenn ein Literat die Straße lang geht, und am blauen Himmel stehen Lämmerwölkchen; dann kommt es dem Literaten von selbst auf die Lippen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.«

Und so ist dieses schöne Gedicht entstanden.

Oder: ein anderer Literat hat sich in die Köchin des Nachbarn verliebt; er möchte sie einladen, mit ihm abends spazierenzugehen. Da setzt er sich hin und dichtet den Vers: »Du bist wie eine Blume so hold, so schön, so rein.«

So ist alles Dichten. Genau genommen ist das Dichten ein Naturvorgang; wie der Apfel auf dem Baume reift, und wie das Ei aus der Henne kommt, so reift das Werk im Dichter, und so bewegt es sich aus ihm heraus.

 

Schön; aber nun ist da die Literarwissenschaft, die bringt in die Sache System und teilt die Äpfel und Eier in verschiedene Gattungen ein. Und niemand ahnt, wieviel Gattungen es gibt.

In der neuesten Literaturkritik, die jetzt erschienen ist, gibt es: Thematische Identitäten, pseudopoetische Genußfaktoren der Rhetorik, normative Poetik, Literarrezeptionalistik, Literardifferenzialistik, Literarpsychognostik, Symptomatologie; es gibt ein nomokratisches System und ein physiokratisches System und eine Kombination von Sensationellem und Theoretischem, für die eine wissenschaftliche Formel vorliegt, nämlich ± thematisches Paar.

Auch ich und mein kleines Werk, wir sind in dieser Literaturgeschichte verzeichnet, und zwar in der Rubrik Literarrezeptionalistik.

Ich bin ein Literarrezeptionalist.

Natürlich habe ich bis jetzt gar nicht gewußt, daß ich ein Literarrezeptionalist bin. Aber auch der Laubfrosch weiß es nicht, daß er ein Laubfrosch ist und daß er auf lateinisch Hyla arborea L. heißt. Wüßte er das, es würde ihn vielleicht verstimmen, und er würde von jetzt ab schweigen.

Laßt uns nicht verstimmt sein, Brüder; kümmern wir uns nicht darum, welchen Namen der Gelehrte uns gibt, sondern quaken und schreiben wir weiter, wie Gott es uns aufgetragen hat.


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