Victor Auburtin
Einer bläst die Hirtenflöte
Victor Auburtin

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Der Dichter und der Literat

Der indische Dichter Rabindranath Tagore zog durch die Lande und veranstaltete viele Vorlesungen.

Jetzt, so sprach der Literat vor sich hin, jetzt wäre der richtige Augenblick gekommen, Rabindranath Tagore einmal gründlich zu verreißen. Das würde eine Art von Aufsehen machen; gerade jetzt, wo so viel von ihm geredet wird.

Man müßte, so fuhr er sinnend fort, etwa schreiben, daß dieser Mann nur deshalb so berühmt ist, weil er aus Indien kommt und einen unaussprechlichen Namen sowie einen gewellten Bart trägt. Würden deutsche Dichter etwas Ähnliches schreiben, kein Mensch läse sie, denn der Prophet gilt nichts im eigenen Vaterland. Und witzig könnte man den deutschen Dichtern den Rat erteilen, sie sollten nach Indien gehen, um bei den Hindus die gebührende Achtung zu finden.

 

Der Literat beschloß, einen solchen Aufsatz zu schreiben, aber er sah ein, daß es dazu nötig und auch zweckdienlich sei, die Werke des indischen Dichters vorher einmal zu lesen.

So abonnierte er sich bei einer Leihbibliothek, in der man täglich ein Buch bekommt, und bat das Fräulein, ihm nacheinander alle Werke Rabindranath Tagores zu geben. Er erhielt zuerst die Sammlung Gitanjali und vertiefte sich zu Hause in die Erzählungen dieses Buches.

Aber je weiter er las, um so finsterer wurden seine Züge. Nein, murmelte er schließlich, ein solcher Aufsatz läßt sich beim besten Willen nicht schreiben. Das Aas kann etwas, er schreibt gut und hat sogar poetische Einfälle. Nichts zu machen, ich würde mich nur blamieren.

 

Am nächsten Tage trug er Gitanjali in die Leihbibliothek zurück.

Nun? fragte das Fräulein, hat es Ihnen gefallen?

Der Literat antwortete: Es hat mir sogar sehr gut gefallen. Tadellos. Prima. Das ist wirklich einmal ein großer Dichter.

Also kann ich Ihnen die anderen Sachen von ihm geben?

Nööh, sagte der Literat, nun interessiert er mich nicht mehr.


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