Victor Auburtin
Einer bläst die Hirtenflöte
Victor Auburtin

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Ein Tag in der Sommerfrische

Zehn Uhr morgens. Der Postbote kommt in das Gastzimmer und schüttelt die Regentropfen ab. Von der Eisenbahnstation her hat er zwei und eine halbe Stunde durch Feld und Wald marschieren müssen.

Er gibt mir die Zeitung und tritt dann an den Schanktisch, wo schon der Wirt, der Forstgehilfe und der Reiter versammelt sind. Die Herren beschließen, einen kurzen Morgenstehschnaps zu veranstalten.

Durch das Fenster, an dem ich sitze und meine Zeitung lese, kann ich auf den Hof sehen; in der Mitte dieses Hofes steht eine Gans, die mich mit ihren gelben Augen unverwandt betrachtet.

Dahinter fern der See, schwarz im Regenwinde.

 

Zwölf Uhr. Ich verzehre an meinem Fenster einen Aal in Dill. Der Aal hat noch heute morgen im See geschwommen, und der Dill ist kein Büchsenersatz, sondern frischer grüner Dill. Fräulein Grete hat ihn mir soeben in der Küche lachend unter die Nase gehalten.

Was die Gans betrifft, so steht sie immer an derselben Stelle im Hofe, doch hat sie mir jetzt ihre hintere Seite zugekehrt. Nach meiner Uhr kann ich zählen, daß sie sechsmal in der Minute mit dem Schwanze wackelt.

Der Postbote aber, der Forstgehilfe, der Reiter und der Wirt haben den Morgenstehschnaps etwas lebhafter ausgestaltet und erzählen sich ihre Kriegserlebnisse.

 

Vier Uhr. Es scheint, daß ich an meinem Fenster ein wenig geschlafen habe. Beim Aufwachen bemerke ich, daß der See jetzt im hellen Sonnenschein glänzt. Du lieber Himmel, da ist ja Aussicht, daß die Fischer doch noch einen Hecht hereinbringen für heute abend.

Inzwischen hat die Gans sich hingesetzt, weil der Boden schön warm geworden ist. Und ich mache die Beobachtung, daß eine Gans im Sitzen nicht mit dem Schwanz wackeln kann. (Oder nicht wackeln will?)

Der Reiter, der Forstgehilfe, der Wirt und der Postbote haben sich ebenfalls hingesetzt, aber aus einem anderen Grunde: sie sehen nämlich nicht ein, warum sie ihren Morgenstehschnaps nicht im Sitzen weiterführen sollten.

 

Acht Uhr abends. Der Hecht war vorzüglich; ein gebratenes Schwanzstück, fast ohne Gräten.

Nun ist die Gans zu Bett gegangen, und ich beschließe, ebenfalls zu Bett zu gehen; unmöglich abzuwarten, wann der Wirt, der Reiter, der Forstgehilfe und der Postbote mit ihrem Morgenstehschnaps zu Ende sein werden.

In das Schlafzimmer hinein, in dem ich liege, verdämmert durch die Vorhänge der selige Tag; und draußen singt der See um alle seine Ufer.

Aber was sind das für Vögel, die jetzt noch auf dem Wasser tätig sind und sich mit klangvollen Lauten rufen? Nun, dem wollen wir morgen nachforschen. Möge ein jeder Tag seine Aufgabe und seine Lehre bringen.


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