M. Artzibaschew
Ssanin
M. Artzibaschew

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XLII

– – – Herbst ... Schon Herbst ... Nun kommt der Winter, – schnell ... Wieder wird es Frühling werden, Sommer, wieder Herbst ... Winter, Frühling, Sommer ... Bis zum Ueberdruß der alte Gang! ... Und was werde ich in dieser Zeit anfangen? Das gleiche, wie jetzt!

Jurii lächelte bitter.

Im besten Fall werde ich ganz verblödet sein, werde über nichts mehr nachdenken! Und nachher kommt Alter und Tod!

Wieder zogen in endloser Reihenfolge Gedanken durch seinen Kopf: wie das Leben an ihm vorbeischlich, und daß es eigentlich gar kein hervorragendes Leben geben kann. Jedes Dasein, auch das der Größten quillt von Langeweile über, hat seine trübseligen Perioden, in denen es strichweis vorbereitet wird, in denen es zu freudlosem Ende kommt. Er erinnerte sich, wie er gewartet hatte, daß sich endlich etwas Neues, Umwälzendes ereignen würde und wie er alles, was er im Augenblick trieb, nur als interimistisch ansah, während sich dieses Vorübergehen in Wirklichkeit gleich einer Raupe auswuchs, neue und immer neue Ringe ansetzte. Nunmehr ließ sich deutlich erkennen, daß ihr grauer Schwanz dereinst im Alter und Tod verschwinden wird.

– – – Heldentaten! Alles Heldentaten! – – – Jurii preßte todestraurig die Hände zusammen. – Besser schon gleich zu enden und zu verschwinden, ohne Furcht und Qual! Nur darin kann noch ein Wert des Lebens liegen!

Tausende heroische Taten, eine grandioser als die andere, standen vor ihm auf; doch aus jeder starrte ihm ein Totenkopf entgegen.

Jurii schloß die Augen und sah ganz deutlich den kläglichen Petersburger Tagesanbruch, nasse Ziegelmauern, einen Galgen, der als farblose Silhouette am bläßlichen Himmel klebte ...

Oder ein bestialisches Gesicht, ein Revolverlauf an der Schläfe, Entsetzen, das gar nicht auszudenken sein scheint und das doch gedacht werden muß, der Knall des Schusses gerade ins Gesicht ...

Oder die Nagaiken schlagen über Kopf und Rücken ... über den entblößten Körper – – Auch damit würde ich rechnen müssen! – Oder würde es mir gleichgültig sein? – – –

Jurii ließ traurig die Hände fallen.

Die Heldentaten verblaßten, versanken und zerrannen im Nebel; an ihrer Stelle lugte die spöttische Fratze eigener Ohnmacht hervor und des klaren Bewußtseins, daß alle diese großartigen Träume nichts als Spielereien seines Hirns sind.

– – – Aus welchen Gründen soll ich meine Person in Schändung und Tod führen, nur damit die Arbeiter des zweiunddreißigsten Jahrhunderts keinen Mangel an Nahrung und Geschlechtsgenüssen leiden! Der Teufel möge sie doch holen, alle Arbeiter und Nichtarbeiter der ganzen Welt! ...

Und wieder fühlte Jurii die Aufwallung seiner lächerlichen, völlig gegenstandslosen Empörung. Der verzehrende Wunsch, etwas von sich abzuwälzen, abzuschütteln, peitschte ihn auf. Aber unsichtbare Krallen hielten ihn fest, und der kriechende Druck endgültiger Erschlaffung schlich immer näher an Hirn und Herz heran und hüllte den lebendigen Körper mit toter Gleichgültigkeit ein.

– – – Wenn mich nur irgend jemand niederschlagen wollte ... dachte Jurii schlaff, – unerwartet, von hinten, damit ich meinen Tod nicht bemerke. Pfui Teufel, was für Dummheiten mir in den Kopf kommen! Aber weshalb denn ein Fremder und ich nicht selbst? Bin ich denn wirklich ein solches Nichts, daß ich keine Kraft mehr finde, mir selbst das Leben zu nehmen, wenn ich das klare Bewußtsein habe, daß Leben nur Qual bringt? Früher oder später muß man sterben, ob man will oder nicht! Was ist das für eine Art ... wie mit Pfennigen daran herumzurechnen.

Aber jetzt drückte sich Jurii in Gedanken bis zur Erde nieder und sah sich selbst von oben herab mit verächtlichen Mienen und schmerzhaftem Spott an:

– – – Nein, warte nur, Bruder, das bringst du nicht fertig! Aufs Grübeln verstehst du dich gut; sobald es aber zur Tat kommt ... Nein, – brauchst dir nicht erst Mühe zu geben!

Eine leichte Kühle, neugierig und feige, drängte sich an Juriis Herz.

– – – Vielleicht doch noch einmal probieren, wie? Nicht im Ernst – so, zum Scherz! Nicht, um gleich ... sondern einfach so ... es wäre doch immerhin interessant! Er sagte es sich, gleichsam, als müßte er sich vor jemandem entschuldigen.

Im Augenblick, als er den Revolver aus dem Schubfach des Tisches nahm, überkam ihn unsinnige Scham; der Gedanke, daß Dubowa, Schawrow, Ssanin und an allererster Stelle Karssawina erfahren oder erraten könnten, was für kindische Experimente er mit sich anstellt, erschreckte ihn.

Verstohlen wie ein Dieb steckte er die Waffe in die Tasche und ging auf die Garten-Terrasse hinaus. Auf ihren Stufen lagen dürre, leichengelbe Blätter. Jurii berührte sie mit den Stiefelspitzen, lauschte dem schwachen Knistern und summte eine langgedehnte traurige Weise vor sich hin.

Ljalja, die mit Buch und Schirm vom Garten ins Haus ging, hörte ihn.

»Was für eine Melodie,« fragte sie ihn. Sie war glücklich; sie war unten am Fluß mit Rjäsanzew zusammengetroffen und kehrte frisch und bewegt von seinen Küssen zurück. Niemand hinderte die beiden, sich, wo sie wollten, zu sehen, aber im Geheimen, in der Leere und dem Schweigen des alten Gartens lag das Eindringliche, wovon die Küsse krampfhafter wurden und in Ljalja neue Wünsche erweckten.

»Als wenn du deine Jugend zu Grabe trägst!« fügte sie im Vorbeigehen hinzu.

»Dummheiten!« erwiderte Jurii böse; von diesem Augenblick an fühlte er das Nahen eines Schicksals, das stärker war als er selbst ...

Wie ein Tier in Todesnot begann Jurii vorwärts zu laufen und einen Flecken für sich zu suchen. Im Hofe fand er ihn nicht; er mußte zum Fluß hinunter gehen, wo gelbe Blätter mit glänzenden Sommerfäden schwammen. Er warf einen dürren Zweig ins Wasser und schaute lange hin, wie über die Oberfläche rasch schwache Kreise liefen und die schwimmenden Blätter erzitterten. Dann schritt er wieder ins Haus, wo sich die letzten roten Blumen einsam und schwermütig wie roter Trauerschmuck von den zertretenen, vergilbten Beeten abhoben. Jurii stand hier eine Weile und schlenderte dann wieder ohne Grund in die Mitte des Gartens.

Auch dort war alles im Verfall; die Zweige traten wie schwarze Samtarabesken im goldenen Spitzennetz der Blätter hervor. Nur ein Baum war noch grün – die Eiche, die majestätisch ihre schönen Blätter trug. Auf einer Bank hinter der Eiche saß der mächtige Kater mit rotem Fell und wärmte sich an der Sonne.

Jurii streichelte traurig und zart den molligen Rücken und fühlte, daß ihm Tränen in die Kehle stiegen.

– – Das ganze Leben verloren, das ganze Leben verloren ... wiederholte er mechanisch Worte, die er selber sinnlos fand und die ihm dennoch mit seiner Schneide tief ins Herz hineindrangen.

– – – Aber das ist ja alles Unsinn! Ich habe noch mein ganzes Leben vor mir ... Ich bin doch erst sechsundzwanzig Jahre alt! rief er in Gedanken. Für eine Sekunde hatte er sich plötzlich von dem Nebel, wie eine Fliege aus dem Spinnennetz, freigemacht.

– – – Ach, es kommt ja gar nicht darauf an, ob ich sechsundzwanzig bin, nicht darauf, ob das ganze Leben vor mir liegt ... Aber was ist eigentlich der Kernpunkt. – – –

Plötzlich tauchte der Gedanke an Karssawina auf. Nach der widerwärtigen Szene von gestern konnten sie unmöglich noch zusammentreffen, doch ebenso undenkbar schien es ihm, sie nicht mehr zu sehen. Das war unmöglich. Er stellte sich ihre erste Begegnung vor, Selbstverachtung stieg betäubend in Kopf und Herz; von neuem schob sich der Gedanke, daß da der Tod das Beste sei, automatisch vor.

Der Kater bog den Rücken und knurrte rührend, so wie wenn der Samowar sein Lied zu summen beginnt. Jurii betrachtete ihn aufmerksam. Dann fing er an, vor ihm auf- und abzugehen.

– – – Vom Leben aufgefressen ... Langweilig, Elend – – Uebrigens, ich weiß nicht mehr, was ... Aber lieber der Tod, als sie nochmals zu sehen!

Nun schien sie für immer aus seinem Leben geschieden zu sein. Es war einmal ein Augenblick ergreifender, wilder Bewegung gewesen, weiblicher Nähe – – – Jetzt ist sie fort und kommt nicht mehr zurück.

Vor Jurii stand plötzlich der blasse kalte Tag seines zukünftigen Lebens; weder Licht noch Finsternis: leer, grau und schleichend, schleichend! ...

– – – Lieber Tod!

Mit schweren Schritten ging der Kutscher einen Eimer voll Wasser in der Hand, an ihm vorbei. Auch im Eimer schwammen die toten gelben Blätter.

Das Hausmädchen trat auf die Steinstufen der Terrasse, die durch die Zweige schimmerte, winkte Jurii und rief ihm etwas zu. Lange konnte er nicht verstehen, um was es sich handelte. Die Verbindung zwischen ihm und allem, was ihn umgab, begann zu reißen, sich aufzulösen. Mit jedem Augenblick wurde er, von außen nicht merklich, allem ferner und ferner, weil er sich von der ganzen Welt in die dunkle Tiefe seines einsamen Wesens zurückzog.

»Ach so, gut ...« sagte er, als er endlich verstanden hatte, daß ihn das Hausmädchen zu Tisch rufen soll.

– – – Mittag essen? fragte er sich erschrocken. Mittag essen gehen! Also, alles wird beim alten bleiben ... Wieder leben, wieder jammern, wieder suchen, wie man die Geschichte mit Karssawina einrenken kann, einsam sein, mit meinen Gedanken, mit allem? ... Es muß bald geschehen, sonst ... zu Mittag essen gehen – – nachher habe ich keine Zeit mehr!

Eine eigentümliche Hast bemächtigte sich seiner, ein Zittern schüttelte seinen ganzen Körper, drang fein durch alle Gelenke hindurch, in die Brust, in die Arme, bis hinunter in die Füße. Dabei hatte er die Ueberzeugung, daß es doch zu nichts kommen würde, daß eben alles nur so. – – – Gleichzeitig damit aber prägte sich die Enge des Alltags noch schärfer aus und Töne des Entsetzens gellten in seinen Ohren. Das Hausmädchen stand, die Hände unter der weißen Schürze, auf der Terrasse, und ging nicht fort, sie wollte augenscheinlich noch ein paar Züge der herbstlichen Gartenluft mit hineinnehmen.

Jurii trat verstohlen unter die Eichen, damit er nicht von der Terrasse aus gesehen würde, und während er gleichzeitig auf das Stubenmädchen sah, ob sie nichts bemerke, drückte er den Revolver sehr rasch und unerwartet gegen die Brust ab. Versagt, – – – schwirrte es im selben Moment freudig durch seinen Kopf zusammen mit dem drängenden Verlangen, zu leben und der Furcht vor dem Tode. Jetzt sah er aber gerade über seinen Augen den Wipfel der Eiche, – den blauen Himmel und den rötlichen Kater, der mit ein paar Sätzen fortsprang.

Das Hausmädchen stürzte mit einem Schrei ins Haus und wie es Jurii vorkam, befanden sich auch sofort eine Menge von Menschen neben ihm. Jemand goß ihm kaltes Wasser auf den Kopf; auf seiner Stirn klebte ein gelbes Blatt, das ihn furchtbar störte. Aufgeregte Stimmen ertönten um ihn herum, jemand weinte und schrie:

»Jura, Jura, wozu ... wozu?« – – –

– – – Da weint Ljalja, dachte er.

Im selben Augenblick öffnete er die Augen und begann in wilder tierischer Verzweiflung um sich zu schlagen und zu schreien: »Einen Arzt, ruft einen Arzt ... Schneller!«

Doch mit unglaublichem Entsetzen verstand er, daß alles zu Ende sei, und nichts mehr helfen kann. Die Blätter, die auf seiner Stirn lagen, wurden rasch schwer und drückten den Kopf zusammen. Jurii reckte den Hals, um noch etwas hindurchsehen zu können, aber die Blätter wuchsen immer schneller nach allen Richtungen und verdeckten alles.

Weiter verstand Jurii nichts mehr von dem, was in ihm vorging.


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