M. Artzibaschew
Ssanin
M. Artzibaschew

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IV

In das Haus des Obersten Nikolai Jegorowitsch Swaroschitsch, das nicht weit von dem der Ssanins lag, war der Sohn zurückgekehrt, ein Student der technischen Hochschule. Die Behörde hatte ihn aus Moskau ausgewiesen und unter Aufsicht der Heimatspolizei gestellt, weil er verdächtig war, an einer revolutionären Verbindung teilgenommen zu haben. Jurii Swaroschitsch hatte seine Familie schon früher davon benachrichtigt, daß er verhaftet worden sei und ein halbes Jahr lang im Gefängnis sitzen mußte; auch von seiner Ausweisung schrieb er ihnen, sodaß seine Ankunft niemanden überraschte. Gewiß war Nikolai Jegorowitsch anderer Ansicht wie sein Sohn und die ganze Geschichte hatte ihn aufs äußerste betrübt, aber doch sah er in dessen Handlungsweise nur jugendliche Torheit, und empfing ihn voll zärtlicher Liebe. Absichtlich vermied er es, die Unterhaltung auf dieses Thema zu bringen.

Jurii war drei Tage lang ununterbrochen in der dritten Klasse gefahren, wo man vor dem Gebrüll kleiner Kinder und den schwülen, muffigen Ausdünstungen nicht schlafen konnte. Er kam furchtbar müde und abgespannt nach Hause. Kaum hatte er den Vater und seine Schwester Ludmilla, die in der ganzen Stadt nur mit ihrem Kindernamen Ljalja gerufen wurde, begrüßt, so legte er sich schon in ihrem Zimmer schlafen.

Er erwachte erst gegen Abend, als die Sonne im Untergehen war, und ihre rötlichen Strahlen die Umrisse des Fensters an der Wand mit bunten Farben umzogen.

Aus dem Nebenzimmer hörte man das Geklirr von Gläsern und Löffeln, das Rücken von Stühlen; dazwischen das lustige Lachen Ljaljas und eine aristokratische Herrenstimme, die Jurii völlig unbekannt war.

Zuerst kam es ihm vor, als ob er noch immer im Eisenbahnwagen dahinführe, dessen Fensterscheiben und Puffer klapperten und krachten und wo vom Nachbarabteil her Stimmen unbekannter Leute zu ihm drangen. Doch sofort besann er sich wieder auf seine Umgebung; er erhob sich rasch und setzte sich im Bette aufrecht hin.

»Ach ja,« er dehnte das Wort lang durch die Lippen und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das dichte und widerspenstige, schwarze Haar. Nun bin ich also wirklich hier gelandet... Seine Gedanken sammelten sich und mit einem Mal kam er ganz erstaunt zu dem Schlusse, daß er eigentlich garnicht nach Hause hätte zurückkehren sollen. Die Wahl des Aufenthaltsortes war ihm freigestellt worden; wie er glaubte, folgte er nur einem plötzlichen Einfall, als er, ohne sich lange zu besinnen, nach Hause fuhr. Doch in Wirklichkeit war dem nicht so: In seinem ganzen Leben hatte er niemals versucht, sich durch eigene Arbeit zu erhalten. Stets war er auf die Unterstützung des Vaters angewiesen gewesen und daher scheute er sich jetzt davor, ohne Hilfe an einen fremden Ort zu gehen. Innerlich schämte er sich dieses Gefühls, gestand es sich aber selbst nicht ein. Plötzlich kam es ihm vor, als ob er grundfalsch gehandelt hätte. Seine Verwandten konnten seine Situation nicht begreifen und billigen; das war klar. Dazu kamen auch hier materielle Fragen; denn es schien ihm wenig angenehm, dem Vater noch einige Jahre hindurch auf der Tasche zu liegen. All das mußte von Anfang an bewirken, daß zwischen ihnen keine harmonischen Beziehungen aufkommen konnten. Schließlich würde auch das Leben in dieser kleinen Landstadt, in der er seit zwei Jahren nicht gewesen war, sehr langweilig sein. Alle Einwohner kleiner Landstädte hielt Jurii von vornherein für Spießbürger, vollkommen unfähig, Fragen der Philosophie und Politik, in denen er den einzigen Sinn und Wert des Lebens sah, zu begreifen oder sich auch nur für sie zu interessieren.

Langsam stand er endlich, noch bedrückt von all diesen Gedanken, auf, ging auf das Fenster zu, öffnete es und lehnte sich in das Vorgärtchen hinaus, welches an diese Seite des Hauses stieß. Eigentümlich sahen von oben die auffallend bunten Flecken der vielfarbigen Blumenköpfe aus, die über das ganze Stückchen Erde verstreut, wie in einem Kaleidoskop, durcheinandergeworfen waren. Diesem Vorgärtchen gegenüber lag dunkel ein dichter Garten, der wie alle in diesem kleinen Städtchen zum Flusse hinunterlief. Ganz von weitem sah man den blassen Glanz dieses Flusses durch die Bäume schimmern; zart und fein stiegen Nebelschleier aus ihm empor. Der Abend war still und lag schwer und trächtig in der Luft.

Jurii wurde es traurig zumute. Zulange hatte er in der großen, steinernen Stadt gelebt, sodaß die Natur für ihn, trotzdem er sie zu lieben glaubte, leer und öde blieb. Sie beruhigte und erfreute ihn nicht, sondern erregte in ihm einen unbegreiflichen Gram und krankhafte Träumereien.

»Aha, Lieber, du bist ja schon aus den Federn gekrochen! Nun gut, es ist auch Zeit,« rief Ljalja, die mit einem Schwung ins Zimmer kam.

Jurii trat melancholisch vom Fenster zurück. Das schwere Bewußtsein seiner einsamen, abgesonderten Lage und eine stille unbestimmbare Sehnsucht, von dem versterbenden Tag genährt, bewirkten es, daß er sich von der Heiterkeit seiner Schwester verletzt fühlte und es unangenehm fand, plötzlich ihre helle Stimme zu vernehmen.

»Bist du vergnügt?« Zu seinem eigenen Erstaunen richtete er plötzlich eine Frage an sie.

»Na, mit einem Mal aufgewacht!« Ljalja riß die Augen auf, lachte aber gleich noch lustiger weiter, als hätte sie die Frage des Bruders an etwas sehr Freudiges und Vergnügliches erinnert.

»Wie kam es dir nur in den Sinn, dich plötzlich nach meiner Stimmung zu erkundigen. Uebrigens ich langweile mich niemals. Hab keine Zeit dazu....« Und mit ernstem Gesicht, augenscheinlich stolz auf ihre Worte, fügte sie hinzu: »Es ist jetzt eine interessante Zeit; da wäre es Sünde und Schande, sich zu langweilen. Ich habe auch einige Arbeiterzirkel, mit denen ich mich beschäftige. Und dann nimmt unsre Bibliothek viel Zeit in Anspruch. Wir haben hier auch ohne dich eine Volksbibliothek gegründet; sehr gut geht sie.«

Zu anderer Zeit wäre all das für Jurii interessant gewesen und hätte sicher seine Aufmerksamkeit erregt. Jetzt aber störte ihn irgend etwas. Doch da er sah, daß Ljalja zwar ihrem Gesicht einen über alles erhabenen Ausdruck zu geben versuchte, aber dabei komisch wie ein kleines Kind auf Anerkennung wartete, überwand er sich mit vieler Mühe und sagte:

»So? ... Nun gut!«

»Wie sollte ich mich da also langweilen?..«

»Na, und ich komme vor Langweile um,« gab Jurii ohne Ueberlegung zur Antwort.

»Wie liebenswürdig du bist! ... Garnicht zu sagen! ... Bist gerad erst ein paar Stunden zu Hause, hast die auch verschlafen und dann langweilst du dich schon.«

»Dagegen ist nichts zu tun. Das kommt von Gott,« erwiderte Jurii mit einem Anstrich von Selbstgefälligkeit. Sich zu langweilen, schien ihm viel eindrucksvoller und ernster, als vergnügt zu sein. – – – – Das kann jeder, dachte er.

»Von Gott, von Gott,« schmollte Ljalja scherzhaft und drohte ihm mit der Hand: »Uuuuuu!«

Jurii fiel es garnicht auf, daß sich seine Stimmung inzwischen bedeutend gebessert hatte. Die helle Stimme und die Lebensfreudigkeit Ljaljas zerstreute rasch die schalen Empfindungen, die er für tief und wichtig hielt. Auch Ljalja glaubte nicht, doch ohne sich darüber klar zu sein, an seine Trübsal und wurde deshalb nicht im geringsten durch sein Gerede verletzt.

Ganz vergnügt sah ihr Jurii jetzt ins Gesicht und sagte: »Ich fühle mich niemals froh.«

Ljalja lächelte sehr interessiert und meinte in diesem Augenblick wirklich, daß er ihr etwas sehr Witziges erzählt hätte.

»Nun gut, mein Ritter von der traurigen Gestalt, ... niemals ist niemals! Aber wir wollen gehen! Paß auf, gleich werde ich dir einen netten, jungen Mann vorstellen. Gehen wir!« Ljalja zog den Bruder lachend an der Hand hinter sich her.

»So warte doch. Was für ein junger Mann ist denn das!«

»Mein Bräutigam!« rief ihm Ljalja glücklich und jubelnd grade ins Gesicht und drehte sich voll Freude und Entzücken im Zimmer herum, so daß sich ihr Kleid von allen Seiten aufblähte.

Jurii wußte schon aus früheren Briefen des Vaters und Ljaljas selbst, daß ein junger Arzt, der sich vor kurzem in der Stadt niedergelassen hatte, ihr eifrig den Hof machte; – – er wußte jedoch noch nicht, daß sie mit ihm schon verlobt war.

»So? ...« meinte er unwillkürlich gedehnt und mit tiefer Verwunderung. Es erschien ihm ganz sonderbar, daß diese reine und frische Ljalja, die er immer noch für einen Backfisch hielt, bereits einen Bräutigam haben sollte und bald Frau und Gattin sein würde. In ihm stieg ein zärtliches Empfinden für die Schwester auf, das sich aber fast gleichzeitig in stilles Mitleid verwandelte.

Jurii legte ihr den Arm um die Taille und sie schritten zusammen in das Eßzimmer, in dem bereits die Lampe brannte, und ein großer, sehr blankgeputzter Samowar an der Schmalseite des breiten Tisches stand. Am Tische saß auch Nikolai Jegorowitsch und unterhielt sich mit einem starkgebauten, doch noch jungen Menschen, an dem Jurii sofort auffiel, daß er nicht den großrussischen Typus zeigte.

Unbefangen, mit ruhiger Liebenswürdigkeit erhob sich dieser und trat Jurii entgegen.

»Nun, machen wir Bekanntschaft miteinander! – – Anatol Pawlowitsch Rjäsanzew.«

»Von einer komischen Feierlichkeit seid ihr,« rief Ljalja und machte gleichzeitig mit der offenen Handfläche eine erhabene Bewegung, als wollte sie die Vorstellung unterstützen.

»Ich bitte Sie, mich zu lieben und zu achten,« fügte Rjäsanzew ebenso scherzhaft hinzu.

Mit dem Wunsche aufrichtiger Zuneigung drückten sich beide die Hände und dachten auch einen Augenblick daran, sich, wie üblich, zu küssen; sie taten es jedoch nicht, sondern sahen sich nur freundschaftlich und aufmunternd in die Augen.

– – – So also sieht der Bruder aus, dachte verwundert Rjäsanzew, der aus irgendeinem Grunde erwartet hatte, daß die flinke, kleine Ljalja in ihrer blühenden Blondheit durchaus einen ebensolchen Bruder haben müsse. Jurii aber war hochgewachsen, hager, hatte dunkles Haar, wenn es auch in seiner Art ebenso hübsch war, wie das Ljaljas; doch er hatte dieselben feinen, regelmäßigen Gesichtszüge, wodurch er ihr ähnlich wurde.

Jurii, der seinerseits interessiert auf Rjäsanzew blickte, kam in diesem Augenblick nur der eine Gedanke, daß vor ihm der Mann stände, der in diesem kleinen Mädchen, seiner Schwester, das Weib gefunden und liebgewonnen hatte, in diesem zarten, kleinen Mädchen, das so klar und frisch wie ein Frühlingsmorgen war. Natürlich so liebgewonnen, wie auch Jurii Frauen gegenüber empfand; ... dieser Gedanke wurde ihm plötzlich unangenehm. Es war ihm peinlich, beide zu betrachten, als müßten sie sofort seine geheime Ueberlegung erraten.

Jurii wie auch Rjäsanzew fühlten, daß sie viele Fragen aneinander zu richten hätten. Jenen drängte es, sich zu erkundigen: Lieben Sie Ljalja? ... Lieben Sie sie rein, ... ernst? ... Das wäre doch schade, nein, widerwärtig, wenn Sie sie täuschen wollten. Sehen Sie nur, wie rein und unschuldig sie ist.

Und Rjäsanzew hätte ihm geantwortet: Aber ich liebe doch ihre Schwester. Ja, wirklich, ich liebe sie sehr. Und man kann garnicht anders, als sie zu lieben. Sehen Sie, wie keck und frisch und lieb sie ist. Wie entzückend sie sich selbst in ihrer Liebe benimmt. Und wie reizend sich der Ausschnitt am Halse macht.

Doch statt all dieser Gedanken sprach Jurii überhaupt nicht und Rjäsanzew fragte nur höflich:

»Sind Sie für längere Zeit ausgewiesen worden?«

Nikolai Jegorowitsch, der im Zimmer auf und ab ging, hielt bei Rjäsanzews Frage einen Augenblick inne; fuhr aber gleich wieder fort, mit den übertrieben regelmäßigen, abgemessenen Schritten eines alten Soldaten hin und her zu wandern. Er kannte die Einzelheiten der Ausweisung noch nicht und die unerwartete Erinnerung an sie stieg ihm zu Kopf. Weiß es der Teufel, murmelte er vor sich hin, um seiner Empörung einen Ausdruck zu geben.

Ljalja hatte die Bewegung des Vaters sofort verstanden und erschrak; sie fürchtete schon im Voraus allerlei Zank, Streitigkeiten und unangenehme Erörterungen und bemühte sich, das Gespräch abzubrechen. Innerlich machte sie sich Vorwürfe: Wie dumm bin ich doch. Natürlich hätte ich daran denken und Tolja vorher warnen sollen.

Aber da Rjäsanzew garnicht wußte, worum es sich handele, erkundigte er sich, nachdem er Ljaljas Frage, ob er Tee wünsche, bejaht hatte, von neuem:

»Und was beabsichtigen Sie, zunächst hier zu tun?«

Nikolai Jegorowitschs Mienen verdüsterten sich zusehends; sein dumpfes Schweigen kam Jurii mit einem Mal zum Bewußtsein. Ohne einer Ueberlegung Raum zu lassen, kochte in ihm die Erregung und der Trotz auf; absichtlich antwortete er mit dem lässigsten Tone, der ihm möglich war:

»Vorläufig garnichts!«

»Was soll das bedeuten – – garnichts?..« fragte stehenbleibend Nikolai Jegorowitsch. Seine Stimme hatte sich nicht verändert, und doch klang aus ihr deutlich der Vorwurf heraus:

– – – »Wie kannst du eine solche Antwort geben?.. Garnichts! Erlaubt dir denn dein Gewissen diese Antwort? ... Habe ich denn die Verpflichtung, dich mein ganzes Leben lang auf meinen Schultern zu tragen? ... Wie kannst du es vergessen, daß dein Vater schon alt ist; es ist längst an der Zeit, daß du selbst für dein Brot sorgen mußt. Ich mache dir ja gar keine Vorschriften ... Gut, lebe! Aber begreifst du denn selbst nicht, wie du zu leben hast?...« Alle diese vorwurfsvollen Fragen klangen aus seiner Stimme und trotzdem der Eindruck auf Jurii um so stärker war, als er seinem Vater innerlich vollkommen recht geben mußte, fühlte er sich doch bis in die Tiefen seines Wesens verletzt.

»Gewiß nichts? ... Was soll ich denn tun? ...« fragte er herausfordernd zurück.

Nikolai Jegorowitsch wollte ihm eine scharfe Antwort geben, schwieg aber und zuckte nur die Achseln. Dann begann er wieder aus einer Ecke in die andere zu gehen, mit schwerfälligen in drei Tempi zerfallenden Schritten. Seine korrekte Erziehung gestattete ihm nicht, die Erregung schon am ersten Tage, an dem sein Sohn wieder ins Haus gekommen war, zu äußern.

Jurii verfolgte ihn mit glänzenden Augen; er konnte sich noch immer nicht mehr zurückhalten, gespitzt und wachsam auf den geringsten Anlaß zum Widerspruch zu lauern. Er war sich durchaus klar, daß er den Streit hervorrufen würde, aber es war ihm doch unmöglich, sein Auflehnungsbedürfnis zu bewältigen. Am unglücklichsten fühlte sich Ljalja, die dem Weinen nahe, bald den Vater, bald wieder den Bruder hülflos ansah; sie wagte kein Wort zu sprechen, aus Furcht, dadurch irgendwie den Ausbruch des Sturmes zu beschleunigen. – – – Auch Rjäsanzew, der endlich begriffen hatte, was vorging, suchte ihr zu Hilfe zu kommen; doch die Art und Weise, wie er mühsam das Gespräch in andere Bahnen lenkte und mit aller Gewalt immer neue und allen uninteressante Themen herbeizog, war nicht besonders geschickt und verstärkte nur die gegenseitige Gereiztheit. So ging der Abend langweilig und gleichzeitig gespannt vorüber. Jurii wollte sich nicht als schuldig betrachten, denn Nikolai Jegorowitsch verlangte im Grunde, daß er mit dem politischen Kampf nichts zu tun haben dürfe, und das mochte er unter keiner Bedingung zugestehen. Ihm schien es, daß der Vater nicht fähig sein konnte, die einfachsten Dinge zu begreifen, weil er alt und unintelligent war, und daß er nun ganz unbewußt einen Groll auf ihn als den nächsten Zeugen seines Alters und seiner Unintelligenz habe.

Zum Abendessen kamen Nowikow, Iwanow und Semionow. Letzterer studierte an der Universität und war im höchsten Grade schwindsüchtig; seit einigen Monaten lebte er in der Stadt als Privatlehrer eines Knaben. An ihm fiel jedem sofort seine eckige Häßlichkeit und Schwäche auf; sein vorzeitig gealtertes Gesicht trug den schaudererregenden und doch so unfaßbar zarten Schatten des nahen Todes.

Sein Begleiter Iwanow war ein langhaariger und breitschultriger Volksschullehrer von ungeschliffenem Benehmen. Sie waren beide auf dem Boulevard spazieren gegangen; sobald sie jedoch von Juriis Ankunft hörten, kamen sie, um ihn zu begrüßen. Ihr Erscheinen belebte alles. Witze, Scherze, Lachen erscholl. Beim Abendbrot wurde von allen viel getrunken, doch von Iwanow am meisten. Auch Nowikow war schließlich von der allgemeinen Heiterkeit fortgerissen worden und lachte kräftig mit den andern. Im Laufe der wenigen Tage, die seit seiner Erklärung an Lyda verflossen waren, hatte er sich wieder ein wenig beruhigt. Trotzdem war es ihm beschämend und peinlich, zu Ssanins zu gehen; um Lyda zu sehen, lief er zu gemeinsamen Bekannten oder nur die Straßen entlang, die sie hinunterzukommen pflegte. Trafen sie sich, dann war Lyda zu ihm übertrieben aufmerksam mit einem Anflug von verschämter Zärtlichkeit. Und schon begannen sich in Nowikow neue Hoffnungen zu regen.

»Was meint ihr, Herrschaften,« sagte er, als sie schon beim Verabschieden waren, »wollen wir nicht einmal ein Piknik am Kloster veranstalten.«

Das Kloster war ein beliebter Ausflugsort, da es nicht zu weit entfernt von der Stadt auf einer Anhöhe lag, in einer freien, stromumflossenen Ebene; der Weg zu ihm war sehr bequem.

Ljalja konnte in der ganzen Welt nichts mehr begeistern, als allerlei Lärm, Spaziergänge, Baden, Rudern und durch den Wald laufen. Daher griff sie Nowikows Idee mit überquellendem Enthusiasmus auf. »Unbedingt, das machen wir! Unbedingt! Aber wann? ...«

»Wann wir wollen. Schon morgen meinetwegen.«

»Und wen werden wir noch auffordern,« fragte Rjäsanzew, dem der Gedanke des Ausflugs ebenso gefiel. Im Walde war Ljaljas Körper, dessen Frische ihn mit seinen ganzen Sinnen anzog, sicher zwanglos in seiner Nähe; er konnte sie liebkosen und ungehindert küssen.

»Ja, wen denn noch? ...«

»Wir sechs hier, und dann Schaffrow.«

»Wer ist das,« fragte Jurii.

»Ach, hier läuft so ein junger Studiosus herum.«

»Und Ludmilla Nikolajewna wird Karssawina und Olga Iwanowna auffordern.«

»Wen?« erkundigte sich Jurii wieder.

Ljalja lächelte: »Das wirst du schon sehen!« und sie küßte geheimnisvoll vielsagend ihre Fingerspitzen.

»So? ... Nun, wollen wir sehen.«

Nowikow setzte eine zurechtgestutzte Miene auf und fügte mit unnatürlicher Gleichgültigkeit hinzu: »Die Ssanins könnte man auch mitnehmen.«

»Lyda vor allen Dingen,« rief Ljalja, nicht, weil sie ihr gefiel, sondern weil sie von Nowikows Liebe wußte und ihm eine Freude bereiten wollte. Von ihrer eigenen Liebe war sie so entzückt, daß sie wünschte, alle Menschen um sie wären von demselben zufriedenen Glück erfüllt.

Bissig fiel Iwanow gleich nach ihr ein: »Dann wollen wir aber auch ja nicht vergessen, die Offiziere einzuladen.«

»Ganz gewiß, sie ebenfalls! Je mehr Volk, um so besser.«

Die jungen Leute traten auf die Terrasse hinaus; der Mond verbreitete eine gleichmäßige Helle und alles war in warme Stille eingehüllt.

»Oh, welche Nacht,« sagte Ljalja, sich unmerklich an Rjäsanzew schmiegend. Er drückte ihren runden, warmen Arm mit seinem Ellenbogen fest an sich; er fühlte, wie sie wünschte, daß er noch bei ihr bleiben möge.

»Ja, die Nacht ist wunderschön,« wiederholte er, diesen einfachen Worten einen tiefen, nur ihnen verständlichen Sinn gebend.

»Mag ihr wohl sein,« rief Iwanow im Baß. »Meinen Segen, aber ich möchte schlafen. Gute Nacht, Signori!« Er schritt gleichmäßig die Straße hinab, mit den Armen um sich fuchtelnd, wie eine Mühle mit ihren Flügeln. Nowikow und Semionow gingen zusammen fort. Rjäsanzew brauchte unter dem Vorwand, noch das Piknik mit Ljalja zu besprechen, sehr viel Zeit zu seinem Abschied.

»Nun, baba, baba,« sagte Ljalja endlich scherzhaft und schob ihn von sich. Als er ging, reckte sie sich und seufzte auf; es wurde ihr schwer, das Mondlicht, die warme Nachtluft zu verlassen und alles das, wozu sie ihr kräftiger, junger Körper lockte.

Jurii überlegte, daß sich der Vater wahrscheinlich noch nicht niedergelegt hätte und daß es nun unvermeidlich zu dieser unerquicklichen und zwecklosen Auseinandersetzung kommen müsse, wenn sie beide aufblieben.

»Nein,« sagte er zögernd zu Ljalja, die wartend auf der Treppe stand, »ich laufe noch ein wenig spazieren.« Er blickte gradeaus auf die bläulichen Wogen des Nebels, die wie ein Vorhang über dem Flusse hin und her schwankten und die ganze Luft in zitternde Bewegung brachten.

»Wie du willst. Gute Nacht!« Ljalja sprach mit einer eigentümlich zärtlichen Stimme. Dann reckte sie sich noch einmal in die Höhe, kniff die Augen wie ein Kätzchen zusammen, lächelte irgendwohin dem Mondschein nach und schritt schleppend ins Haus.

Jurii blieb allein. Eine Minute lang stand er unbeweglich und starrte auf die schwarzen Schatten der Häuser, die tief und kalt dalagen, schreckte plötzlich zusammen und schritt ebenfalls in der Richtung aus, in der er den kranken Semionow dahinschleichen sah.

Der Kranke war noch nicht weit gekommen. Er ging eigentümlich langsam, Schritt für Schritt, mit einer besonderen Betonung; er schleifte die Füße herum, während sein Oberkörper gebückt und nach vorn hing und nur von Zeit zu Zeit in einem dumpfen Husten zusammenfuhr. Auf der hellen Erde lief sein kalter, schwarzer Schatten aufmerksam hinter ihm her.

Sowie Jurii ihn eingeholt hatte, fiel es ihm auf, daß er sich völlig verändert hatte. Während des ganzen Abendessens hatte Semionow mehr gescherzt und gelacht als all die andern; jetzt aber lief er traurig und zerbrochen hin und aus seinem harten Husten klangen leidvolle, hoffnungslose Töne heraus; gleichzeitig drohend und grausam, wie die Krankheit selbst, an der er litt.

»Ach, Sie sind es,« meinte er zerstreut, als er Jurii bemerkte, – wie es diesem vorkam, unfreundlich.

»Ich habe gar keine Lust, zu schlafen. Ich möchte Sie ein Stückchen begleiten.«

»So begleiten Sie mich,« willigte Semionow mit deutlicher Gleichgültigkeit ein.

Sie gingen langsam, schweigend weiter; Semionow hustete noch immer und beugte sich jedesmal nach vornüber.

»Ist es Ihnen denn nicht zu kühl,« fragte Jurii oberflächlich, weil ihn dieser traurige Husten zu belästigen anfing.

»Ich friere immer,« erwiderte Semionow verdrießlich. Jurii wurde es peinlich zumut, als hätte er versehentlich eine kranke Stelle berührt. Wie, um diese Empfindung zu überwinden, erkundigte er sich wieder teilnahmsvoll: »Sind Sie schon lange von der Universität herunter? ...«

Semionow gab nicht sogleich eine Antwort. »Lange,« sagte er endlich.

Jurii begann, ihm von den Stimmungen in der Studentenschaft zu erzählen, von alledem, was er für das Wichtigste und Aktuellste hielt. Zuerst sprach er ziemlich gleichmütig, dann aber ereiferte er sich, erzählte lebhaft und voll Feuer.

Semionow hörte zu und schwieg. Allmählich kam Jurii dann auf die Gründe zu sprechen, welche zur Abschwächung der revolutionären Propaganda in den Massen führten, und man konnte merken, daß ihm jedes Wort, das er hierüber sagte, aufrichtig leid tat.

»Haben Sie die letzte Rede Bebels gelesen,« fragte er hitzig.

»Gelesen!«

»Nun, nett ist das? ... Was? ...«

Aber statt einer zusammenhängenden Antwort schwenkte Semionow plötzlich in großer Erregung seinen Stock mit der breiten Krücke. Sein Schatten bewegte neben ihm in gleicher Weise seinen langen, grauen Arm und Jurii mußte in diesem Augenblick an das unheilvolle Flügelschlagen irgend eines schwarzen Raubvogels denken.

Dann setzte Semionow eilig und zusammenhanglos zum Sprechen an, als dürfe er keine Zeit mehr verlieren und seine Worte stürzten sich wild auf Jurii:

»Was ich Ihnen sagen werde, ... ich werde Ihnen sagen, daß ich hier sterbe. Verstehen Sie, einfach sterbe.«

Und noch einmal schwang er den Stock und nochmals wiederholte der schwarze Schatten seine drohende Geste.

Diesmal hatte Semionow selbst sie bemerkt.

»Da,« sagte er bitter, »hinter meinem Rücken steht der Tod und lauert auf jede meiner Bewegungen. Ach, was ist mir Bebel! Ein Schwätzer schwatzt das, ein andrer etwas Anderes, ins volle Leben schwatzen sie hinein, und mir steht sowieso bevor, heute oder morgen abzufahren. Verstehen Sie, zum Teufel zu gehen.«

Jurii schwieg verlegen, ihn überkam eine schmerzliche Trauer; das, was er gehört hatte, verletzte ihn.

»Denken Sie vielleicht, daß mir das alles wichtig ist? ... Das, was in der Universität geschah oder was Bebel zu reden beliebte. Ich meine, wenn es einmal mit Ihnen so zum Sterben kommt, wie jetzt mit mir, verstehen Sie, es handelt sich hier darum, zuversichtlich zu wissen, daß man stirbt, dann, nun zum Teufel, Ihnen wird noch nicht einmal der Gedanke in den Kopf kommen, daß da Worte eines Bebels, Tolstois, Nietzsches oder von sonst irgend einem Trottel existieren und einen Sinn haben sollen.«

Semionow brach ab.

Der Mond leuchtete hell und gleichmäßig wie früher, und unablässig glitt der schwarze Schatten hinter ihnen her.

»Also, der Organismus zerfällt,« ließ er sich plötzlich wieder mit einer ganz schwachen, jämmerlichen Stimme vernehmen. »Wenn Sie wüßten, wie schwer es einem wird, so zu sterben. Besonders in einer solchen hellen, warmen Nacht.« Er wendete Jurii sein häßliches Gesicht aus Haut und Knochen und mit anormal glänzenden Augen zu, aus denen eine wimmernde Sehnsucht sprach. »Alles lebt und ich sterbe. Diese Phrase wird Ihnen selbstverständlich abgeleiert vorkommen, gewiß, sie muß Ihnen so vorkommen, aber ich ... ich sterbe. Nicht in einem Roman, nicht auf einem Fest mit künstlerischer Wahrheit niedergeschrieben, nein, einfach so, in Wirklichkeit sterbe ich. Und mir scheint das wahrhaftig nicht banal. Ihnen wird dabei auch einmal anders zu Mute sein. Ich sterbe, ... sterbe, ... und weiter nicht.«

Semionow geriet in anhaltenden Husten; es dauerte einige furchtbare Minuten, bis er ihn überwunden hatte.

»Manchmal fange ich an, darüber nachzudenken, daß ich bald in völliger Dunkelheit liegen werde. Verstehen Sie, in kalter Erde, mit eingefallener Nase und abgefaulten Gliedern. Und hier oben bei Ihnen auf der Erde wird alles weiter so seinen Gang gehen wie jetzt, wo ich noch lebend mit herumlaufe. Sie werden ja dann noch am Leben sein. Werden weiter herumlaufen, auf diesen Mond schauen, Sie werden atmen, an meinem Grabe vorübergehen; ... vielleicht werden Sie sich dort hinstellen und ein Bedürfnis erledigen. Und ich werde liegen und ekelhaft weiter faulen. He,« schrie Semionow plötzlich haßerfüllt auf, »was ist mir da Bebel und Millionen anderer fratzenschneidender Esel...«

Jurii konnte sich noch immer nicht diesen angstdurchbebten Reden gegenüber zurechtfinden und wurde nur verlegener.

»Nun leben Sie wohl,« sagte Semionow ganz leise und weich, »ich bin hier zu Hause.«

Jurii drückte ihm die Hand; er sah mit tiefem Mitgefühl auf seine eingedrückte Brust, die angezogenen Schultern und auf den Stock mit der dicken Krücke, den Semionow zwischen die Knopflöcher seines abgetragenen Studentenpaletots eingehängt hatte. Er wollte ein gutes Wort zu ihm sprechen, ihn irgendwie trösten, und ihm Hoffnung einflößen; er fühlte aber, daß er ihm damit doch keine Ruhe bringen könne. So seufzte er nur und sagte: »Auf Wiedersehen.«

Semionow faßte an die Mütze und öffnete die Pforte. Noch hinter dem Zaune her hörte man seine schlürfenden Schritte und das hohle Husten.

Dann wurde alles still. Jurii ging langsam zurück. Und alles, was ihm noch vor einer halben Stunde hell, leicht und ruhig erschienen war, ... der Mondenschein, der Sternenhimmel, die Pappelbäume vom Monde bestrahlt und ihre geheimnisvollen Schatten, das lag jetzt tot und grauenhaft vor ihm, wie die Kälte eines ungeheuren Weltengrabes.

Als er nach Hause kam, ging er leise in sein Zimmer, und während er das Fenster nach dem Garten öffnete, stieg ihm zum erstenmal der Gedanke auf, daß all die Ueberzeugungen, denen er sich so vertrauensselig und selbstlos hingegeben hatte, nicht das gaben, was in Wirklichkeit nottat. Einst, wenn er wie Semionow zum Sterben kommt, dann wird er ebenso vieles bedauern müssen ... Nicht, daß es ihm unmöglich war, die Menschen glücklich zu machen, die Ideale, die ihn beseelten, zu verwirklichen, ... nein, ganz allein, daß im Tode seine Empfindungen schwinden, ohne daß er im vollen Maße durchkostet hatte, was ihm das Leben bieten konnte. Doch sogleich schien ihm dieses Gefühl beschämend; er überwand sich und suchte nach einer Erklärung: Das Leben besteht eben im Kampfe.

Doch für wen? ... Warum nicht für sich? ... Für seinen eigenen Anteil an der Sonne, raunte traurig ein Gedanke in ihm. Jurii wollte ihn unterdrücken und begann sich mit anderem zu beschäftigen. Aber das war schwierig und uninteressant. Immer wieder lief sein Denken in dieselben Kreise zurück und verdichtete sich zu einem quälenden Druck, der sich durch nichts abschütteln ließ.


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