M. Artzibaschew
Ssanin
M. Artzibaschew

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I

Die wichtigste Zeit im Leben, in der sich unter dem Einflusse der ersten Zusammenstöße mit Menschen und Natur der Charakter bildet, verlebte Wladimir Ssanin fern von seiner Familie. Niemand beaufsichtigte ihn, niemandes Hand leitete ihn, und die Seele dieses Menschen wuchs frei und eigenartig heran, wie der Baum im Felde.

Viele Jahre hindurch war er nicht in der kleinen Stadt gewesen und als er endlich zurückkehrte, erkannten ihn die Mutter und seine Schwester Lyda kaum wieder: In den Gesichtszügen, in Stimme und Manieren hatte er sich nur wenig verändert, aber doch zeigte sich an ihm etwas Anderes, Unbekanntes, das im Innern herangereift war und das Gesicht mit einem neuen Ausdruck durchleuchtete.

Es war gegen Abend, als er ankam, und er trat so ruhig in das Zimmer ein, als ob er es erst fünf Minuten vorher verlassen hätte. In seiner hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt mit den hellen Haaren, in seinen ruhigen und fast garnicht, höchstens in den Mundwinkeln, spöttischen Mienen, lag weder Aufregung noch Ermüdung; die lärmende Freude, mit der ihn die Mutter und Lyda empfingen, schwand wie von selbst.

Solange er aß und trank, saß ihm seine Schwester gegenüber und schaute ihn gerade an, ohne die Blicke abwenden zu können. Sie war in ihren Bruder so verliebt, wie nur exaltierte, junge Mädchen ihre abwesenden Brüder zu lieben vermögen.

Lyda stellte sich den Bruder als einen ganz besondern Mann vor, dessen Eigenart sie sich selbst aus den Büchern zusammengeträumt hatte. In seinem Leben wollte sie einen tragischen Konflikt sehen: Kampf, – Leiden, – Einsamkeit einer gewaltigen Individualität. – – – –

»Warum schaust du mich so grade an?« fragte sie Ssanin lächelnd. Dieses interessierte Lächeln bei dem in sich vertieften Blick der Augen war der ständige Ausdruck seines Gesichts.

Und seltsam, – dieses Lächeln, an sich hübsch und sympathisch, mißfiel Lyda von Anfang an. Es kam ihr selbstgefällig vor, und es schien ihr so garnichts von Kampf und Leiden und Einsamkeit zu erzählen.

Lyda schwieg und wurde nachdenklich, und, die Augen abwendend, blätterte sie mechanisch in einem Buche.

Als das Mittagessen beendet war, streichelte die Mutter ihrem Sohne zart und sanft Haar und Stirne und fragte:

»Nun erzähle uns aber auch! Wie hast du dort gelebt, was hast du alles getan? ...«

»Was ich getan habe? ...« Ssanin wiederholte es lächelnd. »Na, was schon? ... Aß, trank, schlief, arbeitete auch mitunter, manchmal tat ich auch garnichts, ... so ...«

Anfangs schien es ihm peinlich zu sein, von sich selbst zu sprechen, aber, als die Mutter sich sorgsam nach allem zu erkundigen begann, da kam er ins Erzählen und es machte den Eindruck, daß er gern erzähle. Und doch fühlte man heraus, daß es ihm im Grunde ganz gleichgültig war, wie sich die Andern zu seinen Reden stellten. Trotzdem er zärtlich und aufmerksam blieb, ließ sich in seinem Benehmen niemals die intime Nähe eines verwandten Menschen spüren, die von der ganzen Welt absondert, und man konnte eher glauben, daß all seine Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit von ihm so einfach und selbstverständlich ausgestrahlt wurde, wie das Licht einer Kerze. Für alle gleich!

Sie traten auf die Terrasse hinaus, die in den Garten führte, und setzten sich auf die Stufen nieder. Lyda machte es sich auf einer tieferen möglichst bequem, und lauschte ganz für sich und schweigend, dem, was der Bruder ihnen erzählte.

Ein unfaßbarer, kalter Strahl lief durch ihr Herz. Mit dem scharfen Instinkt des jungen Weibes empfand sie bereits, daß ihr Bruder nichts von ihren Phantasien in sich trug, und sie wurde dadurch unwillkürlich eingeschüchtert und befangen, wie einem Fremden gegenüber.

Es war schon Abend, und ein weicher Schatten fiel auf alles. Ssanin zündete sich eine Zigarette an; das leichte Aroma des Tabaks mischte sich mit dem duftigen, sommerlichen Hauch des Gartens.

Er begann davon zu reden, wie ihn das Leben hin- und hergeschleudert hatte, wie er bummelte, manchmal hungern mußte; von seiner Teilnahme am politischen Kampf und wie er sie wieder beiseite warf, als sie ihn zu langweilen anfing.

Lyda hörte gespannt zu und saß unbeweglich, schön und etwas eigenartig da, wie alle jungen Mädchen in der Frühlingsdämmerung. Immer klarer wurde ihr, daß sein Leben, welches sie sich in so feurigen Zügen ausgemalt hatte, ganz einfach und gewöhnlich war.

Zwar ... irgend etwas Besonderes klang noch daraus hervor, doch das, was es sein mochte, konnte Lyda nicht erfassen. Im übrigen aber blieb es unwichtig und gleichgültig, ja, wie es ihr vorkam, sogar banal. Er wohnte, wo es grad der Zufall mit sich brachte, tat, was ihm in die Hände fiel, arbeitete bald, bald bummelte er, alles scheinbar ohne Ziel; nur trank er mit Vorliebe und kannte gut die Frauen. Hinter diesem Leben lauerte nicht das schwere und düstere Schicksal, welches die träumerische Mädchenseele Lydas zu sehen wünschte. In ihm herrschte keine allumfassende Idee; er haßte niemanden und litt auch um keines Menschen willen.

Im Gespräch drängten sich Worte in seine Rede, die Lyda aus irgendeinem Grunde unschön fand.

»Kannst du denn auch nähen? ...« unterbrach sie ihn einmal unwillkürlich mit verletzendem Erstaunen; das schien ihr häßlich und unmännlich.

»Früher hatte ich gewiß keine Ahnung davon, aber als es sein mußte, gut, da lernte ich's eben,« antwortete Ssanin mit seinem Lächeln; er empfand, was in Lyda vorging. Das Mädchen zuckte, ein wenig unbeholfen, mit den Achseln, schwieg aber; sie starrte tief in den Garten, mit dem Gefühl, wie wenn man des Morgens voller Träume an die Sonne erwacht und plötzlich den Himmel grau und kalt erblickt.

Auch die Mutter ergriff eine drückende, lästige Bangigkeit. Es berührte sie schmerzlich, daß ihr Sohn nichts dazu tat, um in der Gesellschaft die Stellung einzunehmen, die sich für ihn gebührt hätte. So begann sie, darüber zu reden, daß man auf solche Weise nicht weiter fort leben könne und daß man wenigstens jetzt versuchen müsse, sich anständig einzurichten. Zuerst sprach sie behutsam, noch in Furcht, den Sohn zu verletzen; aber sobald sie bemerkte, daß er nur oberflächlich hinhörte, wurde sie ungeduldig und fing an, mit dem stumpfen Verdruß einer Greisin auf ihn einzureden, als ob er sie absichtlich gereizt hätte.

Ssanin zeigte keine Verwunderung, wurde auch nicht böse; wie es schien, hörte er kaum auf sie. Mit zärtlichen Blicken sah er sie vollkommen gleichgültig an und schwieg. Nur auf ihre Frage:

»Aber wie denkst du denn zu leben?« gab er gleichmütig zur Antwort:

»So! ... Irgendwie! ...«

Doch seine ruhige, feste Stimme und die hellen, nicht blinzelnden Augen ließen erkennen, daß diese zwei bedeutungslosen Worte für ihn einen allumfassenden Sinn voll tiefer Bestimmtheit hatten. Maria Iwanowna seufzte, hielt einen Augenblick inne und sagte dann traurig:

»Nun, wie du es für das Beste hältst. Es ist deine Sache. Du bist auch kein Kind mehr ... Doch ihr solltet etwas in den Garten gehen. Seht nur, wie schön es jetzt ist.«

»Gehen wir wirklich Lyda! Komm, zeig' mir einmal unsern Garten. Ich habe schon ganz vergessen, wie es dort aussieht.«

Lyda fuhr augenblicklich aus ihren Träumereien empor, seufzte ebenfalls und stand auf. Langsam schritten sie miteinander den breiten Mittelweg entlang in die feuchte, dunkle Tiefe hinein.

Das Haus der Ssanins lag an der Hauptstraße der Stadt. Aber die Stadt war nur klein und der Garten lief direkt zum Fluß herunter, an dessen gegenüberliegendes Ufer schon die Felder stießen. Das Haus war ein alter Herrensitz mit nachdenklichen Säulen, von denen der Bewurf in Stücken abgebröckelt war, und einer breiten Terrasse, die in den Garten führte. Und dieser Garten war groß, verwachsen und lauschig; man konnte glauben, daß sich eine dichte, dunkelgrüne Wolke an die Erde schmiegte.

Des Abends war es im Garten geheimnisvoll schaurig, als ob dort in dem formlosen Gebüsch, geradso wie in den verstaubten Mansarden des Hauses, irgend ein altes, abgelegtes und trauriges Gespenst herumschleiche.

In dem oberen Stockwerke lagen weite, dunkle Säle und leere Gastzimmer und im Garten war nur die eine Allee gangbar geblieben, auch sie war mit abgebrochenen Zweigen und Blättern bedeckt; hin und wieder stieß der Fuß an einen zertretenen Frosch.

Das ganze gegenwärtige Leben aber hauste still und bescheiden nur in einer Ecke. Neben dem Hause schimmerte dort der gelbe Kies hervor, krause Blumenbeete waren mit bunten Blüten durchsetzt; ein hölzernes Tischchen, an dem man bei gutem Wetter speiste und den Tee einnahm, hatte dort seinen Platz. Diese ganze, kleine Ecke war von einfachem, friedlichem Leben durchwärmt, sodaß sie nicht mit der düsternen Schönheit des weiten, verwahrlosten Ortes verschmolz, der dem unvermeidlichen Verfall geweiht schien.

Als das Haus im Grünen verschwunden war und um Ssanin und Lyda nur noch die verträumten Bäume gleich lebendigen Wesen standen, legte er seinen Arm um ihre Taille und sagte mit einer eigentümlichen Stimme, die zärtlich und doch bedrückend klang:

»Nein, bist du aber zu einer Schönheit herangewachsen. Muß der Mann glücklich sein, dem du dich als Erstem hingeben wirst ...«

Ein heißer Strom zuckte aus seinem kräftigen, wie aus Eisen geschmiedeten Arm durch den schmiegsamen und zarten Körper Lydas.

Sie wurde verwirrt, erzitterte, und schwankte fast von ihm zurück, als fühlte sie das Herannahen eines unsichtbaren Tieres.

Sie waren schon an den Fluß herangekommen, wo man den feuchten Dunst des Wassers roch, das spitze Schilf nachdenklich hin und her trieb und sich den Blicken die breite Fläche des andern Ufers öffnete, mit dem tiefen, warmen Himmel und dem ersten Aufblitzen der Sterne.

Ssanin trat einige Schritte zurück und erfaßte irgendwo mit den Händen einen dicken, trockenen Baumast; er brach ihn geräuschvoll ab und warf ihn ins Wasser.

Zarte Kreise erwachten und liefen nach allen Seiten auseinander; das Schilf am Ufer begann eilig zu nicken, als bestände zwischen ihm und Ssanin eine geheime Verbindung.


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