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Ljalja weinte in ihrem Bett noch so lange, bis sie, das Gesicht tief in die Kissen vergraben, endlich einschlief. Am nächsten Morgen stand sie mit schwerem Kopf und geschwollenen Augen auf. Ihr erster Gedanke war, daß sie nicht mehr weinen dürfe, da Rjäsanzew zum Mittag kommen werde; es mußte ihm unangenehm sein, wenn sie ein verweintes, häßliches Gesicht hätte. Doch gleich darauf dachte sie wieder, daß es ja gar nicht mehr darauf ankäme, weil doch alles zu Ende sei. Sie empfand einen scharfen Schmerz, als sie dachte, daß Rjäsanzew sie nicht mehr lieben könne und weinte von neuem. Wie häßlich, wie abscheulich, flüsterte Ljalja in dem Gefühl, von bitteren, noch nicht frei gewordenen Tränen erstickt zu werden ... Warum, warum ist das..., fragte sie sich beharrlich und in ihre Seele legte sich eine Traurigkeit über das für ewig vergangene, nicht mehr wiederkehrende Glück, die keinen Ausweg vor sich sah.
Es war ihr unerklärlich, wie Rjäsanzew sie so leicht und ununterbrochen belügen konnte.
... Aber nicht nur er allein, nein, alle lügen, sagt man, dachte Ljalja verwirrt ... Alle, alle freuten sich ja über meine Heirat und sagten, er ist ein guter, anständiger Kerl. Und nein, sie logen auch nicht... Sie hielten das einfach nicht für schlecht ... Wie gräßlich.
Ljalja war es widerwärtig, die gewohnte Umgebung, die ihr Gestalten in die Erinnerung warf, welche ihr jetzt unerträglich schienen, vor Augen zu haben. Sie preßte ihr Gesicht an die Fensterscheiben und begann durch Tränen hindurch in den Garten zu blicken.
Draußen war es trübe; es rieselte ein loser Regen, doch in starken Tropfen nieder. Die fallenden Tropfen klopften hart gegen die Scheiben und rollten dann rasch hinunter; Ljalja wurde es schwer, zu unterscheiden, wann es ihre Tränen, wann es diese harten Regentropfen waren, die ihr die Aussicht in den Garten benahmen. Im Garten war es feucht; die herabhängenden Blätter waren naß und bewegten sich traurig. Selbst die Baumstämme hatte die Nässe geschwärzt und das feuchte Gras neigte sich demütig zur Erde.
Ljalja schien es, daß ihr ganzes Leben voller Unglück, ihre Zukunft hoffnungslos, ihre Vergangenheit grau sei.
Das Dienstmädchen kam herein, um sie zum Tee zu rufen, doch lange Zeit verstand Ljalja nicht ein Wort. Später im Eßzimmer schämte sie sich, als sie der Vater ansprach. Ihr kam es vor, wie wenn er in seine Stimme ein besonderes Mitleid legte. Alle mußten es bereits wissen, daß sie dieser Mann, den sie liebte, schmutzig und gemein betrogen hatte.
Aus jedem Wort hörte sie das verletzende Mitleid heraus. Bald lief sie wieder in ihr Zimmer. Wieder setzte sie sich ans Fenster und wieder fing sie an, nachdenklich in den rinnenden, grauen Garten zu blicken.
... Warum heuchelt er, – warum hat er mich so tief beleidigt? Bedeutet es, daß er mich nicht liebt? Nein, Tolja liebt mich, so wie ich ihn. Und worum handelt es sich eigentlich? Gewiß, er hat mich betrogen. Schon früher liebte er irgendwelche andere, niedrige Frauen und sie liebten ihn. – Ob so wie ich, fragte sie sich mit naiver und brennender Neugierde. Welch ein Unsinn – was geht mich das jetzt noch an. Er hat mich ja mit ihnen verwechselt und nun muß alles zu Ende sein. Wie arm, wie unglücklich bin ich. Aber nein, es ist ganz meine Sache. Er betrog mich doch. Und, wenn er es gestanden hätte. Aber nein – ganz gleich; – es bleibt mir widerwärtig. Er hat schon andere ebenso geliebkost wie mich, sogar mehr – das ist entsetzlich. Ich bin sehr unglücklich.
Ein Fröschlein aus dem Grase quäkt,
Wobei es seine Beine streckt,
Ljalja sang in Gedanken den alten Kindervers vor sich hin, während sie auf einen kleinen grauen Knäuel starrte, der ängstlich über den glitschrigen Weg sprang.
... Ja, ich bin unglücklich und alles ist zu Ende, begannen die Gedanken wieder, als der Frosch im Grase verschwunden war. Für mich war es so wunderbar und schön und für ihn war es nur eine altgewohnte Geschichte. Darum vermied er es immer, über seine Vergangenheit zu sprechen. Darum machte mir sein Gesicht auch während der ganzen Zeit den Eindruck, als ob er über etwas nachsänne. Er dachte sich: Alles das kenne ich schon, alles weiß ich. Ich weiß auch, was du empfindest und was du bald tun wirst. Aber ich, wie beschämend, wie widerlich; – niemals, nie werde ich wieder jemanden lieben können.
Ljalja weinte und legte den Kopf mit der Wange an das kalte Fensterbrett, während sie durch Tränen beobachtete, nach welcher Richtung die Wolken zogen.
Plötzlich erinnerte sie sich wiederum, daß Rjäsanzew an diesem Tage zum Mittagessen kommen werde. Erschrocken sprang sie auf.
... Was werde ich ihm sagen. Wie muß man in solchen Fällen sprechen. Ljalja öffnete den Mund und starrte mit erschrockenen, verwirrten Augen auf die Wand. Es fiel ihr ein, daß sie sich bei Jurii danach erkundigen könne und das beruhigte sie.
... Wie ehrlich und gut er ist, dachte sie, mit zärtlichen Tränen in den Augen. Und wie sie stets alles ohne Verzug tat, ging sie sofort in Juriis Zimmer.
Doch dort saß Schawrow und redete über irgendwelche Angelegenheiten. Ljalja blieb unschlüssig an der Türe stehen.
»Guten Tag,« sagte sie nachdenklich.
»Guten Tag,« begrüßte sie Schawrow. »Kommen Sie zu uns, Ludmilla Nikolajewna. Wir haben hier eine Sache vor, bei der Ihre Hilfe unentbehrlich ist.«
Immer noch mit demselben unschlüssigen Gesicht setzte sich Ljalja demütig an den Tisch und begann mechanisch in den grünen und roten Broschürchen, die in Haufen aufgestapelt lagen, mit den Fingern herumzustöbern.
»Hören Sie, worum es sich handelt,« Schawrow wendete sich ihr zu und begann zu erzählen; dabei machte er ein Gesicht, als wollte er ein äußerst verwickeltes und umfangreiches Problem auseinandersetzen. »Die Genossen in Kursk befinden sich in äußerst schwieriger Lage. Man muß ihnen unbedingt helfen. Da bin ich auf den Gedanken gekommen, ein kleines Konzert zu veranstalten, wie?« Dieses Wie, das bei Schawrows Reden gewöhnliche Anhängsel, erinnerte Ljalja, weshalb sie hierher gekommen war; voll Vertrauen und Hoffnung schaute sie auf Jurii.
»Warum denn nicht? Das ist sehr schön!« Sie antwortete ganz mechanisch, während sie sich im stillen wunderte, daß Jurii sie garnicht anblickte.
Jurii fühlte sich noch nach dem gestrigen Tränenausbruch Ljaljas und seinem eigenen nächtlichen Nachdenken wie zerschlagen; er war unfähig, Ljalja anzusehen. Er hatte es erwartet, daß die Schwester bei ihm Rat holen würde, fand sich aber, in seiner völligen Ohnmacht, selbst zu einer befriedigenden Lösung zu kommen, in nichts mehr zurecht. So wenig er es fertig bringen mochte, seine eigenen Worte zu widerrufen, Ljalja umzustimmen und sie wieder Rjäsanzew zuzuführen, hätte er gar ihrem naiven kindlichen Glück einen entschiedenen Schlag versetzen können.
»Also, wir haben nun folgendes beschlossen,« fuhr Schawrow fort, indem er sich noch näher an Ljalja heranschob, als ob sich die Angelegenheit noch weiter kompliziere und verwickelter gestalte. »Wir laden Ssanina und Karssawina zum Singen ein .. Zuerst jede Solo, dann zusammen. Die eine hat einen famosen Alt, die andere einen feinen Sopran, das wird sich sehr schön machen. Nachher werde ich Geige spielen. Später muß Sarudin singen und Tanarow kann ihn begleiten.«
Ebenso mechanisch wie vorher, mit ihren Gedanken bei ganz etwas anderem, fragte Ljalja: »Werden denn die Offiziere solch ein Konzert mitmachen? ...«
»Na, gewiß doch!« Schawrow schwenkte die Hände. »Wenn Lyda Ssanina nur einwilligt, werden die gewiß nicht zu Hause bleiben. Uebrigens liebt es Sarudin, sich überall zu produzieren, wo man es zuläßt. Wenn er nur singen kann. Und das wird uns das Regiment heranziehen; wir werden eine Einnahme haben, na einfach glänzend, wie?«
»Ja, laden Sie Karssawina ein,« stimmte Ljalja bei und sah den Bruder mit trauriger Unschlüssigkeit an. ... Er kann es doch unmöglich vergessen haben, dachte sie ... Und wie kann er sich nur über dieses törichte Konzert unterhalten, während ich ...
»Aber das schlage ich doch selber eben vor ..« Schawrow staunte sie in höchster Verwunderung an...
»Ach ja!« Ljalja lächelte müde. »Nun, und Lyda Ssanina ... Ach ja doch, sie sprachen ja schon von ihr.«
Schawrow nickte eifrig mit dem Kopf: »Gewiß, gewiß! Aber wen laden wir denn noch ein? ... Wie? ...«
»Ich weiß nicht... Ich habe Kopfschmerzen ...«
Jurii drehte sich im Augenblick nach ihr um, wandte sich aber gleich wieder ohne ein Wort seinen Büchern zu. Mit ihrem blassen Gesichtchen und den großen umschatteten Augen, erschien sie ihm ganz erstaunlich schwach und bemitleidenswert.
... Ach wozu, wozu hab ich ihr nur diese Geschichte erzählt, dachte er. Für mich selbst ist es ja noch ganz unklar. Und überhaupt ist das für alle Menschen eine verdammt ungeklärte Frage. Nun erst für ihr kleines, winziges Herzchen ... Wozu habe ich das zusammengeredet? ..
Er riß sich beinahe die Haare aus.
»Gnädiges Fräulein,« rief das Zimmermädchen in der Türe, »Anatoli Pawlowitsch sind gekommen ...«
Jurii blickte wiederum erschrocken auf Ljalja, doch als er ihrem starren Märtyrerblick begegnete, meinte er unschlüssig zu Schawrow:
»Haben Sie Charles Bredlaugh gelesen?« »Ja! Wir haben es mit Dubowa und Karssawina zusammen gelesen. Eine interessante Sache!«
»So? ... Ja, sind die Mädchen schon wieder zurückgekommen? ...«
»Gewiß!«
»Wann,« fragte Jurii und unterdrückte seine Erregung.
»Vorgestern schon!«
»So? ...« Jurii lauschte mit einemmal wieder, was Ljalja tat.
Ein Gefühl von Qual und Angst durchzuckte ihn, als ob er seine Schwester betrogen hätte.
Sie stand noch ein Weilchen im Zimmer herum, ordnete irgend etwas auf einer Etagere und schritt dann unschlüssig auf die Türe zu.
Ihre ungewöhnlich nervösen Schritte peinigten Jurii von neuem und noch stärker als der zitternde Ausdruck ihrer Augen.
Ljalja trat in den Saal; sie empfand, wie in ihr alles in gespannter, trauriger Verwirrung erstarrte. Es sah so aus, als wenn sie in einem nebligen Wald den Pfad verloren hatte. Unterwegs blickte sie flüchtig in den Spiegel und sah darin ein dunkles, krankes Gesicht.
... Nun gut, mag er es nur sehen, dachte sie.
Mitten im Eßzimmer stand Rjäsanzew und sprach zu Nikolai Jegorowitsch mit seiner heiteren, aristokratisch selbstsicheren Stimme.
»Das ist natürlich eine seltsame Erscheinung, ist aber völlig unschädlich.«
Beim Laut dieser Stimme erzitterte plötzlich ein unbestimmtes Wehgefühl in Ljaljas Brust und riß sich ab.
Sowie Rjäsanzew sie erblickte, unterbrach er jäh seine Rede, ging auf sie zu und streckte ihr beide Arme entgegen, als wollte er sie umarmen. Aber doch so, daß diese Bewegung nur ihr allein bemerkbar und verständlich war.
Ljalja sah von unten herauf in sein Gesicht; ihre Lippen erzitterten. Schweigend und mit Ueberwindung machte sie ihre Hand von ihm los, schritt durch den Saal und öffnete die Glastür zum Balkon. Rjäsanzew sah ihr mit ruhiger Verwunderung nach.
»Meine Ludmilla Nikolajewna geruhen zu zürnen.« Er sprach im Tone scherzhafter Wichtigkeit zu Nikolai Jegorowitsch.
Dieser lachte laut auf: »Sehr gut, ... so laufen Sie, sich zu versöhnen.«
»Ja, es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben,« seufzte er komisch und ging hinter Ljalja zum Balkon hinaus.
Es regnete noch immer, und das feine Plätschern des Wassers lag unaufhörlich in der Luft. Doch in der Höhe zerflossen die Nebel schon locker und licht.
Mit der Wange an das kalte, nasse Holz des Pfahls gelehnt, stand Ljalja ihren Kopf dem Regen entgegen gestreckt, so daß ihr Haar sofort durchnäßt wurde.
»Mein Prinzeßlein zürnt ... Ljalitschka!« sagte Rjäsanzew und zog sie an sich; leise drückte er seine Lippen auf ihr feuchtes, duftendes Haar.
Unter dieser Berührung, die Ljalja so bekannt und glückverheißend war, löste sich alles in ihrer Brust auf. Bevor sie noch Zeit hatte, zu einem Entschluß zu kommen, wand sich ihr Arm, wie von selbst um den festen Nacken Rjäsanzews und inmitten von langen, betäubenden Küssen sagte Ljalja: »Wie ich dir furchtbar böse bin, du abscheulicher Kerl!«
Mit einmal schien ihr selbst ihre ganze Stimmung unerklärlich. Es war doch nichts Schreckliches, Schweres, nichts Unverbesserliches vorgefallen. Am Ende, was ging es denn sie an ... Nur lieben und von diesem großen starken Mann geliebt zu werden.
Später beim Essen wurde es ihr peinlich, Jurii anzusehen, der ratlos auf sie blickte; bei der nächsten Gelegenheit flüsterte sie ihm bittend zu:
»Widerwärtig bin ich!« Jurii lächelte gezwungen. Im Innern war er froh, daß alles so gut abgelaufen war. Aber gleichzeitig war er doch bemüht, in sich eine verächtliche Empfindung über die philiströse Duldsamkeit und die kleinbürgerliche Glückseligkeit Ljaljas aufkommen zu lassen. Er zog sich auf sein Zimmer zurück und blieb fast bis zum Abend allein. Erst als es in der Dämmerung draußen etwas freundlicher wurde und der Himmel sich aufheiterte, griff er zur Büchse und ging auf die Jagd. Mit schnellen Schritten ging er los, bis er wieder das Feld vor sich liegen sah, auf dem der alte Bauer ihn und Rjäsanzew am Tage zuvor empfangen hatte. Jurii zwang sich, nicht über das Vorgefallene nachzudenken.
Jetzt nach dem Regen begann der ganze Sumpf aufzuleben. Eine Menge neuer und mannigfaltiger Laute wurde vernehmbar und bald hier bald dort geriet das Gras in Bewegung, wie getrieben von dem in ihm hausenden, geheimnisvollen Leben. Fröhlich überboten sich die Frösche in allen Stimmen; ein ferner Vogel ließ anspruchslose, knarrende Töne hören, die einem Trrrr Trrrr ähnlich waren, die Enten krächzten nahe und doch unsichtbar, geheimnisvoll im nassen Schilf, zogen aber nicht zum Schuß hoch.
Jurii hatte garnicht einmal den Wunsch, zum Schuß zu kommen. Gedankenlos warf er die Flinte über die Schulter und ging wieder nach Hause, während er angeregt auf die krystallenen Laute horchte und in sich die tiefen Abendfarben, die bald dunkel, bald wieder hell, um ihn aufleuchteten, einsog.
– – – Schön ist es, dachte er, alles ist schön – – – nur der Mensch ist widerwärtig. – – –
Von ferne erkannte er das runde Feuer im Gemüsegarten und die hellerleuchteten Gestalten des alten Kusma und Ssanins, die dicht am Feuer saßen.
– – – Wohnt denn der Ssanin hier? dachte er verwundert und neugierig.
Kusma erzählte irgendetwas und lachte dabei, die beiden Hände fortgesetzt hin- und herwerfend. Auch Ssanin lächelte. Das Feuer, jetzt noch rosig und nicht so grellrot wie in der Nacht, brannte wie eine Kerze; über ihm bedeckte sich der Himmel friedlich und weich mit Sternen. Es roch nach frischer Erde und nach taubesprengtem Gras.
Aus irgendeinem Grunde fürchtete Jurii, daß man ihn bemerken würde und es machte ihn traurig, daß er nicht einfach zu ihnen hingehen konnte, weil zwischen diesen Menschen und ihm etwas Unbegreifliches stand, gleichsam etwas, das garnicht existierte, und leer aber doch unüberwindlich vor ihm lag, wie ein luftleerer Raum.
In diesem Augenblick fühlte er sich völlig vereinsamt. Die große Welt in ihren abendlichen Farben, mit den Feuerchen, mit Menschen und Lauten, voller Luft und Leuchten, wie sie sich vor ihm wiegte, war doch weit von ihm getrennt; – – – er war klein und trübe wie ein dunkles Zimmer, in dem etwas weint und trauert. Und das Gefühl einsamer Wehmut bemächtigte sich seiner mit solcher Stärke, daß ihm, als er durch das Gemüsefeld schritt, die vielen hundert Wassermelonen, die in der Dämmerung gelblichgrau schimmerten, wie menschliche Schädel erschienen, welche weit über ein wüstes Feld zerstreut liegen.