M. Artzibaschew
Ssanin
M. Artzibaschew

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XXXI

Am selben Abend kam Ssanin allein bei Ssoloveitschik vorbei.

Der Jude saß ganz einsam auf der Steintreppe des Hauses und schaute auf den öden Hof, über den sich, Gott weiß für wen, schmale Wege langweilig hinzogen; zwischen den Steinen verwelkte staubiges Gras. Die abgeschlossenen Schuppen mit riesigen, verrosteten Schlössern, die trüben Fenster der Mühle und der ganze ungeheure leere Platz, in dem das Leben, wie es schien, bereits vor langen Jahren ausgestorben war, atmeten gräßliche, gepreßte Zerschlagenheit aus.

Ssanin war beim ersten Anblick von den Mienen Ssoloveitschiks überrascht. Er lächelte nicht, bleckte nicht wie sonst gefällig mit den Zähnen, sondern sah nur traurig und abgespannt vor sich hin ... Nur aus seinen dunklen Augen lugte lange ein bohrender Gedanke hervor.

»Ah, guten Tag,« sagte er gleichgültig und drückte schwach Ssanins Hand; dann wandte er sich sofort wieder mit dem Gesicht zu dem dunklen Himmel, von dem sich die abgestorbenen Scheunendächer noch lebloser abhoben.

Ssanin setzte sich auf eins der Treppengeländer, zündete sich eine Zigarette an und schaute lange auf Ssoloveitschik, an dem ihm etwas Besonderes auffiel. »Was machen Sie hier? ..«

Ssoloveitschik wandte ihm langsam seine traurigen Augen zu.

»Ich bin hier so ... Die Mühle blieb stehen. Ich war beschäftigt im Kontor ... Da wohnte ich auch hier. Sind schon alle weggefahren, ich bin hier geblieben, als einer nur.«

»Es ist Ihnen wohl bange, so einsam zu wohnen?«

»Was ist bange? – – – Ist ja alles ganz egal,« er schlug mit der Hand trübe durch die Luft. Es war lange still und man konnte nur das einsame Kettenklirren in der Hundehütte hinter den Scheunen her vernehmen.

»Nicht hier ist es so bange,« – – – Ssoloveitschik kam plötzlich ins Reden und geriet unerwartet in laute leidenschaftliche Bewegung.

»Nicht hier ... sondern ...« er zeigte auf Brust und Stirn, »da und da ...«

»Was ist denn?« fragte Ssanin ruhig.

»Hören Sie,« Ssoloveitschik fuhr noch lauter und leidenschaftlicher fort. »Da haben Sie geschlagen heut einen Menschen, haben ihm zertrümmert sein ganzes Leben. Zürnen Sie mir nicht, ich bitte, daß ich spreche, alles das ... aber ich denke viel daran. Ich saß hier und dachte daran immerzu und ist mir geworden so traurig ... Ich bitte, antworten Sie mir doch!« – Für einen Augenblick verzerrte das gewöhnliche, gefällige Lächeln sein Gesicht.

»Fragen Sie, wonach Sie wollen. Glauben Sie wirklich, Sie werden mich verletzen? ... Durch eine Frage können Sie es gewiß nicht. Was ich getan habe, habe ich getan. Wenn ich jetzt glauben wollte, daß es schlecht war; ich würde es selber eingestehen.«

»Ich wollte Sie nur eines fragen ... Wenn Sie sich vorstellen – – jetzt – – vielleicht haben Sie getötet diesen Menschen?«

»Daran zweifle ich kaum. Ein solcher Mensch wie Sarudin kann sich kaum von dem Schlag frei machen, als ... nun daß er mich oder sich tötet ... Aber was mich betrifft ... Nein, der psychologische Moment ist versäumt. Der ist jetzt viel zu deprimiert, um mich jetzt gleich zu töten. Später aber wird er keinen Mut mehr dazu haben. Sein Spiel ist zu Ende.«

»Und darüber können Sie sprechen so ruhig?«

»Was soll das Ruhig? ... Ich kann nicht ruhig mit ansehen, wie man eine Henne abschlachtet. Und hier handelt es sich noch um einen Menschen. Und das Schlagen selbst ist peinlich. Zwar ... das Gefühl der eigenen Kraft ist ein bißchen angenehm ... aber doch ... es ist dumm. Und häßlich war es auch, daß alles so roh vor sich ging, doch mein Gewissen ist ruhig. Ich war hierbei nur eine Zufälligkeit. Sarudins Leben läuft eine Bahn herunter, bei der es nur verwunderlich ist, daß nicht allein dieser eine Mensch zugrunde geht, sondern nicht noch alle andern zum Teufel gegangen sind. Die Leute lernen Menschen zu töten, ihren Körper zu pflegen und begreifen nicht, was und wozu sie es tun. Das sind Verrückte, Idioten. Und wenn man Verrückte auf der Straße frei herumlaufen läßt, schneiden sie sich alle untereinander die Kehlen ab. Was bin ich schuld, daß ich mich gegen einen solchen Tollen verteidigen mußte.« »Aber getötet haben Sie ihn,« beharrte Ssoloveitschik.

»Darüber mag er sich schon beim lieben Herrgott beschweren, der uns beide auf einem Punkt zusammenbrachte, wo wir nicht aneinander vorbeikommen konnten.«

»Aber Sie konnten ihn halten fest, ihn kriegen bei die Hände.«

Ssanin hob den Kopf.

»In solchen Fällen denkt man nicht darüber nach, was man tun könnte .. Und welchen Zweck hätte es gehabt, das Gesetz seines Lebens verlangte Rache um jeden Preis. Ich konnte ihn doch keine Ewigkeit an den Händen halten. Für ihn wäre das nur eine neue Beleidigung gewesen ... und weiter nichts.«

Ssoloveitschik breitete beide Arme weit aus und wurde schweigsam.

Die Dunkelheit rückte gierig von allen Seiten heran. Der rosa Streifen der Abendröte, von den Rändern der schwarzen Dächer scharf abgeschnitten, wurde immer ferner und kühler. Die lautlosen Schritte schwarzer, unfaßbarer Schatten, die sich hinter den dunklen Scheunen zu drängen schienen, mußten es sein, die Sultan plötzlich beunruhigten. Denn mit einem Male kam er aus der Hütte herausgekrochen und hockte sich davor nieder; wütend klirrte er mit seiner Kette.

»Mögen Sie – möglicherweise – recht haben ... Aber dann ist es wirklich immer notwendig ... Vielleicht wäre es gewesen besser, wenn Sie selbst hätten ertragen den Schlag.«

»Weshalb besser? ... Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Schlag hinzunehmen. Wozu auch? ... Aus welchen Gründen?«

»Nein, ich bitte, hören Sie mich an ...« fiel ihm Ssoloveitschik rasch ins Wort. »Vielleicht, es wäre gewesen doch besser ...«

»Für Sarudin allerdings.«

»Nein, für Sie auch. Denken Sie sich nur...«

»Ach, Ssoloveitschik,« erwiderte leicht angeärgert Ssanin. »Das ist immer das alte Märchen von dem moralischen Sieg. Und dazu ist dieses Märchen noch sehr plump. Der moralische Sieg besteht nicht darin, unbedingt seine Backe hinzuhalten, sondern vor seinem eigenen Gewissen im Recht zu sein. Und wie man sich dieses Bewußtsein verschafft, das ist ganz gleich ... Das hängt vom Zufall, von den Umständen ab. Nichts ist entsetzlicher als die Sklaverei, und es gibt wieder keine schrecklichere Sklaverei, als wenn sich ein Mensch bis auf die Knochen gegen eine Gewalttat, die ihn trifft, empört und sich ihr dann doch im Namen eines stärkeren Prinzips unterwirft.«

Ssoloveitschik faßte sich plötzlich an den Kopf, doch in der Dunkelheit blieb der Ausdruck seines Gesichts unerkennbar.

»Was soll ich sagen? ...« rief er mit weinerlicher Stimme. »Meine Vernunft ist so schwach. Ich kann sich garnichts erklären, nichts verstehen, ... ich weiß nicht, wie man soll leben.«

»Und wozu brauchen Sie es zu wissen. Leben Sie wie der Vogel fliegt. Will er den rechten Flügel heben, gut, so hebt er ihn, will er um einen Baum biegen, gut, biegt er um ...«

»Ja, aber es ist doch das ein Vogel, wohingegen ich bin ein Mensch ...«

Ssanin lachte laut, und sein fröhliches, mutiges Lachen erfüllte alle Ecken des dunklen Platzes mit momentanem Leben.

Ssoloveitschik hörte auf und schüttelte langsam den Kopf.

»Nein,« sprach er trüb. »Das ist alles nur so ... Worte. Sie können mich nicht lehren, wie muß ich leben. Niemand, niemand kann es.«

»Das ist wahr, niemand kann das. Die Kunst zu leben, das ist auch ein Talent. Und wer dieses Talent nicht besitzt, der geht unter.«

»Sie sind jetzt so ruhig, Sie sprechen so, als wenn Sie wissen schon alles. Und ... ich bitte, seien Sie mir nicht böse .. Waren Sie immer einer, so einer ... so wie Sie sind jetzt. Ruhig ...« Ssoloveitschik fragte es mit brennender Neugierde, in der Erregung verschlechterte sich sein Russisch immer mehr.

»Oh nein,« Ssanin schüttelte mit dem Kopf. »Allerdings, ich besaß immer viel Ruhe. Aber es waren doch Zeiten, wo ich die unterschiedlichsten Zweifel durchmachte. Es gab eine Zeit, wo ich im vollen Ernst von dem Ideal des christlichen Lebens träumte.« Ssanin schwieg nachdenklich, und Ssoloveitschik blickte mit ausgestrecktem Halse auf ihn, als wenn er von ihm etwas unbegreiflich Wichtiges erwartete.

»Einst hatte ich einen Freund, einen Studenten, einen Mathematiker ... Iwan Lande. Es war ein wunderbarer Mensch von unüberwindlicher Kraft, ein Christ nicht aus Prinzip, nein, einfach seiner Natur nach. In seinem Leben haben sich alle kritischen Elemente des Christentums widergespiegelt. .. Wenn man ihn schlug, verteidigte er sich nicht, er vergab seinen Feinden, ging zu jedem Menschen wie zu seinem Bruder hin, ... wer es tun kann, der tue es. Und da er es tun konnte, tat er es auch .. die Verneinung der Frau ... als eines Weibes ... Sie erinnern sich wohl an Semionow.«

Ssoloveitschik nickte ihm mit naiver Freude zu. Für ihn war es ungeheuer wichtig: In einer gewohnten Umgebung, zwischen Bekannten, erstand plötzlich vor seinen Augen ein Bild des wahren Christen, von dem er stets nur eine trübe Ahnung hatte, das ihn aber immer wieder anzog, wie ein Licht den Nachtfalter. Er entflammte ganz in Aufmerksamkeit und Erwartung.

»Nun also, Semionow ging es damals entsetzlich schlecht. Er lebte zu der Zeit in der Krim bei einem Schüler. Da ging er in dieser Einsamkeit einfach unter, war immer inmitten von Todesahnungen ... in düsterster Verzweiflung. Lande hatte davon erfahren und entschloß sich natürlich, die versinkende Seele retten zu gehen. Und er ist buchstäblich gegangen. Geld hatte er nicht. Borgen wollte ihm niemand, als einem an Gutmütigkeitsirrsinn Leidenden, und so ging er den Weg von 1000 Werst zu Fuß. Irgendwo unterwegs ist er denn auch zugrunde gegangen. Hat also auf seine Weise sein Leben für seine Mitmenschen hingegeben.«

Voller Begeisterung, ekstatisch mit den Augen blitzend, rief Ssoloveitschik: »Nun, werden Sie nicht anerkennen diesen Menschen?«

»Ueber ihn gab es seiner Zeit viel Streit,« erwiderte Ssanin nachdenklich. »Die einen hielten ihn nicht für einen echten Christ und wollten ihn aus diesem Grunde nicht anerkennen, die andern hielten ihn direkt für verrückt, so mit einer gewissen Mischung von Eigensinn. Wieder andere sprachen ihm alle Kraft ab, weil er nicht gekämpft, nicht gesiegt hatte, kein Prophet wurde, sondern nur allgemein Entfremden hervorrief. Nun, und ich sehe ihn wieder anders an. Damals war ich selbst noch von ihm bis zur Blödheit fasziniert. Es ging so weit, daß mir einmal ein Student eins in die Fresse schlug. Zuerst wurde alles in mir rasend ... Aber Lande war dabei. Er blickte mich ruhig an. Ich weiß nicht, was da in mir vorging ... Nun ... ich bin schweigend aufgestanden und fortgegangen. Und dann ... zuerst war ich darauf furchtbar stolz, übrigens man kann sagen, dummstolz, und zweitens habe ich auf diesen Studenten einen Haß von ganzer Seele bekommen. Nicht weil er mich geschlagen hatte, sondern einfach, weil meine Handlungsweise ihm sicher ein Vergnügen gemacht hatte wie kein zweites. Ganz zufällig bemerkte ich, in was für eine falsche Stellung ich mich selbst gebracht hatte, wurde nachdenklich, lief zwei Wochen lang wie wahnsinnig herum, und hörte am Ende auf, meinen blödsinnigen, moralischen Sieg als etwas Großartiges zu betrachten. Aber diesen Studenten habe ich dann bei seiner ersten selbstgefälligen, frechen Bemerkung bis zur Bewußtlosigkeit und mit köstlichem Genuß durchgeprügelt. Zwischen mir und Lande kam es zu innerer Entfremdung. Ich sah mir sein Leben genau an und sah ein, daß es ganz elend und armselig war ...«

»Oh, was sagen Sie da,« rief Ssoloveitschik, »können Sie sich denn vorstellen, wie er war reich an innere Erlebnisse?«

»Seine Erlebnisse waren eintönig, weiter nichts. Das ganze Glück seines Lebens bestand darin, widerspruchslos jedes Unglück aufzunehmen, und der Reichtum darin, daß er immer mehr und tiefer jedem Lebensreichtum entsagte. Das war ein Bettler aus freien Stücken und ein Phantast, der nur um deswillen lebte, was ihm garnicht bekannt war.«

»Sie wissen garnicht, wie Sie quälen mich.« Ssoloveitschik rief es plötzlich und rang die Hände.

»Aber was für ein hysterischer Kerl sind Sie, Ssoloveitschik,« bemerkte Ssanin verwundert. »Ich erzähle Ihnen doch garnichts Besonderes. Oder hat sich diese Frage in Ihnen mit sehr vielen Schmerzen eingefressen.«

»Sehr ... sehr ... ich denk und denk ... und mein Kopf tut mir weh. War denn das ein Irrtum ... Alles wirklich. Da sitz ich nun wie in ein dunkles Zimmer, und niemand kann mir sagen, was ich muß tun. Wozu lebt denn der Mensch. Sagen Sie es mir.«

»Wozu? Das ist niemandem bekannt.«

»Und es ist gar keine Möglichkeit, zu leben für die Zukunft, damit es soll wenigstens später einmal geben ein goldenes Zeitalter.«

»Niemals wird ein goldenes Zeitalter sein. Wenn sich Leben und Menschen sprungartig verbessern könnten, das wäre das goldene Zeitalter ... Aber das kann niemals eintreten ... Verbesserungen steigen auf unmerklichen Stufen heran. Der Mensch sieht nur die letzte und die folgende Stufe. Sie und ich leben jetzt nicht wie römische Sklaven oder wie Wilde in der Steinzeit. Daher empfinden wir gar nicht das Glück unserer Kultur. Auch der Mensch des goldenen Zeitalters wird keinen Unterschied mit dem Leben seines Vaters sehen, wie der Vater mit dem des Großvaters und so zurück. Der Mensch geht auf ewiger Bahn und eine Brücke zum Glück bauen wollen, das ist dasselbe, als wenn man zu einer unendlichen Zahl neue Einheiten addieren wollte.«

»Also ist alles leer ... Also, es gibt denn nichts?«

»Ich glaube nichts ...«

»Nun, und Ihr Lande ... Sie haben doch selbst ...«

»Ich liebte Lande ... Aber nicht, weil er so lebte ... Nein, nur weil er aufrichtig war und niemals auf seinem Wege stehen blieb, vor keinen Barrieren ... weder vor lächerlichen noch vor furchtbaren ... Für mich war Lande wertvoll an sich. Mit seinem Tode ist auch dieser Wert verschwunden.«

»Und Sie glauben denn nicht, daß solche Menschen veredeln das Leben. Bekommen sie doch Anhänger solche Menschen manchesmal ... wie ...«

»Wozu müßte es veredelt werden. Das erstens. Und zweitens kann man solchem Beispiel nicht folgen ... Ein Lande muß geboren werden ... Jesus war herrlich, die Christen armselig ... sie haben die erhabene, reine Idee zu einem toten Dogma herabgewürdigt.«

Ssanin wurde es müde, weiter zu sprechen; er schwieg still. Alles um sie schwieg ebenfalls. Und nur die hoch über ihnen schwebenden Sterne schienen ohne Ende ein lautloses Gespräch fortzuführen.

Plötzlich flüsterte Ssoloveitschik etwas und sein Flüstern war sonderbar und bange.

»Was,« fragte Ssanin erzitternd.

»Sie müssen mir sagen ... was denken Sie ... wenn ein Mensch nicht weiß, wohin zu gehen ... und immer denkt er, und immer nur denkt er, nur denkt und immer leidet, und alles ist ihm furchtbar und unbegreiflich. Vielleicht ist es für solch einen Menschen besser, überhaupt zu sterben.«

»Ja,« sagte Ssanin klar und stark; er begriff tief, was aus der jungen Seele Ssoloveitschiks unsichtbar zu ihm emporstieg. »Vielleicht ist es in einem solchen Fall besser, zu sterben. Leiden ist sinnlos, und ewig leben wird ja sowieso niemand. Zu leben lohnt es sich wirklich nur für einen Menschen, der in der Tatsache des Lebens selbst einen Genuß sieht. Wer aber nur leidet und leidet, dem ist es besser, zu sterben ...«

»Das hab ich mir auch gedacht,« rief Ssoloveitschik mit Nachdruck. Plötzlich klammerte er sich an Ssanins Hand. Es war ganz dunkel, das Gesicht Ssoloveitschiks schimmerte kaum merklich, fast bleich wie das einer Leiche, die Augen blickten aus schwarzen, leeren Höhlen hervor.

»Ja, Sie sind ein toter Mensch.« Ssanin erhob sich, in seiner Kehle steckte ein unwillkürliches Zittern. »Und für eine Leiche ist wohl wirklich ein Grab das beste ... Leben Sie wohl, Ssoloveitschik!«

Ssoloveitschik schien nichts mehr zu hören. Er saß unbeweglich wie ein schwarzer Schatten da, mit abgestorbenem Gesicht.

Ssanin wartete noch einen Augenblick schweigend, dann drehte er sich ebenso schweigend um und ging. An der Pforte hielt er noch einmal an und lauschte. Es war alles still; Ssoloveitschik war auf der Steintreppe kaum noch zu erkennen; er zerfloß fast im Dunkeln. Eine unangenehme, bohrende Ueberlegung kroch in Ssanins Herz.

... Ganz gleich, dachte er, ob so zu leben oder zu sterben ... Es wäre auch ohne dies gekommen ... wenn nicht heute, dann morgen ...

Er wendete sich rasch um, öffnete die knarrende Pforte und ging zur Straße hinaus. Auf dem Hof war es lautlos wie früher.

Als Ssanin auf den Boulevard kam, hörte er in der Ferne unruhige, sonderbare Laute. Jemand lief schnell durch das Dunkel der Nacht, mit lärmendem Fußscharren und klagte oder weinte beim Laufen vor sich hin.

Eine schwarze Gestalt tauchte auf und stürzte immer näher und näher auf ihn zu. Aus irgend einem Grunde wurde Ssanin wieder bange zu Mute.

»Was ist los?« fragte er laut.

Der Rennende hielt für einen Augenblick an, und Ssanin sah neben sich ein erschrockenes, dämliches Soldatengesicht.

»Was ist denn los? ...« schrie er aufgeregt.

Aber der Soldat murmelte nur etwas und lief weiter, scharrte wie vorher schwer mit seinen Füßen und klagte oder weinte.

Nacht und Stille verschlangen ihn wie ein Gespenst.

... Aber das ist ja der Bursche Sarudins, fiel es Ssanin ein. Plötzlich goß sich ein harter, glühender Gedanke scharf in seinem Kopf aus: Sarudin hat sich erschossen.

Eine leichte Kälte berührte seine Schläfe. Eine Minute lang starrte er schweigend in das trübe Gesicht der Nacht und zwischen dem Rätselhaften und Drohenden, das darin aufstand, und in dem starken Menschen schien ein kurzer, schweigender aber furchtbarer Kampf zu toben.

Die Stadt schlief, die Bürgersteige schimmerten weiß, die Bäume stachen schwarz dagegen ab; stumpf blickten die dunklen Fenster, sie bewahrten die behutsame Stille.

Mit einem Male ruckte Ssanin mit dem Kopf an, lächelte ernst und sah mit harten Augen vor sich hin.

... Ich trage keine Schuld daran, sagte er laut. Einer mehr oder weniger ...

Und als grauer Schatten durch die Dunkelheit schimmernd schritt er vorwärts.


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