M. Artzibaschew
Ssanin
M. Artzibaschew

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XXVIII

Am Tage darauf rannte Dunja barfuß und bloßköpfig, in ihren dummen Augen den Ausdruck erstarrten Schreckens, auf Ssanin zu, als er auf einem Gartenwege das Unkraut ausjätete, und schrie ihm eine Phrase ins Ohr, die ihr offenbar eingetrichtert worden war:

»Wladimir Petrowitsch, die Herren Offiziere wünschen Sie zu sprechen –«

Ssanin war nicht verwundert; er hatte erwartet, daß ihm Sarudin eine Forderung schicken würde.

»Wünschen sie es sehr?« fragte er scherzhaft.

Aber Dunja schien etwas Furchtbares zu ahnen; sie bedeckte sich nicht, wie gewöhnlich, das Gesicht mit dem Aermel, sondern sah ihm gerade voll hilfloser Teilnahme ins Gesicht.

Ssanin lehnte den Spaten an einen Baum, schnallte den Gürtel ab, band ihn wieder fester um, und ging, sich nach seiner Manier ein wenig in den Hüften wiegend, ins Haus.

... Das sind aber dumme Jungens. Das sind Idioten! dachte er ärgerlich über Sarudin und seine Zeugen, wollte sie aber dadurch nicht einmal in Gedanken beleidigen; er gab damit nur seiner aufrichtigen Meinung Ausdruck.

Als er durch das Haus ging, trat Lyda aus der Tür ihres Zimmers und blieb an der Schwelle stehen. Ihr Gesicht war gespannt und blaß; in ihrem Blick lag Schmerz. Sie bewegte die Lippen, sagte aber nichts. In diesem Augenblick hielt sie sich für das unglücklichste und verbrecherischste Geschöpf in der Welt.

Im Gastzimmer saß Maria Iwanowna hilflos im Fauteuil. Auch sie machte ein ängstliches, unglückliches Gesicht, und die einem Hühnerlappen ähnliche Haube hing ratlos auf der einen Seite hinab. Sie sah Ssanin mit ebensolchen bittenden Augen an, bewegte ebenfalls die Lippen und schwieg, wie Lyda.

Ssanin warf ihr einen lächelnden Blick zu, wollte stehen bleiben, kam aber gleich davon ab und ging weiter.

Im Saal saßen, auf den Stühlen, die der Tür am nächsten standen, Tanarow und von Deutz. Sie saßen nicht wie gewöhnlich, sondern stramm aufgerichtet und die Beine nebeneinandergestellt, als ob sie sich in ihren weißen Kitteln und den engen blauen Reithosen furchtbar unbequem fühlten. Bei Ssanins Eintritt erhoben sie sich langsam und unschlüssig; sie wußten augenscheinlich nicht, wie sie sich weiter zu benehmen hätten.

»Guten Tag, meine Herren,« sagte Ssanin laut, auf sie zukommend, und reichte ihnen die Hand.

Von Deutz war einen Augenblick verlegen, aber Tanarow verneigte sich beim Händedruck übertrieben rasch und tief, sodaß Ssanin eine Weile seinen Nacken mit dem kurzgeschnittenen Haar vor den Augen hatte. »Nun, was wollen Sie mir Schönes erzählen?« fragte Ssanin. Er merkte die zuvorkommende Höflichkeit Tanarows und wunderte sich, wie gewandt und sicher der Offizier die Dummheit der verlogenen Zeremonie durchmachte.

Von Deutz richtete sich auf und wollte seinem langen Gesicht einen kühlen Ausdruck geben, erzielte aber nur einige verlegene Mienen. Es berührte eigentümlich, daß der sonst so schweigsame und schüchterne Tanarow sofort das Wort ergriff.

»Unser Freund, Viktor Sergejewitsch Sarudin, gab uns die Ehre, in seinem Namen mit Ihnen Rücksprache zu nehmen,« deutlich und kühl, wie von einem in Bewegung gesetzten Apparat, kamen die Worte aus Tanarows Mund.

»Aha!« versetzte Ssanin mit geöffnetem Mund und komischer Feierlichkeit. »Das ist aber nett von Ihnen.«

»Jawohl,« fuhr Tanarow mit zusammengezogenen Augenbrauen beharrlich und fest fort, »er glaubt, Grund zu der Annahme zu haben, daß Ihr Benehmen ihm gegenüber nicht ganz ...«

»Ja gewiß ... ich verstehe schon ...« fiel Ssanin, der die Geduld verlor, ein. »Ich habe ihn fast die Treppe hinuntergeworfen ... Was kann da schon nicht ganz erklärlich sein!«

Tanarow gab sich Mühe, ihn zu verstehen; es gelang ihm aber nicht und so fuhr er fort:

»Jawohl ... Er verlangt nun, daß Sie Ihre Worte zurücknehmen.«

»Ja, ganz recht ...« Auch der lange von Deutz hielt es für nötig einzugreifen und trat wie ein Storch von einem Bein aufs andere.

»Wie könnte ich sie denn zurücknehmen? Ein Wort ist doch kein Sperling, fliegt es heraus, so kann man es nicht wieder einfangen,« erwiderte Ssanin, allein mit den Augen lachend.

Tanarow schwieg eine Weile und blickte Ssanin ratlos an.

... Mein Gott, was für wütende Blicke der mir zuschmeißt, dachte Ssanin.

»Wir sind hier nicht um zu scherzen ...« brach Tanarow, der mit einem Male zu begreifen anfing und sofort puterrot wurde, zornig los:

»Wollen Sie Ihre Worte zurücknehmen oder nicht?«

Ssanin schwieg. ... Wirklich ein kompletter Trottel! dachte er fast bedauernd und nahm sich einen Stuhl.

»Ich würde vielleicht meine Worte zurücknehmen, um Sarudin ein Vergnügen zu machen und ihn zu beruhigen,« sprach er ernst; »umsomehr, als das für mich absolut nichts bedeuten würde. Aber erstens ist Sarudin dumm und wird es nicht so auffassen, wie er müßte. Statt sich zu beruhigen, wird er daran seine Freude haben, – und dann, zweitens, gefällt mir Sarudin absolut nicht. Unter diesen Umständen lohnt es sich auch nicht, die Worte zurückzunehmen ...«

Tanarow zischte schadenfroh durch die Zähne: »So ...«

Von Deutz blickte ihn erschrocken an, und die letzten Farben verschwanden aus seinem Gesicht; er wurde gelb und hölzern. »In diesem Falle ...« Tanarow erhob die Stimme und gab ihr einen drohenden Unterklang.

Ssanin sah mit plötzlich aufkommendem Widerwillen seine schmale Stirn und engen Reithosen an; er ließ ihn gar nicht zu Ende sprechen.

»Und so weiter und so weiter. Das kenne ich alles. Aber mit Sarudin werde ich mich nicht schlagen.«

Von Deutz wendete sich rasch um; Tanarow richtete sich auf und fragte mit einer verachtungsvollen Miene, scharf jede Silbe ausprägend:

»Aus welchen Gründen?«

Ssanin lächelte, und sein Widerwille verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war.

»Ganz einfach. Erstens, weil ich keinen Wunsch habe, Sarudin zu töten, zweitens und wohl hauptsächlich, weil ich selbst nicht wünsche, von ihm getötet zu werden.«

»Aber ...« begann Tanarow mit einer verzerrten Miene.

»Ich will nicht – und damit fertig!« Ssanin stand auf. »Soll ich Ihnen etwa noch auseinandersetzen, warum? ... Fällt mir gar nicht ein! Ich tue es nicht ... Ich sage es, das genügt!«

Die tiefe Verachtung auf einen Menschen, der eine Forderung nicht annimmt, verband sich in Tanarow mit der unverrückbaren Ueberzeugung, daß auch kein Zivilist die Tapferkeit und Aufopferung besitzen könne, sich zu schlagen. Daher war er nicht im geringsten verwundert, – vielmehr freute ihn die Weigerung beinahe.

»Das ist schon Ihre Sache,« sagte er, ohne aus seiner Verachtung ein Hehl zu machen. »Aber ich muß Sie in diesem Falle davon in Kenntnis setzen –«

»Auch das kenne ich,« lächelte Ssanin, »aber davon möchte ich Sarudin geradezu abraten ...«

»Wie?« Tanarow lächelte ebenfalls, während er die Mütze vom Fensterbrett nahm.

»Ich rate ihm, mich nicht anzufassen, sonst prügle ich ihn so durch, daß ...«

»Hören Sie mal!« Von Deutz brauste plötzlich auf, »ich kann es nicht erlauben ... Sie höhnen geradezu ... Und begreifen Sie denn wirklich nicht, daß eine Forderung ablehnen, – das ist ... das ist ...«

Er bekam einen ziegelroten Kopf, die trüben Augen sprangen aus den Höhlen, und auf den Lippen entstand ein kleines Strudelchen aus Speichel.

Ssanin sah ihm mit Neugierde auf die Lippen und sagte:

»Und dieser Mensch hält sich noch für einen Anhänger Tolstois!«

Von Deutz hob den Kopf hoch und zitterte.

»Ich möchte Sie bitten!« rief er schrill, aber doch beschämt, daß er einen guten Bekannten, mit dem er erst kurz vorher über viele wichtige und interessante Gegenstände gesprochen hatte, anbrüllen mußte. »Ich möchte Sie bitten, derartige Bemerkungen zu unterlassen. Sie gehören nicht zur Sache!«

»Im Gegenteil!« erwiderte Ssanin. »Sogar recht sehr!«

»Aber ich bitte Sie ...« schrie hysterisch von Deutz, den Speichel um sich spritzend, »das ist ganz ... mit einem Worte ...«

»Nun genug doch!« sagte Ssanin ungehalten, indem er dem Speichelregen auswich. »Denken Sie darüber, wie Sie wollen, und Sarudin können Sie bestellen, daß er ein Dummkopf ist.«

»Sie haben kein Recht!« heulte von Deutz mit verzweifelter Stimme.

»Sehr schön, sehr schön,« wiederholte Tanarow vergnügt. »Gehen wir!«

»Nein,« schrie von Deutz immer noch in demselben weinerlichen Ton und fuchtelte mit seinen langen Armen wie toll in der Luft umher: »wie untersteht er sich ... das ist geradezu ... unerhört ist das! ...«

Ssanin sah ihn an, machte eine wegwerfende Handbewegung und ging aus dem Zimmer.

»Wir werden alles wortgetreu unserem Freunde mitteilen,« rief ihm Tanarow nach.

»Schön, teilen Sie es ihm nur mit!« antwortete er, ohne sich umzudrehen, und schloß die Tür hinter sich.

» – – – Welch Esel ist dieser Offizier im Grunde, und doch, – – es genügt, daß er sich diese Marotte ummantelt, und er wird reserviert und ganz gescheit!« dachte Ssanin, als er hörte, wie Tanarow den schreienden von Deutz beruhigte.

»Nein, das kann man nicht so ohne weiteres hingehen lassen!« erklärte der lange Offizier aufgeregt. Er sah traurig ein, daß er durch dieses Vorkommnis einen interessanten Bekannten verloren hatte und, da er nicht wußte, wie es zu ändern wäre, erbitterte er sich noch mehr und verdarb die Sache augenscheinlich nur um so gründlicher.

»Wolodja,« rief Lyda leise in der Tür ihres Zimmers.

»Was?« Ssanin blieb stehen.

»Komm her ... ich brauche dich.«

Ssanin trat in ihr kleines Zimmer ein, in dem es dunkel war und grün von Bäumen, die das Fenster verstellten, und wo es nach Parfüms, Puder und jungen Mädchen roch.

»Wie schön es hier bei dir ist!« sagte er mit tiefem Seufzer der Erleichterung.

Lyda stand mit dem Gesicht dem Fenster zugewandt; auf ihren Schultern und Wangen lag weich und schön das grüne Lichtgemenge, das vom Garten her hineingeworfen wurde.

»Nun, was wolltest du?« fragte Ssanin zart. Lyda schwieg und atmete häufig und schwer.

»Was hast du?«

»Du wirst nicht ... das Duell ... ?« fragte Lyda mit gepreßter Stimme, ohne sich umzudrehen.

»Nein,« antwortete Ssanin kurz.

Lyda schwieg.

»Nun, was weiter?«

Ihr Kinn zitterte. Sie wendete sich plötzlich zu ihm und sprach mit erstickter Stimme, schnell und zusammenhanglos.

»Das ... das kann ich nicht begreifen ...«

»Ah,« erwiderte der Bruder mit einer ärgerlichen Grimasse, »tut mir aufrichtig leid, daß du es nicht begreifst!«

Die niederträchtige, stumpfsinnige Dummheit der Menschen, die von allen, von Schlechten und Guten, von Schönen und Häßlichen, gleich ausgestrahlt wird, ermüdete ihn. Er drehte sich um und ging hinaus.

Lyda sah ihm nach. Plötzlich faßte sie sich mit beiden Händen an den Kopf und stürzte aufs Bett. Der lange dunkle Zopf löste sich schön wie ein weicher molliger Schweif auf der weißen Decke. In diesem Augenblick war Lyda so kraftvoll schön und geschmeidig, daß sie trotz ihrer Verzweiflung und Tränen wunderbar lebendig und jung aussah. Durch das Fenster blickte der vom Sonnenlicht durchsättigte grüne Garten herein; das ganze Zimmer strahlte freudig und hell; – – – Lyda sah nichts.


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