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Die Geschichte von den Hundert-Rubelnoten

Von W. Ch. Murray

Es war am 4. Dezember des Jahres, welches der Zeit vorausging, in der diese Erzählung spielt, als London durch einen Mord in Harley Street aufgeschreckt wurde. Die näheren Umstände, welche wahrscheinlich noch im Gedächtnis vieler Tausende haften geblieben sind, mögen hier kurz noch einmal rekapituliert werden. Ein Konstabler auf seiner Runde begegnete um etwa drei Uhr morgens zwei feingekleideten Herren, die sich aufgeregt miteinander in einer fremden Sprache unterhielten. Zehn Minuten später fand der Konstabler den einen von diesen beiden tot im Schnee liegen. Er war, durch das Herz gestochen, ohne einen Laut niedergesunken. Während er da lag, war ihm ein zweiter Stich versetzt worden, und der verhängnisvolle Dolch stak in dieser zweiten Wunde. Das Seltsame an der Geschichte war, daß der Dolch eine russische Hundert-Rubelbanknote durchbohrt hatte, und daß bei sorgfältiger Untersuchung derselben durch einen Sachverständigen dieselbe sich als eine gefälschte erwies. Die Nachahmung des Papiers sowohl wie der Zeichnung war so geschickt und genau, daß vierzehn Tage verstrichen, bevor man überhaupt diese Entdeckung machte. Keine Spur von dem Verbrecher wurde gefunden, obgleich man die Fußspuren eine weite Strecke in dem frisch gefallenen Schnee verfolgen konnte. Schließlich verloren sie sich aber unter den unzähligen anderen in einer verkehrsreichen Straße, und als die Geheimpolizei den Fall vierzehn Tage in Händen gehabt hatte, wurde öffentlich bekanntgemacht, daß sie auf ganz falscher Fährte gewesen sei, und man konnte sich nicht einmal damit rühmen, den Ariadnefaden gefunden zu haben, mit dessen Hilfe man eventuell der Lösung näher kommen konnte.

Am Ende dieser vierzehn Tage wurde London von neuem aufgeschreckt. Der Leichnam eines fein gekleideten, gut gebauten und wohlgenährten Mannes wurde auf dem Dache eines Hauses in Fitzroy Street gefunden. Es hatte lange und andauernd gefroren, dem Frost folgte ein starkes Tauwetter und der Besitzer des Hauses, in dem der Leichnam gefunden worden war, hatte zu seinem Schrecken entdeckt, daß das Wasserrohr auf dem Dache leck geworden war. Er hatte einen Mann durch das Bodenfenster geschickt, um dem Schaden abzuhelfen, und der Arbeiter war bleich und verstört mit der Nachricht zurückgekommen, daß die Leiche eines Mannes unmittelbar unter dem Giebel liege und daß das Überfließen des Wassers dadurch hervorgerufen wäre, daß eine im tauenden Schnee gefüllte Pelzkappe in die Öffnung des nach unten führenden Rohres gefallen sei und so das Ablaufen des Wassers verhinderte. Natürlich rief man sofort die Polizei herbei. Der Leichnam wurde zur nächsten Polizeiwache gebracht, einer genauen Untersuchung unterzogen, und es stellte sich heraus, daß nichts an ihm entdeckt werden konnte, das auch nur den leisesten Anhalt zur Identifizierung des Toten bot. Die Ansicht der zwei oder drei medizinischen Sachverständigen, die herangezogen wurden, ging dahin, daß der Tote den Witterungsverhältnissen erlegen, d. h. also erfroren sei; aber man konnte nicht ausfindig machen, was ihn in eine so seltsame Situation gebracht haben könnte. Er hatte zwischen zwanzig und dreißig Pfund Sterling in englischem Gelde bei sich; er trug einen wertvollen Seehundpelz, und alles sprach dafür, daß er in vollständig guten Umständen sich befunden hatte. Man würde diese beiden Todesfälle kaum in Zusammenhang gebracht haben, wenn sich nicht ein auffallendes Faktum herausgestellt hätte. In einer Brieftasche in der Brusttasche des Pelzes fand man ein Päckchen von Banknoten, Hundert-Rubelnoten, bei deren Untersuchung man entdeckte, daß sie von derselben Platte und auf demselben Papier gedruckt waren, wie jene Banknote, die durch den Dolch auf die Brust des vor vierzehn Tagen in Harley Street ermordeten Mannes geheftet war. Alle Welt sprach über den Fall, und für einige Tage bildete er das einzige Gesprächsthema von ganz London. Pym und ich diskutierten häufig darüber, konnten aber, wie alle anderen, zu nichts kommen. Freund Macquarrie war Distriktsarzt für den Bezirk, in dem der zweite Mann gefunden wurde, und bei einem seiner Besuche, die er mir von Zeit zu Zeit machte, erzählte er mir etwas früher als die Welt es erfuhr, was man herausgebracht hatte. Der Mann, dessen Leiche auf dem Dache gefunden wurde, war ein gewisser Alexis Demitroff. Es war ein russischer Verbannter, der vor drei oder vier Wochen von Paris nach London übergesiedelt war. Er war eine einflußreiche Persönlichkeit unter den Anarchisten von Europa und es ruhte der Verdacht auf ihm, daß er mehr als einen Mordversuch gegen den Zaren unternommen habe.

Diese Ereignisse fanden nur wenige Monate später statt, nachdem man unseren großen jüdischen Staatsmann Disraëli-Beaconsfield gründlich verspottet hatte, weil er erklärte, daß ganz Europa von geheimen Gesellschaften wie mit einem Netz überzogen sei, und Leute, die etwas mehr nachdachten, begannen die zahlreichen Anzeichen wahrzunehmen, die diese Zeit ihnen zugunsten der Voraussagung Disraëlis bot.

Natürlich gehörte es zu meinem Beruf, über dies doppelte Geheimnis einen Leitartikel zu schreiben, und da ich absolut im Dunkeln tappte, konnte ich nicht mehr tun, als jeder einigermaßen intelligente Mensch bei näherer Betrachtung dieser beiden Fälle getan hätte. Ich legte Nachdruck auf die Übereinstimmung der gefälschten Banknoten, die man an der Brust des ermordeten Mannes gefunden hatte, und ihrer Schwestern in der Brieftasche jenes, den der Tod auf dem Dache ereilt hatte. Ich schloß von diesem Faktum auf einen möglichen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen und war im übrigen zufrieden, nolens volens das Geheimnis ungelöst zu lassen. Pym und ich sprachen noch einige Male eingehend über die Sache, kamen aber zu keinem Resultat; aber plötzlich und ohne daß er ein Wort hatte davon verlauten lassen, fand ich meinen Freund ausgeflogen und sah während einer ganzen Woche nichts von ihm.

Als er zurückkehrte, ließ er ganz beiläufig fallen, daß er in Paris gewesen sei; da er aber nicht aufgelegt zu sein schien, mir irgend etwas darüber zu erzählen, was ihn dorthin geführt habe, unterließ ich natürlich, ihn nach weiterem zu fragen. Wir nahmen unseren Verkehr in alter Weise wieder auf und sahen uns bald in seinem, bald in meinem Zimmer, so oft es uns gefiel.

Eines Nachmittags spät, als die Winterdämmerung schon alles verdunkelte und ich gerade mein Pensum für den Tag beendigt hatte, hörte ich Pyms Fußtritte über mir und ging hinauf, um etwas mit ihm zu plaudern. Als ich in sein Wohnzimmer trat, hörte ich, wie er sich an seiner Waschtoilette im nächsten Zimmer wusch und konnte deutlich das Spritzen des Wassers hören. Er fragte, wer da sei, ich antwortete ihm, und er rief mir zu, daß ich mich eine Minute gedulden möchte. Mein Auge fiel auf eine ungewöhnlich kecke und geschickte Federzeichnung, die auf einem Blatt weißen Löschpapiers mit einem Federkiel entworfen war; und als Pym ins Zimmer trat, hatte ich sie in meiner Hand und prüfte sie mit einigem Interesse.

»Oh,« sagte er nachlässig, indem er mir die Zeichnung aus der Hand nahm. »Ich habe dir nichts hiervon erzählt, es steht kein Name darauf, aber es ist eine Skizze von Grevin. Ich traf ihn ganz zufällig. Er machte diese Skizze in meiner Gegenwart, und ich bat ihn, sie mir zu geben. Sehr lebenswahr, nicht wahr?«

»Ganz gewiß,« antwortete ich, »ist es ein Porträt oder nichts?«

»Eine Porträtskizze nach dem Gedächtnis gezeichnet,« antwortete Pym. »Er hatte den Mann zufällig, vor einer Woche ungefähr, gesehen, und man bat ihn, ihn zu beschreiben. Er lachte und meinte, eine Skizze sei besser als jegliche Beschreibung, und er entwarf sie im Handumdrehen. Ich sah niemals in meinem Leben etwas so Gewandtes und Schnelles – es war wirklich zum Staunen. Hätte ich gewußt, wer der Künstler war, würde ich ihn gebeten haben, seine Initialen darunter zu setzen, aber ich erfuhr seinen Namen erst, als er schon fort war.«

Pym schien mir ungewöhnlich stolz auf dies kleine Andenken des großen französischen Karikaturenzeichners; während der ganzen Zeit, die ich in seinem Zimmer blieb, spielte er mit der Zeichnung und betrachtete sie von Zeit zu Zeit mit dem Ausdruck des Wohlgefallens darüber, daß er der glückliche Besitzer sei.

Kurz darauf begann für ihn eine sehr beschäftigte Zeit. Er blieb ganze Nächte aus und schlief während des größten Teiles der kurzen Wintertage; so kam es, daß wir nur sehr wenig voneinander sahen.

Eine volle Woche war so verstrichen, als er, während ich gerade mein Frühstück beendigte, hastig in mein Arbeitszimmer trat und mich bat, ob ich ihm sofort auf der Stelle einen Gefallen tun könnte.

»Verstehst du etwas von der Praxis des Druckens?« fragte er mich. »Könntest du z. B. dein Brot – so mager es auch sein möchte – als Setzer verdienen?«

Ich sagte ihm, daß ich glaubte, in der Theorie alles zu wissen, was zu eines Setzers Arbeit gehöre, aber daß ich nie irgendwelche praktische Übung darin gehabt habe.

»Würdest du imstande sein,« fragte er, »wenn man dich daran brächte, die Lettern aufzusetzen und abzulegen – ganz gleich wie langsam und ungeschickt auch immer? Hast du die nötigen technischen Kenntnisse, um so viel zustande zu bringen?«

»Ja,« sagte ich, »ich kenne die verschiedenen Fächer des Setzkastens, wenn es das ist, was du meinst.«

»Ich denke, ja,« sagte Pym, »das ist es, was ich meine. Kannst du dich hinsetzen, einen Setzkasten zeichnen und mir die Lage der verschiedenen Lettern und Zeichen markieren?«

Ich glaubte, ich würde imstande sein, dies zu tun; aber als ich mich seiner Bitte zufolge hinsetzte und die einfache Aufgabe versuchte, merkte ich, daß ich doch unsicher und verwirrt war.

»Das geht so nicht,« sagte Pym, nachdem ich unschlüssig eine Viertelstunde hin und her versucht hatte. »Kannst du mich zu eurer Druckerei nehmen und mich einem darin erfahrenen Manne vorstellen? Ich will dem Manne seine Zeit und Mühe bezahlen; es ist eine Sache, die ich gerade jetzt verstehen möchte.«

Ich erfüllte seinen Wunsch später im Laufe des Nachmittags, als die Leute dabei waren, ihre Kästen zu füllen. Ich stellte ihn dem Werkmeister vor, einem höflichen und intelligenten Manne, den ich seit Jahren kannte und der nur Pyms Namen zu hören brauchte, um ihm mit größtem Vergnügen alles zu zeigen, was er wissen wollte. Selten habe ich jemand eine Sache so schnell lernen sehen, als Pym sich dies bißchen praktisches Wissen aneignete. Sein Lehrmeister erklärte ihm zuerst den Kasten bis in die kleinsten Details.

»Jetzt«, sagte Pym, »muß ich einmal sehen, was ich schon weiß.« Er machte etwa ein Dutzend Fehler beim ersten Versuch, aber schon beim zweiten war er vollständig eingeschult. Er wiederholte seine Lektion drei- oder viermal, um ganz sicher zu gehen, dann drückte er dem alten Mann ein Goldstück in die Hand und ging.

Wir fuhren zusammen zu uns zurück, und dort entwarf er auf einem Stück Papier ein Muster von einem solchen Kasten und markierte die Lage eines jeden einzelnen Zeichens. Er verfolgte diesen seinen plötzlichen Einfall mit derselben Ernsthaftigkeit, die sein ganzes Vorgehen, worin es auch immer bestand, charakterisierte; nach beendeter Lektion faltete er das Papier zusammen, warf es ins Feuer, und auf ein ganz anderes Thema überspringend, erzählte er nur von seinen Erlebnissen in Paris und hauptsächlich davon, daß es ihm gelungen sei, die Bekanntschaft eines Herrn Vergueil zu machen, eines französischen Detektivs, dessen Tätigkeit er hauptsächlich im Falle Gilead Gilfoil bewundert hatte. Er erzählte mir die ganze Geschichte, deren Einzelheiten ich schon halb vergessen hatte, da er sie aus Monsieur Vergueils eigenem Munde gehört hatte, und konstatierte eine besonders charakteristische Art von Bescheidenheit bei diesem scharfsinnigen Detektiv.

Monsieur Vergueil erklärte seine Erfolge auf seinem Gebiete einfach damit, daß er mehr Glück gehabt habe als die anderen. Er behauptete oder gab wenigstens als seine Ansicht vor, daß er nichts seinem eigenen Scharfsinn verdanke, sondern erklärte, daß er niemals auch nur den geringsten Erfolg gehabt haben würde, hätte ihn nicht das Glück vor allen seinen Berufsgenossen am meisten bevorzugt.

»Das sind alles Flausen von dem guten Herrn,« sagte Pym, »obgleich sicherlich ein jeder hier und da einmal etwas Glück hat.« Als er dies sagte, blätterte er zwischen einem Stoß von zerknitterten Papieren auf seinem Schreibtisch und zog die Skizze hervor, von der ich bereits gesprochen habe.

»Das ist zum Beispiel ein bißchen Glück,« sagte er und legte sie fort in seinen Schreibtisch mit einem etwas verwirrten Lächeln.

Wir dinierten an jenem Abend in einem unserer Lieblingslokale, und obgleich das Wetter milder war als im ganzen vergangenen Monat, bestand Pym trotz meiner Vorstellungen darauf, einen sehr schweren Pelzmantel anzuziehen. Er war sehr angeregt während des ganzen Essens und ging um neun Uhr ungefähr in außergewöhnlich guter Laune fort.

Ich sah und hörte nichts von ihm fast eine Woche lang; am Ende derselben traf ich ihn auf der Treppe. Er sah gräßlich aus, unrasiert, und sein Anzug, sonst gewöhnlich sehr nett und adrett für einen Bücherwurm und Mann der Wissenschaft wie er, war auffällig unordentlich. Sein feiner Überzieher war unwiederbringlich verdorben; er war über und über mit Flecken bedeckt, als ob sein Besitzer unter freiem Himmel geschlafen habe; und als ich ihn mit der Hand berührte, fand ich, daß zum mindesten der größte Teil desselben vollständig durchnäßt war.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte ich; aber er schob mich beiseite.

»Laß mich für den Augenblick in Frieden, Ned, ich bin todmüde, ich brauche notwendig einige Stunden Schlaf.« Er schlüpfte fort, bevor ich eine weitere Frage stellen konnte; ich hörte ihn sein Zimmer aufschließen und hinter sich verriegeln.

Der Wink war allerdings deutlich genug und ich ließ meinen Freund allein; aber natürlich dachte ich im Innern viel darüber nach, was es wohl gewesen sein konnte, das ihn so lange ferngehalten und ihn in eine so merkwürdige Verfassung gebracht hatte. Ich versuchte recht oft während der nächsten Woche, den Schlüssel zu dem Geheimnis zu finden, aber vergeblich; schließlich geruhte Pym mich etwas aufzuklären.

Ich erhielt einige Zeilen von ihm, datiert von einem Hause in Fitzroy Street, in denen er mich aufforderte, ihn dort aufzusuchen und nach Mr. Smith zu fragen. Acht Uhr war die angesetzte Zeit, und ich machte mich in einem dichten Staubregen auf den Weg. Was vom Himmel heute kam, war ein Gemisch von feinem Regen und Schnee; es fror, sobald es die Erde berührte, und machte die Straßen vollständig unpassierbar für Pferde und kaum benutzbar für Fußgänger. Ich stolperte wohl ein dutzendmal, bevor ich die angegebene Adresse erreichte, und eine Seite meines Mantels war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, als ich an die Haustür klopfte.

Ein strammes Mädchen machte mir auf; als ich aber nach Mr. Smith fragte, wurde sie plötzlich auffallend kühl und sagte: »Vierter Stock – Dachstube – Sie können es nicht verfehlen – es ist Licht auf dem ganzen Weg.« Damit überließ sie mich mir selbst und ich stieg die hohen steilen Treppen hinauf, die mir schier unendlich erschienen. Schließlich kam ich oben an, Pym öffnete eine kleine versteckte Tür und winkte mich mit einer Bewegung des Kopfes hinein.

Ich trat in eine gewöhnliche kleine Dachstube mit einem Dachfenster und einer schrägen Decke; in dem kleinen Kamin glühte so viel Feuer, als er nur halten konnte, aber die Luft war trotzdem eisig kalt und die Stube für diese Jahreszeit viel zu reichlich ventiliert. Pym trug einen Überzieher und eine wollene Reisemütze; er nahm seinen Sitz, den er gerade verlassen hatte, um mich zu empfangen, wieder ein, deckte eine Pelzreisedecke über seine Beine und streckte dann seine Hände mit einem konvulsivischen Zittern gegen das magere Feuer aus. Zwei Lichter standen auf dem Kaminsims und bei ihrem Schein sah der Mann förmlich geisterhaft aus. Er hatte sich eine sehr heftige Erkältung zugezogen, so daß er nur undeutlich zu sprechen vermochte.

»Beunruhige dich nicht um mich,« sagte Pym als Antwort auf meinen verwunderten Blick und fuhr fort, um es kurz zu machen, es fehle ihm nichts, er wäre nur sehr stark erkältet und hätte mich gebeten, zu ihm zu kommen und ihm einen Rat zu geben und, wenn möglich, ihm zu helfen.

»Was hast du nur angestellt?« fragte ich, und Pym antwortete sehr ruhig nach einer kurzen Pause: »Ich glaube kaum, daß ich dies Spiel noch sehr viel länger fortsetzen kann, aber was ich auch immer tue, ich darf diese Nacht nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Du bist ein alter Kriegskamerad von mir, Ned, und es wird dir nicht darauf ankommen, einmal an meiner Stelle Posten zu stehen. Du sollst ein warmes Abendbrot haben, wenn du zurückkommst, und ich will dafür sorgen, daß das Zimmer so warm wie ein Backofen sein soll.«

Das waren alles Rätsel für mich, aber ich hatte mich allmählich an seine geheimnisvollen Andeutungen gewöhnt, und ich wußte, daß man nichts weiter tun konnte, als abwarten, bis er selbst die Zeit zu einer Erklärung gekommen glaubte; denn durch weitere Fragen würde ich nur vollständige Schweigsamkeit von seiner Seite heraufbeschworen haben.

Ich nahm eine Zigarre aus der Kiste, die er ohne ein Wort mir hinreichte, und wartete auf das, was er mir zu sagen hatte, mit dem gelassensten Gesicht, das ich zu machen imstande war.

»Du erinnerst dich«, begann er ganz allmählich, »des Mordes in der Harley Street?«

Ich nickte zustimmend.

»Du erinnerst dich des Mannes, der auf dem Dache des Nebenhauses hier erfroren war?«

Ich nickte wieder.

»Beinahe wäre es mir auch gegangen wie diesem armen Teufel. Jede Nacht während der ganzen letzten vierzehn Tage bin ich auf demselben Platze gewesen,« sagte Pym.

»Du glaubst also ebenfalls an den Zusammenhang zwischen diesen beiden Fällen, wie ich es tue?« fragte ich ihn.

»Nein,« sagte Pym, »nicht in der Art, wie du sie in Zusammenhang bringst. Aber trotzdem glaube ich ganz fest an einen Zusammenhang zwischen beiden.«

Kein Mensch ist ganz erhaben über die Versuchungen der Eitelkeit, und John Pym war sich sicherlich seiner eigenen Fähigkeiten auf dem neuen Gebiete, auf das er sich seit so kurzer Zeit geworfen hatte, voll und ganz bewußt, obgleich ich ihn seit Jahren als den gelehrtesten und dabei doch bescheidensten Mann von London kannte; aber in seiner neuen Beschäftigung, die er aus eigener Initiative in diesen letzten Monaten unternommen hatte, hatte er noch nicht ganz heimisch werden können, und er war so eitel auf seinen eigenen Scharfsinn und sein gutes Glück wie ein Pfau oder ein Schuljunge.

»Ich ging nach Paris, wie du dich erinnern wirst,« sagte Pym, indem er auf dem Mundstück seiner unangezündeten Pfeife kaute und vor Kälte zitterte. »Auf der Brust des Mannes, der in der Harley Street gefunden wurde, fand man eine Hundert-Rubelbanknote, die sich als eine Fälschung herausstellte; in der Brusttasche des Mannes, der auf dem Dache des Nebenhauses hier gefunden wurde, befand sich ein Paket von gefälschten Hundert-Rubelbanknoten.

Ich durchstreifte London für eine ganze Woche und durchsuchte jede Wechselstube, aber vergeblich. Nicht eine einzige dieser Noten war in London gewechselt worden, soweit ich es herausbringen konnte. Ich hatte keine Zeit, weiter als bis Paris zu gehen, aber dorthin reiste ich wenigstens; und da fand ich einen Geldwechsler in einer abgelegenen Straße, den man damit angeschmiert hatte. Er hatte ein Paket von denselben Banknoten für etwas über dreitausend Frank eingewechselt, und erst durch meine Frage wurde er veranlaßt, dieselben näher zu prüfen, und dabei erst fand er heraus, daß man ein falsches Spiel mit ihm getrieben hatte. Er übergab die Sache sofort der Polizei und diese lenkte ihren Verdacht auf einen ganz bekannten Pariser Gauner, der den Namen Pierre France trägt, als den vermutlich Schuldigen. Und nun hatte ich einmal einen kleinen Teil von Mr. Vergueils Glück. Der König aller französischen Karikaturenzeichner wechselte gerade eine Handvoll englischer Banknoten gegen französisches Gold ein, als Mr. Pierre France seine russischen Noten präsentierte, und infolge eines doppelten glücklichen Zufalls war er zufällig gerade zu der Zeit wieder in der Wechselstube, als ich meine Nachforschungen über den Mann machte. Er hatte ihn nur einen Augenblick beobachtet, aber als man ihm klar machte, weshalb man gern einige Einzelheiten über den Mann wissen möchte, entwarf er mir diese Skizze von ihm. Die Pariser Polizei kannte den Mann und ließ ihn stets beobachten – nicht als Fälscher, sondern als Nihilisten. In Paris herrschte, wenn man auch keine Beweise hatte, die allgemeine Ansicht, daß er nach London gegangen wäre, und nachdem ich ihn einige Tage vergeblich gesucht hatte, kam ich hierher zurück. Es ist nicht sehr schwer, die Schlupfwinkel von Nihilisten und Anarchisten ausfindig zu machen, weil sie alle mehr oder weniger gern von sich hören machen und gerne öffentlich reden. Sie kündigen sich selbst mit erstaunlicher Sorglosigkeit an und ich fand meinen Weg zu ihnen leicht genug. Pierre France wird in zwei bis drei Stunden an seiner Arbeit sein, und zwar im nächsten Hause. Sein Name dort ist Fritz von Bergen; der Kerl ist nämlich Elsässer und spricht Französisch und Deutsch. Trotz des ›von‹ gibt er sich für einen Schneider aus. ›Von Bergen‹, sollte man denken, kann kaum ein Schneider sein, aber mein Pierre France, der, wie du erraten wirst, dieselbe Person ist, ist kein Schneider, sondern ein Schriftsetzer. Hast du jemals die eigentümlichen kleinen Anzeichen bemerkt, Venables, aus denen man auf eines Mannes Beschäftigung oder Profession schließen kann? Die Merkmale eines Schriftsetzers sind nur ganz geringe, aber wenn man nahe hinsieht, ganz unverkennbar, und mein elsässischer Freund ist von Beruf nicht Schneider, sondern Schriftsetzer. Der Daumen, der Zeige- und der Mittelfinger tragen Zeichen, die jeder Beobachter herausfinden kann, und die ihn sofort verraten. Mit Hilfe von Grevins Skizze identifizierte ich nun meinen Pierre in einem Klub, der seine Räume oberhalb des ersten Restaurants in der nächsten Querstraße hier hat. Pierres Daumen und Finger sind recht oft meiner Nase sehr nahe gewesen, denn Pierre ist ein Mann, der ungeheuer gestikuliert, und ich habe genug Gelegenheit zur Beobachtung gehabt. Er wohnt zusammen mit einem Schneider, bei dem er vorgibt zu arbeiten – ein Bruder von Bergen, der ein kleines Geschäft in Islington hat; aber kein Mann kann Tag und Nacht arbeiten, und da Pierre im Nebenhause allnächtlich die ganze Nacht hindurch zehn Stunden ununterbrochen arbeitet, halte ich es für wahrscheinlich, daß er irgendwo schlafen muß. Ich habe denn auch tatsächlich herausgefunden, daß er in dem Lokal seines Landsmanns, des Schneiders, in Islington schläft.«

Pym machte eine Pause und hielt beide Hände über das kleine Feuer.

»Nun,« sagte er, da er sah, daß ich nichts antwortete, »willst du einen Freund für ein paar Stunden ablösen? Du kennst die Abteilungen des Setzkastens jetzt doch wieder?«

Ich war ärgerlich und zugleich verlegen; aber ich antwortete, daß ich meine alte Kenntnis des Setzkastens wieder aufgefrischt hätte, während Pym es erst jetzt gelernt habe, und daß ich also, was das anbetrifft, wieder leidlich sicher in meinen alten Kenntnissen zu sein glaubte.

Pym stand auf, rückte einen Tisch in eine Ecke des Zimmers und setzte einen Stuhl darauf.

»Das Fenster da oben«, erklärte er mir, »führt direkt auf das Dach; es ist eine zwei Fuß hohe Balustrade da, so daß wenig Gefahr ist, herunterzufallen, trotzdem möchte ich dir aber raten, recht vorsichtig zu sein. Wenn du aus dem Fenster heraussteigst, wirst du, einige Meter entfernt, ein dem meinigen vollständig gleiches finden. Sollte das Zimmer darunter jetzt noch nicht erleuchtet sein, so wird es auf keinen Fall sehr lange mehr dauern. Ich bitte dich, den Mann dort zu beobachten. Wirf zuvor erst einen Blick auf dies Porträt – es ist Grevins Skizze von ihm – und ich versichere dir, daß du ihn unter hunderttausend Leuten herausfinden wirst. Der Mann ist in einer Person Setzer, Herausgeber und erster Berichterstatter eines unter dem Namen ›L'Anarchist‹ bekannten mordbrennerischen Blattes, das jetzt in ganz Europa verbreitet ist. Er schreibt nichts nieder, sondern setzt alle seine Gedanken sofort in Lettern, sobald er sie sich überlegt hat. Ich habe hier eine Handvoll von Notizen, die ich, wenn die Zeit kommt, mit den Formen, die er schon gegossen hat, vergleichen zu können hoffe. Wenn ich imstande wäre, selbst aufs Dach zu steigen und noch ein oder zwei Nächte dort zuzubringen, würde ich deine Hilfe nicht in Anspruch nehmen; aber ich bin schon halbtot vor Rheumatismus, und ein paar Stunden in einer Nacht wie der heutigen könnten mir leicht den Garaus machen. Willst du also gehen, Ned, und für mich Posten stehen? Der Mann ist nahe an der Vollendung eines Berichtes, worin er die Leistungen seiner eigenen Partei während der letzten drei Monate beschreibt. Ich weiß bereits genug, weswegen man ihn zweimal zum Tode verurteilen könnte, aber ich möchte gern das Ende der Geschichte wissen.«

Ich war auf den Tisch und den Stuhl gestiegen, bevor er gesprochen hatte, und als ich gewahrte, daß er alles gesagt, was er mir sagen wollte, klappte ich das Fenster auf, das schon einem leichten Druck meines Kopfes nachgab, und erreichte mit einem Satze das Dach. Der eisige Regen fiel immer noch, und das Dach war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt; aber für den Augenblick dachte ich nur wenig an diese Unbarmherzigkeit des Wetters und kroch auf jenen schwachen Lichtschimmer zu, auf den Pym mich mit einer letzten Handbewegung aufmerksam gemacht hatte, bevor ich auf dem Dache verschwand. Ich kroch also mit großer Vorsicht weiter und sah in das Zimmer hinunter. Ein gewöhnlicher kleiner Raum, eingerichtet wie eine kleine Druckerwerkstatt. In einer Ecke des Zimmers befand sich ein mit einer dünnen Bettdecke bedeckter Gegenstand, aus dessen Form ich schließen konnte, daß eine Kupferdruckpresse darunter verborgen sei. Nicht weit davon stand ein Mann in mittleren Jahren, mit einem glänzenden kahlen Kopfe, der in dem Schein von zwei Gasflammen wie heißes Eisen leuchtete. Der Mann zog mit bedächtiger Überlegung seinen Rock aus, krempelte seine Hemdsärmel auf, band eine schwarzleinene Schürze vor und ging an die Arbeit. Mein Herz schlug lauter bei dem Gedanken, daß ich gerade im richtigen Moment gekommen sei und bis jetzt noch nichts versäumt habe. Der Mann nahm seinen Winkelhaken in die linke Hand und traf alle nötigen Vorbereitungen. Bevor er aber anfing zu arbeiten, sah er sich nach allen Seiten um und steckte dann Zeigefinger und Daumen in die Abteilung des großen C. Er arbeitete nicht gerade schnell; und selbst wenn er noch zweimal so flink gewesen wäre, würde es mir bei meiner Kenntnis und Erfahrung doch möglich gewesen sein, die Bewegungen seiner Hand zu verfolgen. » Ce que nous avons fait« – so holte er einen Buchstaben nach dem andern heraus und setzte sie in den Winkelhaken – » nous avons fait et nous n'avons ni reproche ni peur si nous avons tué le scélérat Sébastien Lepage.« So weit war der Mann gekommen, als ich ein knirschendes Geräusch etwas über mir hörte, und als ich das schräge und glitzernde Dach heraufsah, das ein wenig von dem Widerschein der Gasflammen erglänzte, glaubte ich ganz schwach einen Schatten zu bemerken, der sich am Dachfirst entlang bewegte. Ich beobachtete diesen wie einen Luchs während einer vollen Minute; und wenn wirklich irgend etwas Lebendes da war, so verschwand es so allmählich und kaum bemerkbar, daß ich ungewiß war, ob ich mich nicht getäuscht habe.

Die Hand des Mannes unten verfolgte, als ich mich wieder der Beobachtung desselben widmete, denselben Weg von den kleinen Letternfächern zum Winkelhaken und wieder zurück; aber ich hatte den Zusammenhang des Satzes verloren und für eine Weile wurde es mir schwer, denselben wieder zu gewinnen. Dabei fing ich aber an zu verstehen, wo Pym sich seinen Schüttelfrost geholt, seinen kostbaren Pelzmantel ruiniert, und warum er es der Mühe wert gehalten hatte, diese beiden Schäden freiwillig auf sich zu nehmen. Das Gefühl, daß ich möglicherweise einen gefährlichen Nachbarn zu meiner Linken haben könnte, verminderte meine Leistungsfähigkeit von Zeit zu Zeit; und trotzdem ich ein alter Soldat bin, muß ich gestehen, daß ich kaum meine Kaltblütigkeit in dieser sonderbaren Situation so aufrechterhalten konnte, wie ich wohl gewünscht hätte. Trotzdem mich einerseits das Gefühl einer möglichen Gefahr beherrschte und ich anderseits die Notwendigkeit einsah, daß ich meine Beobachtungen wieder aufnehmen mußte, die ich für eine ganze Minute unterbrochen hatte, vermochte ich doch noch Zeit zu finden, mich einen Augenblick im Geiste mit Pym zu beschäftigen, und ich konnte jetzt gut genug verstehen, daß er durch eine derartige vierzehntägige Anstrengung hager und verstört geworden war. Während ich aber noch hieran dachte und mich wieder der aufmerksamsten Beobachtung des Mannes unter mir hingab, hörte ich ein schwaches Geräusch hinter mir, und als ich mich in, ich muß gestehen, nervöser Aufregung umwandre, sah ich Pyms Kopf und Schulter auf dem Dache erscheinen und hörte ihn flüstern:

»Geht irgend etwas vor?«

In demselben Augenblick bekam ich einen furchtbaren Schreck, wie ich ihn kaum je im Laufe meines abenteuerreichen Lebens gehabt habe; denn ich hörte den Knall eines Pistolenschusses nur einige Meter von meinem Ohr entfernt, und ein dunkler, kaum sichtbarer Körper glitt an dem schlüpfrigen, eisbedeckten Dache herunter. Er würde unweigerlich über die Brüstung gerutscht sein, wenn Pym nicht mit seiner Hand dies verhindert hätte. Ich hörte ein starkes Geräusch in dem Raume, den ich erst kurz vorher verlassen hatte, und als ich mich auf Händen und Füßen aufrichtete, sah ich, wie Pym einen Mann, der mit seinem Kopfe heftig gegen die Brüstung gestoßen war, an einem Beine festhielt. Pyms Körper erhob sich in halber Höhe durch das Dachfenster wie der eines unfreiwilligen Harlekins, und als ich ihn mit einiger Anstrengung auf das Dach gezogen hatte, hielt er noch die Hosen des gefallenen Eindringlings krampfhaft fest.

»Dieser Kerl«, sagte Pym, indem er den Mann freigab und sich auf die Knie niederließ, um nach ihm in all dem Regen und der Finsternis vorsichtig mit den Händen zu tasten, »ist meine bête noir« während der ganzen vergangenen vierzehn Tage gewesen, sollte ich denken. Er hat nichts gebrochen, ausgenommen vielleicht das Genick.«

Der Mann stieß einige unverständliche Laute aus und versuchte sich zu erheben, aber Pyms und meine Hände hinderten ihn daran.

» Où suis-je?« sagte er.

»Alles in Ordnung mit ihm,« sagte Pym, ließ ihn los und tastete sich am Dache entlang. »Wir wollen versuchen, ihn hier ins Zimmer zu bringen und sehen, was wir mit ihm anfangen.«

Pym ging zuerst, indem er sich durch das Fenster auf den Tisch fallen ließ, und stellte den Stuhl wieder auf den Tisch, damit wir unseren Gefangenen so bequem als möglich herunterschaffen könnten. Der Mann stöhnte schwer und ich hatte Mühe, ihn das schlüpfrige Dach heraufzuziehen; aber als ich erst einmal einen Halt für meine Knie in der Fensteröffnung gefunden hatte, ließ ich ihn durch das Fenster gleiten, Beine voran, und Pym empfing ihn unten. Beide ließen wir ihn dann auf den Tisch nieder, worauf ich sofort hinunterstieg, und dann setzten wir ihn auf einen Korb, der eine Seite des kleinen Raumes ausfüllte.

»Ich kenne diesen Menschen,« sagte Pym. Der Mann saß betäubt und halb besinnungslos da, fuhr von Zeit zu Zeit mit seiner linken Hand an seine Stirn und sah dann auf seine Finger, als ob er nach Blutflecken von irgendeiner eingebildeten Wunde suchte.

»Ihr Name«, sagte er, »ist Emile Grandier.« Der Mann sah ihn mit einem Blicke an, der andeuten mochte, daß er sich vollständig in sein Schicksal ergeben habe.

»Sie sind fünf Fuß acht Zoll hoch, siebenunddreißig Jahre alt, glattrasiert an Backen und Kinn. Sie haben einen kräftigen schwarzen Schnurrbart, sehr schwache Augenbrauen und Sie sind in Marseille geboren.«

Die automatische Bewegung der Hand des Mannes hörte auf und er starrte Pym verwirrt und dumm an.

»Das stimmt alles,« sagte Pym, »und das ist schon beinahe genügend, um die Kette der Beweise zu schließen, den Rest werden wir auch allmählich herausbekommen. Wenn du in die Schachtel in der Ecke dort blicken willst, Venables, wirst du einen Revolver finden. Halte jetzt für einige Minuten Wacht bei diesem Gesellen, selbst in einer Nacht wie dieser denke ich irgendwo einen Polizisten zu finden.« Er griff nach einem weichen Hut mit breitem Rande, der auf der Ecke des Korbes lag, auf den wir unseren unerwarteten Besucher gesetzt hatten, und flog die Treppen herunter. Der Gefangene machte mir keinerlei Mühe, sondern fing wieder ganz automatisch nach einer eingebildeten Wunde zu suchen an und schien höchlichst erstaunt, kein Blut zu finden, so daß er seine Finger vom Kopfe zurückzog. Nach ganz kurzer Zeit kam Pym zurück, und hinter ihm ertönte der kräftige Schritt eines Londoner Polizisten, von dessen Kommißstiefeln die ganze Treppe dröhnte, als er zu den oberen Regionen hinaufstieg.

»Sie haben Ihren Kameraden vor die Tür des Nebenhauses postiert?« sagte Pym, und der Polizist bejahte dies mit einem Kopfnicken, einer genügend starken Bekräftigung. »Ich bitte Sie, diesen Mann festzunehmen, Emile Grandier, Alter siebenunddreißig Jahre, geborener Marseiller und Schriftsetzer von Beruf; er ist Mitschuldiger an der Ermordung von Sebastien Lepage in der Harley Street am vierten Dezember vorigen Jahres.«

»Soll geschehen,« sagte der Polizist und setzte sich auf Pyms Einladung nieder. Wir ließen ihn zur Bewachung des verdutzten Mannes zurück, während Pym und ich die gewundene Treppe hinabstiegen, bis wir die Haustür erreichten. Dort pfiff ich auf Aufforderung meines Begleiters nach einer Droschke, und während wir nach Scotland Yard, dem Sitz der Londoner Kriminalpolizei, fuhren, erzählte er mir die ganze Geschichte.

»Unser Freund, Inspektor Prickett, ist mit der Nachforschung in dieser Angelegenheit betraut worden,« sagte Pym mit Wohlbehagen und einer gewissen Selbstbefriedigung, »und da möchte ich, daß er bei der Ergreifung des Mörders zugegen wäre, weil er verschiedenemal so liebenswürdig war, mir mitzuteilen, daß jede Möglichkeit, einen Schlüssel zu dieser Geschichte zu finden, verloren sei. Wenn unser Freund Pierre es vorgezogen hätte, als Setzer zu gelten, so würde mein Verdacht nie und nimmer auf ihn gefallen sein, und ich würde ihn wahrscheinlich auch nie beobachtet haben, obgleich ich sein Porträt in der Tasche trug. Aber ein Mann, der vorgibt, sich in einem Beruf sein Brot zu verdienen, während er die Zeichen eines anderen Erwerbszweiges an sich trägt, lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, und da ich ausfand, daß Freund Pierre den ganzen Tag hindurch schlief und während der Nacht arbeitete, schien es mir der Mühe wert, nachzuforschen, was er eigentlich treibe. Ich habe hier« – er zeigte auf seine Brusttasche, während er sprach – »die ersten Seiten des ›L'Anarchiste‹, verfaßt von ihm selbst und, wie ich vermute, für den 1. April bestimmt. Der Kunstgriff mit dem Setzkasten hat mir gute Dienste geleistet, Venables. Ich habe eine Lebensbeschreibung von jedem einzelnen Manne, der in diese Geschichte verwickelt war – Namen, Adresse, Alter, Beschäftigung, alles. Unser Freund Pierre ist ein wunderbarer Heiliger und einer von der Sorte, mit der wir in nicht allzu langer Zeit wahrscheinlich recht viel zu tun haben werden. Er ist einer von denen, die glauben, durch Anwendung von Dynamit der Welt den größten Segen angedeihen zu lassen; er betrachtet das als sein Geschäft. Die Rubel-Noten wurden gefälscht, nicht weil er persönlich Vorteil daraus ziehen wollte, sondern bloß um die Mittel für seine sonderbare Propaganda zu schaffen. Der Mann, der in der Harley Street getötet wurde, hatte die Platten zu den Noten gestochen und wurde getötet einfach und nur deshalb, weil er gegen die Idee rebelliert, daß eine so großartige Fälschung ausschließlich für politische Zwecke vergeudet werden sollte. Seine Hoffnung war gewesen, Europas Wechselstuben mit den Früchten seiner Arbeit zu überschwemmen, und diesem Phantom hatte er sein Leben geweiht. Der andere Mann, identifiziert als Alexis Demitroff, der erfroren auf dem Dach gefunden wurde, wo ich auf ein Haar sein Nachfolger geworden wäre, war wie jener und wie unser Freund Pierre ein französischer Setzer. Unglücklicherweise hat er einmal zu viel zu beobachten versucht, was in jenem Dachzimmer vorging und, wenn ich nicht dazwischen gekommen wäre, würde die Geschichte seines Todes in einigen Tagen nach dem 1. April in allen geheimen Gesellschaften Europas bekannt gewesen sein. Die Ausgabe der Zeitung ›L'Anarchiste‹ wird nun wahrscheinlich schon morgen vor dem festgesetzten Datum in Bow Street (Straße des Hauptpolizeigebäudes) stattfinden. Und nun sage mir,« schloß Pym, »hast du während deiner kurzen und so jäh unterbrochenen Wacht irgend etwas lesen können? War der Mann überhaupt schon an der Arbeit?«

» Ce que nous avons fait,« rezitierte ich, » nous avons fait et nous n'avons ni reproche ni peur, si nous avons, tué le scélérat Sébastien Lepage. Dann«, fuhr ich fort, »kam eine Störung, und ich hörte auf zu beobachten.«

»Das genügt,« sagte Pym, und gerade, während er dies sagte, fuhr der Wagen in den Hof ein und hielt dort vor der Säulenhalle.

Pym verweilte drinnen höchstens eine Minute und erschien dann mit meinem alten Bekannten, Inspektor Prickett, der mit uns zu dritt zurückfuhr und während des ganzen Weges ein grimmiges und, wie ich fühlte, sehr enttäuschtes Schweigen beobachtete. Wir klopften an die Tür des Hauses neben jenem, in dem Pym während der letzten 14 Tage seine Heimstätte aufgeschlagen hatte, und gingen die Treppe hinauf, nachdem der Inspektor so schnell als möglich seine Vollmacht vorgewiesen hatte. Wir folgten ihm so leise als möglich und erreichten schließlich die Tür der Dachstube. Auf sein Klopfen rief eine erschreckte Stimme in Französisch: »Wer ist da?« Statt jeglicher Antwort stemmte Prickett sein Knie gegen die dünne Tür und das schadhafte Schloß zerbarst. In einer Sekunde waren wir alle drei in dem Raume; und sein Bewohner versuchte, kaum daß er unser ansichtig geworden war, nach dem Setzschiff zu stürmen, das in der einen Ecke des Zimmers sich befand.

Prickett aber faßte ihn, als er darauf zustürzte, wie ein guter Kricketspieler im rechten Moment einen Ball fängt, und Pym stürzte trotz seines Rheumatismus sofort zwischen den Gefangenen und sein Ziel. Eine achtseitige Form von dichtgesetzter Schrift lehnte an der Wand und Pym betrachtete diese, indem er seine Brieftasche hervorzog, mit größter Gelassenheit. »Ich möchte, daß dies gedruckt wird und die Seiten dann übersetzt werden. Dann bitte ich, es mit den Aufzeichnungen zu vergleichen, die ich allmählich auf dem Dache dort oben gemacht habe, und in den letzten Zeilen, hier ungefähr,« indem er auf die Form zeigte, »wird mein Freund, Mr. Edward Venables etwas zur Bestätigung finden.« Er bückte sich und buchstabierte mit Mühe die umgekehrten Buchstaben.

»Du solltest das schneller können als ich, Venables,« sagte er nach einer Weile. »Sieh dirs einmal an und versuche, was du daraus machen kannst!«

Gleich zuerst fielen meine Augen auf die Worte: » Ce que nous avons fait, nous avons fait« usw. und ich übersetzte, damit auch Prickett es besser verstehen konnte: »Wenn wir Sebastien Lepage getötet haben, so war der einfache Grund dafür, daß er vorschlug, unredlichen Gebrauch von Kapitalien zu machen, die für einen erhabenen Zweck bestimmt waren.«

»Das dürfte ungefähr genügen, sollte ich meinen,« sagte Prickett und holte ein paar Handschellen aus seiner Rocktasche. »Aber wo ist der andere Kerl, von dem Sie mir sprachen?«

»Der«, antwortete Pym, »ist oben im nächsten Hause, aber soweit ich urteilen kann, wird man ihn nur wegen Teilnahme an der Fälschung belangen können.«

Ich ging nach unten, klingelte am nächsten Hause, ging nach oben und befreite den Polizisten von seinem Posten.

Beide erschienen in Bow Street am nächsten Morgen, und was den Rest der Geschichte anbetrifft, so kann ein jeder, der sich für die Sache interessiert, in den Zeitungen des Jahres 1885 die Berichte über die Verhandlungen nachlesen.


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