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Van Bibbers Einbrecher

Von Richard Harding Davis

In der oberen Stadt war ein Ball gewesen, aber Van Bibber fand die Dame seines Herzens nicht dort, und so ging er bereitwillig auf den Vorschlag des jungen Travers ein, nach Jersey-City zu fahren und einen Faustkampf zwischen Dutchy-Mack und einem Farbigen mit anzusehen, der bei seinen Berufsgenossen unter dem Namen Black Diamond bekannt war. Sie verdeckten mit ihren Überziehern jede Spur des Ballanzuges und füllten ihre Taschen mit Zigarren, denn die Atmosphäre, welche gewöhnlich diese Wettkämpfe umgibt, ist für empfindliche Nasen eine starke Probe; auch versäumten sie nicht, ihre Taschenuhren noch mit der Schlüsselkette zu befestigen.

Alf Alpin, der als Zeremonienmeister fungierte, war nicht wenig stolz und erfreut über ihr Erscheinen und bestand darauf, sie müßten auf der Plattform sitzen. Unter den Zuschauern verbreitete sich die Nachricht, daß die beiden Herren mit den hohen Hüten zu Wagen gekommen wären, was in Verbindung mit ihren Lackstiefeln sie sogleich zum Gegenstand des höchsten Interesses machte. Man flüsterte sich sogar zu, sie wären diejenigen, die das Geld für die Wette auf Black Diamond gegen Jackson zusammengebracht hätten. Das genügte, ihnen die allgemeine Achtung zu sichern. Van Bibber wurde aufgefordert als Zeitwart während des Kampfes die Uhr zu halten, war aber so weise, diese Ehre abzulehnen, welche man nun Andy Spielman, dem Sportberichterstatter einer bekannten Zeitung übertrug.

Es wurde zwei Uhr morgens, ehe der Kampf entschieden war, und drei Uhr, bis die Herren wieder die City erreichten.

In ihrem Wagen saß außer dem Reporter, der unerschütterlich seine Uhr gehalten hatte, trotz manchem Anerbieten, sie ihm eine Weile abzunehmen, noch ein anderer Berichterstatter. Van Bibber war schrecklich hungrig, und da er alle Ursache hatte, zu bezweifeln, daß in seinem Klub zu so früher Stunde etwas Rechtes zu haben sein würde, so nahm man Spielmanns Einladung an und verfügte sich nach dem »Eulennest«, einer Kneipe in der dritten Avenue, wo zu jeder Zeit Beefsteak mit Zwiebeln geliefert wurde.

Das war nun ein sehr düsteres, schmutziges Lokal – aber warm wie der Maschinensaal eines Dampfboots. Das Beefsteak war zart und saftig. Um noch zu Bett zu gehen, war es zu spät; so setzten sich die Herren um den Tisch herum, kippten ihre Stühle nach hinten über und stemmten die Knie gegen die Tischkante. Die beiden Klubmitglieder hatten die Überzieher abgelegt; ihre breiten, eleganten Vorhemden und seidenen Aufschläge strahlten prächtig in dem dunstigen Licht der Öllampen und der roten Glut, die von dem Bratrost in der Ecke ausging. Man sprach über das Leben und Treiben der Berichterstatter, und die Philister taten manchmal recht alberne Fragen, welche die Herren von der Presse beantworteten, ohne ihnen klar zu machen, wie dumm sie wären.

»Sie erleben gewiß allerlei wunderliche Abenteuer,« meinte Van Bibber, um die Berichterstatter zum Erzählen anzuregen.

»Je nun – kaum – nicht was ich ein Abenteuer nennen möchte,« erwiderte der eine Reporter. »Ich habe niemals etwas gesehen, was man nicht sogleich erklären, oder auf eine der bekannten Ursachen – Verbrechen, Armut oder Trunksucht – hätte zurückführen können. Zuweilen kommt es uns im ersten Augenblick wohl so vor, als sei man auf ein absonderliches oder romantisches Ereignis gestoßen – aber schließlich war es doch nichts. Es ist allerdings sonderbar genug, daß man in einer so großen Stadt wie dieser nicht öfter etwas erlebt, was einem unverständlich bleibt – etwas Geheimnisvolles, Ungewöhnliches, wie zum Beispiel Stevensons Selbstmord-Klub; mir ist aber nichts der Art begegnet. Dickens soll einmal zu James Payn gesagt haben: das Merkwürdigste, was ihm jemals auf seinen Wanderungen durch London vorgekommen sei, wäre ein zerlumpter Mann gewesen, der unter dem Fenster eines großen Hauses kauerte, dessen Besitzer eben ein Ballfest gab. Während der Mann sich unter dem Parterrefenster an die Wand drückte, wurde das Fenster von innen geöffnet, eine herrlich geschmückte, wunderschöne Dame ließ ihr Bukett in die Hand des Mannes niederfallen, der mit dem Kopfe nickte, die Blumen unter seinen Rock steckte und damit davonlief.

Das nenne ich nun wirklich ein wunderliches Vorkommnis; aber ich selbst habe niemals dergleichen erlebt, und doch bin ich in jedem Winkel dieser Riesenstadt gewesen – nachts und morgens, zu jeder Stunde. Auch fehlt es mir keineswegs an Phantasie; aber weder haben mir jemals gefangene Mädchen aus vergitterten Fenstern zugewinkt, noch weiße Hände mich aus vorüberfahrenden Kutschen durch Zeichen zu Hilfe gerufen. Balzac, De Muffet und Stevenson deuten verschiedentlich an, daß sie derartige Abenteuer selbst erlebt haben – aber ich kann mich dessen nicht rühmen. Es ist alles alltäglich und gewöhnlich; endigt immer vor Gericht oder mit der Anzeige: »Im Fluß ertrunken!«

Mc. Gowan, der Wirt, der hinter dem Schenktisch sanft entschlummert war, schreckte plötzlich auf, schauerte zusammen und rieb sich die Arme. Ein Weib hatte an der Seitentür geklopft, und »um Gottes willen« etwas zu trinken verlangt. Der Mann, der am Bratrost stand, jagte sie fort. Man konnte hören, wie sie schimpfend an der Mauer entlang weiterschlich. Dann kamen drei Männer und ein Droschkenkutscher herein, forderten alle Anwesenden auf, mit ihnen zu trinken, und wurden unverschämt, als die Herren nicht darauf eingingen, so daß Mc. Gowan einen nach dem andern hinauswerfen mußte. Als das geschehen war, legte er den Kopf gleich wieder zwischen die Zigarrenkisten und Gläserpyramiden im Hintergrund seines Schenktisches, schlief ein und schnarchte.

»Da sehen Sies!« sagte der Reporter. »Die Nacht in einer großen Stadt ist weder malerisch noch anziehend. Alles unangenehm. oft brutal; aufregend genug, bis man sich daran gewöhnt hat, und doch ein ewiges Einerlei. Dramatisch mag es zuweilen sein, aber die Verwickelungen sind immer dieselben, und Motive und Charaktere veraltet.«

Das Geratter der schweren Marktwagen und das Rumpeln der Milchkarren machte endlich die Herren darauf aufmerksam, daß der Morgen angebrochen sei. Als sie die Tür öffneten, fegte die kalte, frische Luft in die Stube hinein. Sie streckten sich und klappten ihre Kragen in die Höhe. Der Morgenwind strich aus der Querstraße vom Fluß her. Die Lichter der Straßenlaternen und des Schenkzimmers sahen trübselig und verblaßt aus. Travers und der Berichterstatter beschlossen ein türkisches Bad zu nehmen, und der Herr mit der Uhr, der die letzte Stunde verschlafen hatte, rief eine Nachtdroschke an und ließ sich nach Hause fahren.

Es war jetzt beinahe ganz hell und sehr kalt. Van Bibber entschloß sich, zu Fuß zu gehen. Er hatte jenes wunderliche Gefühl, wie es uns überkommt, wenn wir wachgeblieben sind, bis die Sonne aufgeht. Es war, als sei ihm irgendwie ein Tag verloren gegangen. Der Ball, den er seit wenigen Stunden verlassen hatte, schien vor langer Zeit stattgefunden zu haben, und der Faustkampf in Jersey-City lag weit zurück in der Vergangenheit.

Die Häuser in der Querstraße, durch die er schritt, waren wie ausgestorben, nur hie und da wehten Musselingardinen aus einem offenen Fenster, hinter dem ehrsame Bürger schliefen. Die Straße war ganz leer, weder Katzen noch Polizeidiener ließen sich sehen, und Van Bibbers Fußtritte schallten hart und laut auf dem Trottoir. An der Ecke der Avenue und der Querstraße stand ein großes Haus. Die Front desselben lag nach der Avenue zu, und eine steinerne Mauer lief an der Seitenstraße entlang, bis zu einem braunen Stallgebäude, das hier seinen Eingang hatte. In der Mauer befand sich eine Tür und als Van Bibber auf seinem einsamen Gang derselben nahe kam, wurde sie von innen vorsichtig geöffnet, eines Mannes Kopf ward einen Augenblick in der Spalte sichtbar, verschwand aber wieder wie der Blitz – und die Tür klappte zu.

Van Bibber blieb stehen und blickte auf die Tür und das Gebäude, die Straße auf und nieder. Das große Haus war fest geschlossen, als ob irgend jemand tot darin läge, und die Straßen waren leer.

Van Bibber konnte sich gar nicht vorstellen, was an seiner Erscheinung so entsetzlich sei, daß ein ehrlicher Mensch davor erschrecken könne, und kam zu dem Schluß, der Kopf, den er flüchtig erblickt hatte, müsse einem unehrlichen Menschen angehören. Natürlich sagte er sich, daß ihn diese Angelegenheit durchaus nichts anginge, aber sie war doch sonderbar. Ein Abenteuer wäre ihm gerade recht gekommen, denn es lockte ihn, dem Berichterstatter, der an keine wunderbaren Erlebnisse glauben wollte, zu beweisen, daß er unrecht habe. So näherte er sich leise der Tür, sprang schnell entschlossen in die Höhe, hielt sich am oberen Rand der Mauer fest, setzte den einen Fuß auf die Türklinke, den andern auf den Klopfer, zog sich in die Höhe und spähte vorsichtig auf die andere Seite. Er hatte das ganze Manöver mit solcher Leichtigkeit ausgeführt, daß nur das leise Knarren des Türdrückers, auf den er den Fuß gestellt hatte, hörbar wurde. Der Mann drinnen meinte, der draußen mache einen Versuch hereinzukommen; er stand mit dem Rücken an der Tür und stemmte sich mit aller Kraft dagegen.

Van Bibber blickte von seinem Sitz auf der Mauer gerade auf des Menschen Kopf und Schultern hinunter. Der Kopf befand sich ungefähr zwei Fuß unter ihm; er konnte erkennen, daß der Mann einen Revolver in der Hand hielt, und daß ihm zu Füßen zwei Säcke lagen, die mit verschiedenartig geformten Gegenständen angefüllt zu sein schienen.

Da waren keine erläuternden Anmerkungen nötig, um Van Bibber zu überzeugen, daß der Mann unten das große Haus an der Ecke beraubt hatte und mit seiner Beute leicht hätte entwischen können, wenn er nicht gerade vorübergekommen wäre. Sein erster Gedanke war freilich, daß er kein Polizeidiener sei, und eine Prügelei mit dem Einbrecher außerhalb seines Wirkungskreises läge; darauf folgte jedoch die Betrachtung, daß zwar der Hausbesitzer, dessen Eigentum die Gegenstände in den Säcken waren, für ihn ohne alles Interesse sei, daß derselbe aber doch als ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft mehr Berücksichtigung verdiene, als der Mann mit dem Revolver.

Die Tatsache übrigens, daß er jetzt, mochte es ihm gefallen oder nicht, oben auf der Mauer saß und der Einbrecher ihn jeden Augenblick sehen und erschießen könnte, hatte ebenfalls einen unmittelbaren Einfluß auf seine Entschließungen. So gab er sich geräuschlos und vorsichtig einen Schwung und sprang dem Mann auf Kopf und Schultern, wobei er ihn natürlich zu Falle brachte, während des darauffolgenden Ringens ging der Revolver los, aber ehe der Einbrecher wissen konnte, wie und woher sein Angreifer gekommen war, hatte sich Van Bibber über ihm erhoben und hatte ihm mit dem Stiefelabsatz so wuchtig auf die Hand getreten, daß ihm die Pistole aus den Fingern flog. Jetzt hob er dieselbe schnell vom Boden auf und rief: »Wenn Sie versuchen aufzustehen, so schieße ich!« Er hatte dabei den übel angebrachten humoristischen Einfall, hinzuzufügen: und werde wahrscheinlich nicht treffen, unterdrückte das aber. Zu Van Bibbers größtem Erstaunen versuchte der Einbrecher wirklich nicht aufzustehen, sondern blieb mit um die Knie verschränkten Händen sitzen und sagte: »Schießen Sie los! Mir kanns recht sein!«

Er hatte die Zähne fest aufeinander gebissen, und sein Gesicht drückte einen solchen Grad von Bitterkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aus, von dem Van Bibber bisher keine Vorstellung gehabt hatte.

»Nur zu – ich rühr' mich nicht. Schießen Sie los!« wiederholte der Mensch, ohne mit den Wimpern zu zucken.

Das war nun eine sehr unbehagliche Lage. Van Bibber hielt die Pistole nicht mehr so fest in der Hand; er verspürte große Lust, sie beiseite zu legen und sich von dem Einbrecher erzählen zu lassen, wie alles so gekommen wäre.

Endlich sagte er: »Sie haben nicht viel Courage im Leibe. Ich finde, daß Sie kein besonders talentvoller Einbrecher sind.«

»Was hilfts?« erwiderte der Mann grimmig. »Zurück geh' ich nicht – lebendig kriegen Sie mich nicht wieder da hinein! Ich hab' meine Zeit in dem Loch ausgehalten und versuchs nicht noch einmal. Muß ich zurück, so soll mich der Teufel holen, wenn ich nicht einen Wärter umbringe und mich dafür hängen lasse. Aber zurück geh' ich nicht wieder!«

»Wohin wollen Sie nicht zurück?« fragte Van Bibber ganz sanftmütig und voll Interesse – »ins Gefängnis?«

»Ja, ins Gefängnis! Ins Grab – 's ist nichts als ein Grab!« rief der Mann mit heiserer Stimme. »Sehen Sie mich doch an – mein Gesicht und mein Haar – ich mein', da könnten Sie sehen, wo ich gewesen bin. Keine Farbe mehr in der Haut und keine Kraft in den Knochen. Vor mir braucht sich kein Mensch zu fürchten. Ich könnt' Ihnen nichts antun, wenn ich auch wollte. Ein Gerippe bin ich, und schwach wie ein Kind – das haben sie aus mir gemacht. Nicht 'ne Katze könnt' ich umbringen – und nun wollen Sie mich wieder einstecken – wieder für 'ne ganze Ewigkeit; und ich hab' doch meine Zeit redlich abgesessen und harte Arbeit getan.« – Van Bibber nahm die Pistole in die andere Hand und betrachtete den Einbrecher mit zweifelhafter Miene.

»Wie lange sind Sie denn schon draußen?« fragte er, während er sich auf eine Steinstufe setzte und den Revolver zwischen den Knien hielt. Die Sonne fing an, den Nebel zu zerteilen, und er hatte ganz vergessen, daß es kalt war.

»Gestern bin ich herausgekommen«, sagte der Einbrecher.

Van Bibber sah die Säcke an und faßte die Pistole fester. »Da haben Sie nicht viel Zeit verloren,« sagte er.

»Das hab' ich auch nicht,« antwortete der Mann mürrisch. »Ich hab' das Haus da gekannt, und hab' Geld gebraucht, um zu meinen Leuten im Westen zu kommen. Natürlich sagen Sie, ich hätt' warten müssen, bis das Geld ehrlich verdient war, aber ich konnt' nicht warten. Sieben Jahre hab' ich mein Weib und mein Mädel nicht gesehen; sieben Jahre, junger Herr; stellen Sie sich das mal vor! Wissen Sie denn, wie lange das ist!? Sieben Jahre, ohne Weib und Kind zu sehen! Und die sind brav und rechtschaffen,« fügte er hastig hinzu. »Mein Weib ist nach dem Westen gegangen, als ich eingesteckt wurde, und hat einen anderen Namen angenommen; mein Mädel hat nie was Schlechtes von mir erfahren. Sie denkt, ich bin auf der See. Ich sollt' ihnen nachkommen – so war unser Plan. Ich sollt' ihnen nachkommen und dacht', hier hätt' ich genug zusammengerafft, um das Fahrgeld zu zahlen, und nun,« stöhnte er, sein Gesicht in den Händen verbergend – »nun soll ich zurück, und ich wollt' doch ein rechtschaffenes Leben anfangen, wenn ich erst im Westen wär'. Gott weiß, 's war mir Ernst! – Das ist jetzt alles eins; 's ist mir auch ganz egal, ob Sies glauben oder nicht,« fügte er störrisch hinzu.

»Ich habe noch gar nicht gesagt, ob ich es glaube oder nicht,« sagte Van Bibber mit bedächtigem Ernst.

Während einiger Minuten beobachtete er den Mann, ohne zu sprechen, und der Einbrecher erwiderte den Blick mit verstockter Feindseligkeit. In seinen Augen lag keine Spur von Hoffnung oder Bitte um Erbarmen. Vielleicht war es gerade das – oder vielleicht waren es die Frau und das Kind, die Van Bibbers Herz erweichten, wie dem auch sei, er faßte einen schnellen Entschluß.

»Es scheint mir doch,« sagte er, wie im Selbstgespräch, »daß ich Sie eigentlich ausliefern müßte.«

»Lebendig geh' ich nicht zurück,« sagte der Einbrecher gelassen.

»Ja – und das ist auch wieder schlimm für Ihre Familie,« fuhr Van Bibber fort. »Natürlich kann ich nicht wissen, ob Sie mir etwas vorlügen, und was Ihre Absicht betrifft, von nun an ein rechtschaffener Mann zu werden, so ist das auch sehr zweifelhaft; aber ich will Ihnen ein Billett nach dem Ort verschaffen, wo Ihre Frau lebt, und will Sie auf den Zug bringen. Sie können allerdings schon auf der nächsten Station aussteigen und nächste Nacht mein Haus ausplündern, wenn Sie Lust dazu haben. Werfen Sie die Säcke dort in die Tür; die Dienstboten werden sie dort finden, ehe der Milchmann kommt; dann gehen Sie vor mir her, stecken die Hände in die Hosentaschen und machen keinen Versuch, davonzulaufen. Sie wissen, ich habe Ihre Pistole.«

Der Mann legte die Säcke innerhalb der Küchentür nieder, warf einen unsicheren Blick nach seinem Wächter, trat auf die Straße und schlug, wie ihm befohlen war, den Weg nach dem Hauptbahnhof ein. Van Bibber blieb immer dicht hinter ihm und wälzte unaufhörlich die Frage in seinem Gemüt, was er eigentlich hätte tun sollen. So oft er an einem Polizisten vorüberging, fühlte er sich höchst strafbar, aber wenn er an das Weib und das Kind im Westen dachte, die brav und rechtschaffen waren, beruhigte er sich wieder.

»Wohin?« fragte Van Bibber, als sie am Billettschalter standen. »Helena, Montana,« antwortete der Einbrecher, während zum erstenmal ein Hoffnungsstrahl in seinen Augen aufleuchtete. Van Bibber kaufte das Billett und übergab es dem Mann. »Sie wissen wohl, daß es unten in der Stadt ein Bureau gibt, wo Sie das da zum halben Preis wieder verkaufen können,« sagte er.

»Jawohl, das weiß ich,« erwiderte der Einbrecher.

Es fehlte noch eine halbe Stunde bis zum Abgang des Zuges. Van Bibber führte seinen Schützling in die Restauration und sah zu, wie er alles aß, was ihm vorgesetzt wurde, während seine Augen unruhig nach rechts und links spähten. Dann gab ihm Van Bibber etwas Geld, forderte ihn auf, Nachricht von seiner glücklichen Ankunft zu geben und schüttelte ihm die Hand. Der Mann nickte eifrig und riß die Mütze ab, als der Zug den Bahnhof verließ. Und Van Bibber fuhr mit einem Zug voll Ladenmädchen und Kontorgehilfen, die an ihre Arbeit gingen, zur Stadt zurück; immer noch im Zweifel, ob er das Rechte getan hätte.

Er ging in seine Wohnung, wechselte die Kleider, nahm ein kaltes Bad und begab sich zu Delmonico hinüber, um zu frühstücken, während der Kellner im Kaffeezimmer den Tisch für ihn deckte, warf er einen Blick auf die Zeitungsnachrichten. Zuerst überflog er mit weltmännischer Teilnahme den Bericht über den Ball des vergangenen Abends und bemerkte seinen Namen unter den Anwesenden. Mit größerem Interesse durchlief er die Schilderung des Wettkampfs zwischen Dutchy Mac und Black Diamond; dann aber las er mit gespanntester Aufmerksamkeit, daß Abe Nubbard, alias Jimmie the Gent, ein Einbrecher, aus dem Gefängnis in New-Jersey entwischt sei, und wie man seine Spur bis nach New-York verfolgt habe. Darauf kam eine Beschreibung des Mannes, und Van Bibber hielt beim Lesen den Atem an. Die Detektivs, so hieß es weiter, haben einige Anhaltspunkte, wo er zu finden sein könnte, wenn er noch in der Stadt ist, und sind überzeugt, daß er ihnen nicht entkommen kann. Zu fürchten ist freilich, daß dieselben Freunde, die ihm bei der Flucht aus dem Gefängnis geholfen haben, es ihm möglich machen werden, über den Ozean zu entkommen, oder nach dem Westen zu gehen.

»Das werden sie wahrscheinlich tun,« murmelte Van Bibber mit einem höchst befriedigten, triumphierenden Lächeln. – »Natürlich haben sie das getan!«

Dann wandte er sich zu dem Kellner, der wartend mit der Serviette über dem Arm dastand. »Oh, ich weiß nicht – meinetwegen Kaffee, Bacon, ein paar Eier und ein wenig Wasserkresse.


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