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Die schwarze Perle

Von Maurice Leblanc

Ein heftiger Ruck an der Glocke weckte den Portier eines Hauses in der Avenue Hoche.

»Ich dachte, alle Mieter seien daheim; es ist mindestens drei Uhr,« brummte der aus dem Schlaf Erwachte, indem er an dem Torstrick zog.

»Vielleicht kommt jemand um den Doktor,« meinte seine Frau.

Es war in der Tat so.

»Der Doktor Hamel, bitte, welche Etage?« fragte eine Stimme.

»Dritte, die Tür rechts. Aber der Doktor geht nachts nicht aus.«

»Er wird wohl müssen!«

Der Fremde trat ins Treppenhaus und stieg die Stufen hinauf. Ohne in der dritten Etage haltzumachen, ging er weiter bis zur fünften. Dort versuchte er an der einzigen Wohnungstür zwei Schlüssel. Der eine öffnete das Schloß, der andere den Sicherheitsriegel.

»Famos!« brummte er. »Die Arbeit ist so wesentlich einfacher. vorerst aber heißt es den Rückzug decken. Habe ich bereits hinreichend Zeit gehabt, den Doktor herauszuklingeln und mich von ihm abweisen zu lassen? Nein, also noch etwas Geduld.«

Nach etwa zehn Minuten stieg er die Treppe wieder hinab, klopfte an das Guckfenster der Portierloge und schimpfte auf den Doktor. Der Portier öffnete die Tür und schlug sie hinter sich zu. Aber der Riegel konnte nicht einschnappen, denn der Mann hatte ein Stück Eisen ins Schloß gesteckt.

So war es möglich, daß er, ohne vom Portier bemerkt zu werden, wieder ins Haus zurückkehrte und, für den Fall der Überraschung, leicht einen Ausweg fand.

Gemächlich stieg er die fünf Treppen wieder hinauf. Im Vorzimmer legte er beim Schein einer elektrischen Taschenlampe seinen Überzieher und Hut auf einen Stuhl, setzte sich auf einen andern und zog über seine Schuhe dicke Filzpantoffel.

»So weit wären wir,« sprach er zu sich, »und leicht war's auch noch dazu. Ich frage: warum wählt nicht jedermann das bequeme Handwerk eines Einbrechers? Mit etwas Geschick und Vorsicht gibt es nichts Angenehmeres. Ein ruhiges Geschäft, zu ruhig sogar; es wird beinahe langweilig.«

Er holte einen genauen Grundriß der Wohnung aus der Tasche.

»Orientieren wir uns zuerst einmal. Hier das Rechteck des Vorzimmers, in dem ich sitze. Der Straße zu der Salon, das Boudoir und das Speisezimmer. Überflüssig, dort Zeit zu verlieren. Die Gräfin hat keinen Geschmack ... nicht ein Stück von Wert. Also gerade aufs Ziel los! Der Strich da ist der Korridor, der zu den Schlafzimmern führt. Auf drei Meter Entfernung der Wandschrank, der eine Tür zum Schlafzimmer der Gräfin hat.«

Er faltete seinen Plan wieder zusammen, drehte die Lampe ab und betrat den Korridor.

»Ein Meter ... zwei ... drei ... die Tür. Mein Gott, wie einfach das alles ist! Ein kleiner Riegel trennt mich von dem Zimmer, und ich weiß, daß er ein Meter dreiundvierzig über dem Fußboden liegt. Ein kleiner Ausschnitt ringsherum, und ich brauche nur ...«

Er holte aus seiner Tasche das nötige Werkzeug, als ihm ein Gedanke kam.

»Vielleicht ist zufällig der Riegel nicht vorgeschoben. Versuchen wir's einmal; das kostet ja nichts.«

Er drückte auf die Klinke; die Tür gab nach.

»Alter Lupin, das Glück läuft dir nach, was bleibt dir da zu tun übrig? So gut wie nichts. Du kennst den Kriegsschauplatz, den Ort, wo die Gräfin die schwarze Perle versteckt ... Damit sie dir gehöre, brauchst du nur stiller als die Stille zu sein und unsichtbarer als die Nacht.«

Arsène Lupin verbrachte eine gute halbe Stunde damit, die zweite Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Wandschrankes zu öffnen, eine Glastür, die ins Schlafzimmer führte. Er tat es aber mit solcher Vorsicht, daß die Gräfin, selbst wenn sie wach gewesen wäre, auch nicht durch das geringste Geräusch hätte beunruhigt werden können.

Nach den Angaben seines Planes hatte er nur den Umrissen einer Chaiselongue zu folgen. Von dort gelangte er an einen Lehnstuhl und dann vor ein Tischchen zu seiten des Bettes. Auf dem Tischchen stand eine Schachtel mit Briefpapier und in dieser befand sich die schwarze Perle.

Er kniete auf dem Teppich nieder und tastete sich mit den Händen an der Chaiselongue weiter. Am andern Ende aber mußte er innehalten, so heftig klopfte ihm das Herz. Obwohl er nicht den geringsten Anlaß zur Furcht hatte, so wurde er doch nicht die nervöse Beklemmung los, die er in der drückenden Stille empfand. Erregte ihn etwa der Gedanke an die schlafende Frau?

Er horchte und vermeinte den Rhythmus eines Atems zu hören. Das beruhigte ihn wie die Anwesenheit eines Freundes. Er suchte den Lehnstuhl, kroch dann mit kaum wahrnehmbarer Bewegung bis zum Tischchen. Sein vorgestreckter Arm tastete durchs Dunkel, seine rechte Hand berührte einen Tischfuß.

Endlich! Jetzt brauchte er nur noch aufzustehen, die Perle zu nehmen und davonzulaufen.

Mit übermenschlicher Willenskraft beruhigte er seinen Herzschlag. In dem Augenblick aber, wo er sich aufzurichten versuchte, stieß seine linke Hand auf dem Teppich an einen Gegenstand, den er alsbald als einen Armleuchter erkannte. Ein herabgeworfener Armleuchter! Und gleich daneben etwas anderes, eine jener kleinen Reiseuhren, die in einem Lederetui verwahrt sind.

»Was ist hier vorgegangen? Dieser Armleuchter, diese Uhr, warum stehen sie nicht an ihrem gewöhnlichen Platz? Ums Himmels willen, was hat sich in dieser fürchterlichen Dunkelheit zugetragen?«

Und plötzlich entfuhr ihm ein Schrei. Er hatte etwas Unheimliches berührt! Zwanzig bis dreißig Sekunden blieb er unbeweglich, entsetzt, schweißgebadet. Und seine Finger bewahrten noch immer das Gefühl jener Berührung.

Mit Aufwendung seines ganzen Willens zwang er sich, noch einmal den Arm auszustrecken. Von neuem streifte seine Hand das sonderbare Ding. Ja, das war Haar, ein Gesicht ... und dieses Gesicht war kalt, fast eisig.

Rasch drückte Lupin an dem Knopf seiner Lampe. Vor ihm auf dem Boden lag eine Frau in ihrem Blute. Hals und Schulter waren von Wunden zerrissen. Er beugte sich über sie.

»Tot!« murmelte er unwillkürlich.

Und er betrachtete ihre starren Augen, den verzerrten Mund, das wachsbleiche Gesicht und das Blut, das über den Teppich geflossen war und nun zu einer dicken, schwarzen Masse erstarrte.

Er stand auf und drehte an dem Knopf der elektrischen Beleuchtung. Deutlich konnte er jetzt die Spuren eines heftigen Ringens sehen: Das Bett aufgewühlt, die Decke samt dem Laken herabgerissen, auf dem Fußboden der Armleuchter und die Uhr, deren Zeiger auf elf Uhr zwanzig Minuten wiesen, etwas weiter davon ein umgeworfener Stuhl und überall Tümpel von Blut.

»Und die schwarze Perle?« murmelte er.

Die Schachtel mit dem Briefpapier war auf ihrem Platz. Er öffnete sie hastig. Sie enthielt das Etui, aber es war leer.

»Alter Freund,« sagte er sich, »da hast du dich zu früh deines Glückes gerühmt! Die Gräfin ermordet, die schwarze Perle verschwunden ... Die Lage ist nicht glänzend. Mache dich aus dem Staube, sonst kommst du noch für einen anderen in des Teufels Küche!«

Trotz dieser sehr richtigen Ansicht ging er aber nicht von der Stelle.

»Ja, ein anderer täte es. Aber ich? Habe ich wirklich nichts Vernünftigeres vor? Überlegen wir mal. Mein Gewissen ist ruhig ... Gesetzt den Fall, ich wäre Polizeikommissar und hätte ein Protokoll aufzunehmen. Ja, aber dazu müßte ich einen klaren Kopf haben. Und meiner brummt mir!«

Er ließ sich in einen Lehnstuhl nieder und preßte die Fäuste gegen seine brennende Stirn.

*

Der Mord in der Avenue Hoche gehört zu den Kriminalfällen, die in den letzten Jahren die Öffentlichkeit am meisten beschäftigt haben, und ich hätte ihn nicht erzählt, wenn Arsène Lupins Eingreifen ihn nicht in einem ganz neuen Lichte erscheinen ließe.

Jedes Kind in Paris kannte Leontine Zalti, die ehemalige Sängerin an der Großen Oper, die später mit dem Grafen Andillot verheiratet war und vor ungefähr dreißig Jahren Paris durch ihren Luxus blendete. Man sagte von ihr, sie trage auf ihren Schultern das Vermögen mehrerer Bankhäuser und die Goldminen aller australischen Bergwerke.

Eine Aufsehen erregende Katastrophe verschlang dann all die Reichtümer. Von der unvergleichlichen Juwelensammlung, die der Auktionator in alle Winde zerstreute, blieb nichts übrig, als die berühmte schwarze Perle, die an sich ein Vermögen bedeutet hätte, wenn sie sich zu ihrem Verkauf hätte entschließen können.

Aber das wollte sie nicht. Sie schränkte sich lieber ein und bezog eine einfache Wohnung. Ihre zahlreiche Dienerschaft entließ sie und behielt nur eine Gesellschaftsdame, eine Köchin und einen Diener. Das köstliche Juwel aber bewahrte sie; es war das Geschenk eines Kaisers.

»Solange ich lebe,« sagte sie, »werde ich mich nicht von der schwarzen Perle trennen.«

Vom Morgen bis zum Abend trug sie den Schmuck auf der Brust. Nachts versteckte sie ihn an einem nur von ihr gekannten Ort.

Die Berichte, die die Zeitungen über diese Tatsachen brachten, stachelten die Neugier auf. Durch die Verhaftung des mutmaßlichen Mörders wurde der Fall erst recht geheimnisvoll und verwickelt. Am übernächsten Tage war nämlich in den Morgenblättern folgendes zu lesen:

»Wie wir erfahren, hat die Polizei den Diener der Gräfin Andillot, einen gewissen Viktor Danègre, verhaftet. Die gegen ihn sprechenden Verdachtsmomente sind erdrückend. Aus dem Ärmel der Weste, die der Kriminaldirektor Dudouis in dessen Dachstube zwischen dem Betteinsatz und der Matratze versteckt fand, hat man Blutflecke konstatiert. Außerdem fehlt an der Weste einer der stoffüberzogenen Knöpfe. Dieser Knopf ist gleich bei der ersten Tatbestandaufnahme unter dem Bett der Ermordeten gefunden worden.

Die Polizei nimmt an, daß Danègre sofort nach dem Abendessen, anstatt seine Stube aufzusuchen, in der Wohnung der Gräfin geblieben ist und sich dort in einen Wandschrank versteckt hat. Letzterer besitzt zwei Türen, von denen die eine auf einen Korridor, die andere, eine Glastür, ins Schlafzimmer der Ermordeten führt. Durch die Glastür konnte er sehen, wo die Gräfin die Perle versteckte.

Allerdings ist dies bisher nur eine Vermutung, für deren Richtigkeit vorderhand kein Beweis vorliegt. Außerdem bleibt noch ein Punkt unaufgeklärt. Um sieben Uhr morgens ist Danègre in den Tabakladen im Hause nebenan gekommen. Der Portier und der Tabakhändler haben dies in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise bestätigt. Anderseits geben die Köchin und die Gesellschaftsdame der Gräfin, die in der Wohnung schlafen, bestimmt an, daß um acht Uhr, als sie aufstanden, die Wohnungstür und die Tür, die von der Küche zu der Dienertreppe führt, zweimal verschlossen waren. Die zwei Frauen, die seit mehr als zwanzig Jahren im Dienst der Gräfin standen, sind über jeden Zweifel erhaben. Es fragt sich also, wie Danègre, der keinen Wohnungsschlüssel besaß, sich aus der Wohnung entfernen konnte, falls die Annahme richtig ist, daß er sich abends vorher darin hatte einschließen lassen. Besaß er vielleicht einen Nachschlüssel? Es wird Aufgabe der Untersuchung sein, diese Widersprüche aufzuklären.«

Die Untersuchung klärte aber gar nichts auf. Im Gegenteil. Man erfuhr zwar, daß Danègre schon oft im Zuchthaus gesessen hatte und eines Mordes wohl fähig wäre. Der Fall selbst aber schien, je mehr man sich mit ihm beschäftigte, um so verwickelter und ganz in dichtes Dunkel gehüllt.

Vor allem gab Fräulein von Sinclèves, eine Cousine und die einzige Erbin der Ermordeten, die Erklärung ab, die Gräfin hätte ihr ungefähr einen Monat vor dem Morde in einem Briefe das Geheimnis anvertraut, wo sie die Perle versteckte. Dieser Brief wäre am Tage nach Empfang spurlos verschwunden und trotz allen Suchens nie wieder aufzufinden gewesen. Hatte ihn jemand gestohlen? Aber wer?

Anderseits stellte es sich heraus, daß der Portier in jener Nacht von einem Unbekannten, der angab, den Doktor Hamel holen zu wollen, aus dem Schlafe geweckt worden war. Man befragte den Arzt. Niemand war zu ihm gekommen. Wer also war der Unbekannte? Ein Spießgeselle?

Die Annahme, daß ein Mitschuldiger in Frage käme, fand bei der Presse und dem Publikum schon deshalb Beifall, weil sie der alte Polizeiinspektor Ganimard nicht ohne Grund verteidigte.

»Da steckt Lupin dahinter,« sagte er zum Untersuchungsrichter.

»Ach was!« ereiferte sich dieser. »Sie sehen hinter jedem Baum Ihren Lupin!«

»Ich sehe ihn überall, weil er überall ist.«

»Sagen Sie lieber, Sie sehen ihn stets dort, wo Ihnen etwas nicht klar scheint. Übrigens beachten Sie gefälligst folgendes: Der Mord ist um elf Uhr zwanzig Minuten begangen worden, wie es die herabgeworfene Uhr bezeugt, und der nächtliche Besucher schellte den Portier erst um drei Uhr morgens heraus.«

Damit schloß die Untersuchung, und der Prozeß kam vor das Schwurgericht. Die Verhandlung ging ziemlich schwerfällig vonstatten. Der Präsident zeigte wenig Eifer. Auch der Staatsanwalt brachte der Sache nur geringes Interesse entgegen. Unter diesen Umständen hatte Danègres Verteidiger leichtes Spiel. Er deckte die Blößen und Lücken der Anklage auf. Kein materieller Beweis war vorhanden. Wie war Danègre aus der verschlossenen Wohnung herausgekommen? Mit einem Nachschlüssel? Wer hatte dieses unentbehrliche Werkzeug, ohne das Danègre nicht der Mörder sein konnte, angefertigt? Und die Mordwaffe! Wo war sie, wer hatte sie gesehen, was war aus ihr geworden?

»Auf jeden Fall«, schloß der Verteidiger, »ist es die Aufgabe des Anklägers, zu beweisen, daß der Täter nicht in dem geheimnisvollen Unbekannten zu suchen ist, der sich um drei Uhr morgens ins Haus eingeschlichen hat. ›Die Uhr zeigte auf elf‹, sagen Sie. Kann man nicht die Zeiger einer Uhr stellen, wie man will?«

Der Angeklagte wurde freigesprochen.

*

Viktor Danègre verließ das Gefängnis an einem Freitag bei Sonnenuntergang, abgemagert, niedergedrückt durch die sechsmonatige Untersuchungshaft in der Einzelzelle. Die Einsamkeit, die Verhandlung, die Stunde, die die Geschworenen zur Beratung brauchten, alles das hatte ihn mit krankhaftem Schrecken erfüllt. Nachts verfolgten ihn quälende Träume, in denen die Guillotine stets wiederkehrte. Er schlotterte vor Angst und Fieber.

Unter dem Namen Artur Dufour mietete er ganz oben auf dem Montmartre eine kleine Stube und nährte sich dort von Gelegenheitsarbeiten.

Trostloses Leben! Dreimal fand er an drei verschiedenen Stellen Dienst; er wurde jedoch erkannt und sofort entlassen. Häufig bemerkte er, daß Leute ihm folgten, wahrscheinlich Geheimpolizisten, die also die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, ihn in eine Falle zu locken.

An einem Abend, als er sich in der Kneipe aufhielt, setzte sich jemand ihm gegenüber. Es war ein Mensch in den Vierzigern, der einen schwarzen Gehrock von zweifelhafter Sauberkeit trug. Er bestellte eine Suppe, Gemüse und einen Liter Wein.

Sobald der Fremde die Suppe ausgelöffelt hatte, wandte er sich zu Danègre und sah ihn forschend an.

Danègre erbleichte. Kein Zweifel, der Mensch war einer von denen, die ihn seit Wochen verfolgten. Was wollte er von ihm? Er versuchte aufzustehen, aber die Beine versagten ihm.

Der andere goß sich und Danègre ein Glas Wein ein.

»Wollen wir anstoßen, Kamerad?«

»Ja, ja ...« prost, Kamerad!«

»Prost, Viktor Danègre!«

»Ich ... ich ... aber nein ... ich schwöre Ihnen ...« stotterte Danègre.

»Was schwören Sie? Daß Sie nicht der Diener der Gräfin sind?«

»Was für eine Gräfin? Ich heiße Dufour. Fragen Sie den Wirt.«

»Dufour Artur für den Wirt, aber Danègre Viktor für die Polizei.«

»Das ist nicht wahr! Man hat Sie angelogen.«

Der Neuangekommene zog aus seiner Tasche eine Visitenkarte und reichte sie ihm über den Tisch.

Danègre las: »Grimaudan, Polizeiinspektor a. D., Privatdetektiv-Institut.«

»Sie sind von der Polizei?« fragte er ängstlich.

»Nicht mehr. Ich wars. Aber das Handwerk gefiel mir, und ich betreibe es noch auf eine einträglichere Art. Von Zeit zu Zeit stößt man auf wahre Goldgeschäftchen, wie das Ihre.«

»Das meine?«

»Nun ja, das Ihre. Ein glänzendes Geschäft, wenn Sie nur etwas Gefälligkeit zeigen wollten.«

»Und wenn ichs nicht tue?«

»Sie werden wohl müssen. Sie sind in einer Lage, in der Sie mir nichts abschlagen können.«

Eine unbestimmte Furcht erfüllte Danègre.

»Was solls?« fragte er. »Sprechen Sie!«

»Gut!« antwortete der andere. »Gehen wir gerade aufs Ziel. Fräulein von Sinclèves schickt mich.«

»Sinclèves?«

»Die Erbin der Gräfin Andillot.«

»Nun, und ...«

»Fräulein von Sinclèves hat mich beauftragt, von Ihnen die schwarze Perle zu verlangen.«

»Die schwarze Perle?«

»Die Sie geraubt haben.«

»Aber ich habe sie nicht!«

»Sie haben sie.«

»Wenn ich sie hätte, wäre ich der Mörder.«

»Sie sind der Mörder.«

Danègre versuchte zu lachen.

»Glücklicherweise, mein guter Herr, waren die Geschworenen nicht dieser Ansicht. Sie haben mich freigesprochen. Und wenn man sein gutes Gewissen und die Achtung von zwölf wackeren Richtern für sich hat ...«

Der Polizeiinspektor faßte ihn beim Arm.

»Keine Phrasen, mein Junge! Hören Sie mich gut an und erwägen Sie meine Worte. Es ist der Mühe wert. Danègre, drei Wochen vor der Tat haben Sie der Köchin den Schlüssel gestohlen, der die Tür zur Dienertreppe schließt, und haben bei einem Schlosser in der Rue Oberkampf einen Nachschlüssel machen lassen.«

»Das ist nicht wahr! Das ist erlogen!« knurrte Danègre. »Niemand hat diesen Schlüssel gesehen, er existiert nicht.«

»Doch, da ist er.«

Eine kurze Pause trat ein.

»Sie haben«, fuhr Grimaudan fort, »die Gräfin mit einem Schnappmesser getötet, das Sie an dem Tage, wo Sie den Schlüssel bestellten, im Basar des Republikplatzes gekauft haben. Die Klinge ist dreikantig und hat einen Schaft.«

»Blödsinn alles, was Sie da reden! Niemand hat das Messer gesehen.«

»Doch, da ist es!«

Danègre fuhr zurück.

»Die Klinge zeigt Rostflecken,« sprach der ehemalige Polizeiinspektor weiter. »Soll ich Ihnen sagen, woher diese stammen?«

»Und wenn schon ... Sie haben einen Schlüssel und ein Messer. Wie wollen Sie beweisen, daß die Sachen mir gehören!«

»Durch den Schlosser und den Verkäufer im Basar. Ihnen gegenübergestellt, werden Sie diese Leute gewiß erkennen.«

Er sprach in trockenem Tone und mit einschüchternder Überzeugung. Danègre wand sich vor Furcht. Weder der Untersuchungsrichter noch der Staatsanwalt oder der Vorsitzende des Schwurgerichts hatten ihn derart in die Enge getrieben und die Sachlage, die er selbst nur noch verschwommen sah, so klar erfaßt.

Nichtsdestoweniger versuchte er, den Gleichgültigen zu spielen.

»Wenn das alle Ihre Beweise sind ...«

»Ich weiß noch einen. Sie sind nach dem Morde denselben Weg zurückgegangen, auf dem Sie gekommen waren. Aber mitten im Wandschrank sind Sie gestolpert und haben sich an der Wand stützen müssen.«

»Woher wissen Sie das?« entfuhr es Danègre. »Wer hat Ihnen das gesagt? Niemand ...«

»Der Polizei ist es noch nicht bekannt, weil es keinem eingefallen ist, eine Kerze anzustecken und die Mauern des Wandspindes abzuleuchten. Aber wenn man es täte, würden sich auf dem Mörtelverputz Fingerabdrücke finden, der Abklatsch Ihrer blutbefleckten Hand, die Sie gegen die Wand gelegt haben. Der Daumen ist mit dabei. Und wissen Sie nicht, daß man im Feststellungsbureau auch von diesem einen Abdruck auf die Meßkarte genommen hat?«

Viktor Danègre war leichenfahl. Dicke Schweißtropfen liefen ihm über Stirn und Wangen. Er betrachtete mit den Augen eines Wahnsinnigen diesen sonderbaren Mann, der die einzelnen Vorgänge eines Verbrechens erzählte, als wenn er dabei gewesen wäre.

Er senkte den Kopf, besiegt, machtlos. Seit Monaten wehrte er sich gegen alle Welt. Gegen diesen Mann – das fühlte er deutlich – konnte er nicht aufkommen.

»Wieviel geben Sie mir,« flüsterte er endlich, »wenn ich Ihnen die Perle verschaffe?«

»Nichts!«

»Sie halten mich zum Narren. Sie wollen von mir ein Ding, das Tausende und Hunderttausende wert ist, und ich soll nichts haben?«

»Doch, das Leben.«

Der Elende schauderte.

»Sehen Sie, Danègre,« fuhr Grimaudan in fast sanftem Tone fort, »die Perle hat für Sie gar keinen Wert. Sie können sie ja doch nicht verkaufen. Wozu also sie behalten?«

»Es gibt Hehler ... einmal ... zu welchem Preise immer ... später ...«

»Später wird es zu spät sein.«

»Warum?«

»Weil die Polizei Sie wieder festgesetzt haben wird, und dann, mein Lieber, sind Sie bei den Beweisen, die ich liefere, unrettbar verloren.«

Viktor Danègre faßte sich mit beiden Händen den Kopf und dachte nach. Und eine große Müdigkeit überkam ihn, ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Ruhe.

»Wann wollen Sie die Perle?« flüsterte er.

»Sofort, in einer Stunde.«

»Sonst ...«

»Sonst zeigt Fräulein von Sinclèves Sie noch heute an.«

Danègre goß sich ein Glas Wein ein, das er auf einen Zug hinunterstürzte. Dann stand er auf.

»Zahlen Sie, und gehen wir ... ich habe die verfluchte Geschichte satt!«

Die Nacht war gekommen. Die beiden Männer stiegen den Berg bis zu den äußeren Boulevards hinab und folgten diesen in der Richtung zum großen Stern. Sie schritten schweigsam dahin, Danègre sehr müde mit gekrümmtem Rücken.

»Es ist in der Nähe des Hauses,« sagte er, »beim Park Monceau.«

»Natürlich! Sie haben das Haus vor Ihrer Verhaftung ja nur verlassen, um in den Tabakladen zu gehen.«

»Wir sind angelangt,« sagte Danègre mit heiserer Stimme.

Sie gingen das vergoldete Parkgitter entlang und bogen in eine Straße ein, an deren Ecke ein Tabakladen war. Danègre blieb einige Schritte darüber hinaus stehen. Seine Beine schlotterten. Er fiel auf eine Bank.

»Nun?« fragte sein Begleiter.

»Hier.«

»Was, hier? Wollen Sie mich zum Narren halten?«

»Ja hier, vor uns.«

»Vor uns! Hören Sie, Danègre, Sie irren sich, wenn Sie ...«

»Ich sage Ihnen, sie ist hier.«

»Wo?«

»Zwischen zwei Pflastersteinen.«

»Welchen?«

Danègre antwortete nicht.

»Ah! Ich verstehe, du willst mich irreführen, mein Junge.«

»Nein ... aber ... ich werde verhungern.«

»Und deshalb zögerst du? Nun, ich will ein guter Kerl sein. Wieviel forderst du?«

»Das Geld zur Überfahrt nach Amerika.«

»Abgemacht!«

»Und hundert Franken für die erste Zeit.«

»Du sollst zweihundert haben. Aber jetzt sprich!«

»Zählen Sie die Pflastersteine rechts vom Rinnstein. Zwischen dem zwölften und dreizehnten.«

»In der Rinne?«

»Ja, unter dem Trottoirvorsprung.«

Grimaudan blickte um sich. Auf der Straßenbahn herrschte Verkehr, und Fußgänger passierten die Stelle. Doch was weiter! Kein Mensch konnte auch nur ahnen, worum es sich handelte.

Er öffnete also sein Taschenmesser und stach damit zwischen den zwölften und dreizehnten Stein.

»Falls sie aber nicht da ist?«

»Wenn mich niemand gesehen hat, als ich sie versteckte, dann ist sie noch da.«

»In welcher Tiefe?«

»Ungefähr zehn Zentimeter.«

Er grub den feuchten Sand auf. Da stieß die Spitze seines Taschenmessers auf einen harten Gegenstand. Er vergrößerte mit den Fingern das Loch und erblickte die schwarze Perle.

»Hier hast du deine zweihundert Franken. Dein Überfahrtsbillett schicke ich dir morgen.«

Am nächsten Tage stand im »Echo de France« folgende Notiz: »Seit gestern ist die berühmte schwarze Perle im Besitz Arsène Lupins, der sie dem Mörder der Gräfin Andillot abgenommen hat. In kurzer Zeit werden getreue Nachbildungen dieses einzigen Kleinods in London, St. Petersburg, Neuyork, Kalkutta und Buenos Aires ausgestellt werden. Arsène Lupin sieht den Vorschlägen seiner Geschäftsfreunde entgegen.«


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