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Bärbels Kinderjahre.

Von M. Spiegler-Rechler.

1. Etwas Neues.

Auf den Steinstufen unter dem weit hervorstehenden Schieferdach eines kleinen Hauses in Mähren saß, vor etwa vierzig Jahren, ein vierjähriges Mädchen. An den Schläfen herum waren die Haare fest geflochten und hinten zusammengebunden. Das einfache Waschkleidchen war sauber, trug aber schon manchen aufgenähten Flecken.

»Bärbel, komm,« rief plötzlich der siebenjährige Bruder, »komm mit auf die Dorfstraße, dort sind Bären,« und eilig lief Ernst davon. Bärbel kletterte langsam die hohen Stufen hinunter, indem es laut vor sich hinsagte:

» Beeren, – auf der Dorfstraße, die wachsen doch im Walde. Warum läuft Ernst so schnell weg? Mutter hat eine ganze Schüssel Heidelbeeren in der Küche stehen. Wir haben sie doch erst gestern gepflückt!«

Schnell trippelte sie die schmale Gasse entlang, die zur Hauptstraße führte. Da hörte sie ein Rufen und Trommeln. Sie erschrak. So ein Getöse kannte sie noch nicht. Sie blieb stehen. Wenn doch jemand käme! Wo war nur Otto, der ältere Bruder? Freilich, er neckte und ärgerte die kleine Schwester oft, aber vielleicht hätte er ihr doch gesagt, was das alles zu bedeuten hatte! –

Der Lärm kam immer näher. Tränen füllten die großen Blauaugen, und Bärbel wollte gerade umkehren, da sah sie die Mutter hinter sich stehen. Mit dem Ausruf:

»Mutter, Mutter, ich fürchte mich so!« grub sie ihr Gesicht in deren Schürze.

»Du, Hasenfußel du, komm, wir wollen einmal zusammen sehen, was los ist.«

Sie erfaßte Bärbels Hand, und nun ging die Kleine voll Neugierde weiter. Aber sie erschrak wieder, als sie nun einen braunen, zottigen Mann, wie sie meinte, tanzen sah, der an einer Kette gehalten wurde, und einige Schritte weiter noch einen. Zitternd lehnte sich Bärbel an die Mutter und bat:

»Komm, wir wollen heimgehen, ich fürchte mich so.«

»Ich werde dich auf meinen Arm nehmen,« sagte beruhigend die Mutter und hob Bärbel in die Höhe.

»So, nun sieh einmal zu, das sind Bären, die können uns nichts tun. Die armen Tiere sind nirgends zu Hause, sie müssen alle Tage wandern, von einem Dorf zum andern, und müssen tanzen, damit die Männer dadurch Geld einnehmen. Schau, wie ihnen das Brot schmeckt.«

Eben reichte eine mitleidige Bäuerin den braunen Tieren eine Schnitte. Bärbel wußte nichts zu sagen. Fest umklammerte sie den Hals der Mutter, und staunend sah sie mit ihren großen Augen auf die Bären. Ihr ging eine neue Welt auf. Also Ernst hatte nicht Beeren aus dem Walde gemeint, sondern Tiere, die wie Menschen gehen konnten. Aber warum wurde so viel Lärm gemacht, wenn sie tanzten? Bärbel hielt sich die Ohren zu. Sie haben kein Haus, wie schrecklich das sein mußte! Ihr Bello daheim hatte doch eine Hundehütte. Wo schliefen nur diese Tiere?

Endlich zogen die Bärenführer weiter, und die Mutter ging mit Bärbel heim. Otto und Ernst kamen erst später nach Hause; sie hatten mit der anderen Dorfjugend die fremden Männer noch ein langes Stück begleitet.

Was wußten die beiden Knaben noch alles zu erzählen! Still hörte Bärbel zu, und obgleich sie allerlei Fragen auf dem kleinen Herzen hatte, so wagte sie doch nichts zu sagen, denn ausgelacht wollte sie nicht werden. Als es anfing zu dunkeln, ging sie unbemerkt in die Kammer, wo die Betten der Kinder standen, zog ihre Kleider aus und legte sich schlafen. Zuerst aber faltete sie ihre Händchen und betete: »Lieber Heiland, behüte Vater und Mutter, auch Otto und Ernst, und mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm, und gib auch den armen Bären ein Haus, wo sie schlafen können. Amen.«

2. Leiden und Freuden.

Bärbels Vater war Arbeiter und ging alle Tage in einen nahen Schieferbruch als Steinbrecher. In einem Beutel nahm er als Tageszehrung einige kräftige Brotschnitten und ein Stück Schwarzspeck mit. Abends aß er dann mit der Familie das einfache Nachtmahl, das wenig Abwechslung bot. Entweder Erdäpfel mit Schlickermilch, oder Kohlrüben, Vaters Lieblingsgericht, mit einem Stück Brot. Bärbel schmeckte die Mahlzeit gar nicht, aber sie mußte immer ihren Teller voll essen; etwas anderes gab es nicht. Einmal ging das vierjährige Kind nach dem Abendbrot zur Mutter, schlang die Ärmchen um deren Hals und sagte ihr ganz leise ins Ohr:

»Gelt, Mutter, wenn Vater nicht mehr lebt, dann kochst du keine Kohlrübensuppe mehr?«

»Kind, Kind, was sagst du da? Du hast doch Vater lieb!«

»O ja, Mutter, aber die Kohlrübensuppe doch nicht.«

Von dem Tage an bekam Bärbel nur ganz wenig Kohlrüben auf ihren Teller, dagegen ein größeres Stück Brot dazu.

Während Vater Großmann rüstig im Schieferbruch arbeitete, besorgte seine Frau daheim die kleine Landwirtschaft; denn zu dem Häuschen gehörte etwas Acker, sodaß sie eine Kuh füttern, ein Schweinchen mästen und Federvieh halten konnten.

Einige Tage nach dem Erlebnis mit den Bären sehen wir Bärbel wieder auf der Dorfstraße. Allein steht sie bei einem Bäckerwagen, vor den ein elendes Pferd gespannt ist, und gerade will sie ihr Vesperbrot dem alten Gaul reichen, da hört sie ihren Namen rufen:

»Bärbel, was machst du da? Behalte deine Schnitte lieber für dich. In dem Wagen sind so viele Brote, der Bäcker kann sein Pferd, wenn er will, allein damit füttern.«

Es war eine alte Frau, die das sagte und Bärbel gerade wegführen wollte, als der Bäcker selbst hinzutrat. Er hatte die letzten Worte gehört.

Freundlich sagte er zu der Kleinen:

»Hast du keinen Hunger, warum wolltest du deine Schnitte weggeben?«

»Ich dachte,« sagte schüchtern das Kind, »weil das Pferd so traurig aussieht, es hat vielleicht Hunger, und den Bären schmeckte das Brot auch gut, darum wollte ich's ihm geben.«

»Du hast ein mitleidiges Herz, und schmecken wird meinem alten Schimmel freilich dein Brot. Gib es mir, ich will es ihm selbst reichen, und du nimm stattdessen diesen Mohnkuchen!«

Der freundliche Mann griff in einen Kasten und holte einen solchen hervor. Wie strahlten die Kinderaugen! Bei Großmanns kamen selten Leckerbissen auf den Tisch. Eilig lief Bärbel nach Hause. Da kam ihr Ernst entgegen.

»Du, beiß einmal.«

Das ließ sich der Bruder nicht zweimal sagen.

»Wo hast du den Kuchen her?«

Bärbel erzählte es ihm. Als sie nun auch Otto herzukommen sah, fing sie selbst schnell an zu essen, es war doch ihr Vesper. Den letzten Bissen steckte sie aber doch noch Otto in den Mund.

3. Christelpate.

Es war ungefähr ein Jahr später; da kam eines Sonntags eine Großtante zum Besuch, Christelpate genannt. Wie sich die Kinder freuten! Sie wurde von allen hoch verehrt. Aus ihrem runzligen, kleinen Gesicht schauten ein paar gütige Augen und das große, bunte Kopftuch, das nach uralter Mode über den Ohren zusammengeknüpft war, sodaß die langen Zipfel über die Schultern herabfielen, machte sie den Kindern erst recht ehrwürdig; denn so gingen nur noch wenige ganz alte Mütter in ihrem Dorf. In dem faltenreichen Kleiderrock aus großblumigem Kattun, der so schön und »apart« aussah, waren tiefe Kleidertaschen, in denen immer allerlei Schätze verborgen steckten, die den Kindern Freude machten. Dieses Mal bekam Bärbel ein schönes, bunt bemaltes Taschentuch, Ernst einen eckigen Buntstift und Otto ein Taschenmesser. Staunend betrachtete Bärbel ihr Mitbringsel. War es nicht zu schade, solch ein feines Taschentuch zu benutzen? Mutter hatte ihr bis jetzt immer nur eingesäumte, selbst zurechtgemachte Stückchen alte Leinwand gegeben. Wie teuer wohl ein so bemaltes Tüchlein kommen mochte? Und ob es zu waschen ging? Immer wieder strich sie liebevoll über ihr Geschenk.

Als Christelpate gegen Abend ihren Heimweg antrat, begleitete sie die ganze Familie eine Stunde weit. Auf dem Rückweg rief Ernst plötzlich:

»Mein Schreibstift ist nicht da! Ich hab ihn doch in die Tasche gesteckt. Mutter, mein Schreibstift ist weg.«

»Wir wollen noch einmal den Weg zurückgehen, so weit wir Christelpate begleitet haben.«

Aber umsonst. Man war auch teilweise quer über ein Stoppelfeld gegangen, da war es schwer, den Stift zu finden. Unverrichteter Sache mußten alle heimkehren. Bärbel hielt ihr Taschentuch fest und nahm es auch mit ins Bett. Ernst war ärgerlich. Wäre es ein gewöhnlicher Bleistift gewesen, aber es war ein Buntstift, den bekam er nie wieder. In Bärbels kleinem Herzen wogte es auf und nieder, ob sie sich wohl von ihrem Taschentuch trennen sollte, um es Ernst zu geben? Sie kam zu keinem Entschluß. Am Morgen hielt sie ihr Tüchlein noch fest in der Hand, da fiel ihr Ernsts Verlust wieder ein. Ach, sie konnte eigentlich ihr Geschenk nicht dem Bruder geben. Ob sie Mutter fragen sollte? Wer weiß, ob Ernst das Taschentuch überhaupt haben wollte? Wer weiß, ob es ihm so lieb sein würde, wie der verlorne Stift! Sie sprang aus dem Bett und eilte zur Mutter, die am Kochherd beschäftigt war, und klagte ihr den Zwiespalt ihres Herzens.

»Nein, mein Kind, du brauchst dein Tüchlein nicht herzugeben, du kannst es ruhig für dich behalten, es ersetzt Ernst den Stift nicht, er hätte besser auf sein Geschenk achten sollen.«

Bärbel fühlte sich erleichtert.

4. Bärbel will zur Kirche gehen.

An den Sonntagen ging der Vater regelmäßig, wenn es die Witterung erlaubt, in die zwei Stunden entfernte Kirche. Die Mutter konnte ihn nur selten begleiten, aber Otto, der Älteste, durfte schon öfters mitgehen. Im Sommer sogar auch Ernst zuweilen. Die Wanderung ging zuerst über Felder und auf schlechten Ackerwegen, erst das letzte Stück auf guter, gepflasterter Straße. Bärbel wäre so gern mitgegangen, wenigstens im Sommer, wo man am Wesenrain einmal ausruhen konnte, aber Otto hatte zu ihr gesagt:

»Du kannst nicht mit zur Kirche gehen, da muß man Lederschuhe oder Stiefel anhaben.«

Ach, und die hatte Bärbel nicht. Mutter kaufte ihr immer im Herbst »Potschen« das waren dicke Filzschuhe mit Ledersohlen. Sie hielten bis in den Sommer hinein, dann trug sie leichte Holzpantoffel, wie viele Dorfkinder, oder sie ging barfuß. Die Jungens dagegen bekamen, weil sie älter waren, jeden Herbst handfeste Stiefel, die für jene schneereiche Gebirgsgegend auch nötig waren. Diese Stiefel wurden immer schön mit Schweineschmalz eingefettet, so blieb das Leder auch bei aller Nässe geschmeidig und gut.

An einem Samstag im Juni, als die Brüder ihr Schuhwerk putzten, holte Bärbel ihre Potschen und sagte:

»Warum kann ich nicht mit zur Kirche gehen? Meine Schuhe sind noch garnicht zerrissen!«

Da lachten Otto und Ernst und riefen:

»Was denkst du? Potschen sind doch nicht fein. In der Kirche darf man nur mit Lederschuhen sitzen. Was würden die Leute sagen, wenn du mit deinen dicken Potschen kämst.«

Wieder um etwas klüger, ging Bärbel still und traurig ins Haus und stellte ihre Filzschuhe in die Ecke.

5. Walderlebnisse.

Einige Tage später gingen die drei Geschwister in den Wald, um Reisig zu sammeln. Das taten sie gern, denn was fand man nicht alles unter den hohen Nadelbäumen: Gelbhühnchen, diese wohlschmeckenden, kleinen Pilze, Tannzapfen, große Käfer, die die Brüder in Schachteln einfingen, und bunte Federchen. Bärbel mußte mit ihren fünf Jahren schon fleißig helfen. Sie hob gerade einige Reiser auf, da fiel ihr etwas auf den Kopf. Sie fuhr zusammen, doch als sie aufblickte, sah sie ein munteres Eichhörnchen von Ast zu Ast Hüpfen, und vor ihr lag auf dem weichen, glatten Waldboden ein schöner Tannpilz. Sicher hatte ihn das flinke Tierchen mit in die Baumkrone genommen, und nun war ihm der Leckerbissen entfallen. Bärbel war glücklich über diesen Fund. Wie würde sich die Mutter freuen, wenn sie ihr so einen schönen Pilz mitbrächte. Sie zeigte ihn den Brüdern, die ihn auch gut fanden und ihn in das Zipfeltüchlein zu den Gelbhühnchen taten.

Es war an einem warmen Augusttage.

»Otto,« sagte die Mutter nach der Mahlzeit, »nimm unsre Schecke«, so hieß die Kuh, »an den Strick und hüte sie am Waldessaum. Ernst und Bärbel können mitgehen.«

So zogen denn die drei Geschwister los. Etwa eine halbe Stunde mußten sie erst wandern, bis sie zu der Stelle kamen, wo der Eigentümer des Waldes der Arbeiterfamilie die Erlaubnis gegeben hatte, ihre Kuh weiden zu lassen. Die Kinder lagerten sich, während die Schecke es sich gut schmecken ließ. Von Zeit zu Zeit rückte die Gesellschaft weiter. Otto war ein guter Rechner. »Ernst, was meinst du«, sagte er, »was jene hohe Fichte dem Besitzer einbringen kann? Schau, elf Meter ist sie sicher hoch. Jeder Meter bringt viel Geld, und nun rechne nur einmal, zwanzig Fichtenstämme, wie viel mag das sein?«

Ernst, mit seinen neun Jahren, wußte nichts zu sagen, er war froh, als der ältere Bruder selbst weiter rechnete und gar nicht erst eine Antwort abwartete. Bärbel staunte Otto an. War der aber klug! Ob sie wohl auch mal würde so rechnen können?

Die Zeit verging schnell, die Kinder merkten nicht, daß sich der Himmel mit Wolken überzog. An klaren Sommertagen war ihre Uhr das »Schattenmännchen«, wie sie es nannten, denn vom Dorf her hörten sie keinen Glockenschlag. So stellten sie sich aufs nahe Feld und sahen nach ihrem eignen Schatten. Stand die Sonne hoch am Himmel, so war er kurz, ging es auf den Abend zu, so wurde das Schattenmännchen lang und länger, und sie merkten, daß es Zeit war heimzugehen. Heut aber war die Sonne, die glühend heiß geschienen hatte, hinter dicken Wolken verschwunden. Schon hörte man ein Donnerrollen und einzelne Blitze zuckten hernieder.

Die Kinder standen schnell auf, um heimwärts zu wandern. Bärbel hatte in ihrem blauen Schürzlein gute Blumenerde aus einem hohlen Baumstumpf eingerafft, um sie Mutter für die Geranien, die am Fenster standen, mitzunehmen. Plötzlich blieb Otto stehen und rief, indem er auf den Weg zeigte: »Achtung! Ausweichen!«

Bei einem Stein lag eine Kreuzotter. »Der Lehrer hat gesagt, daß die Schlange giftig ist, seht ihr das Zickzackband auf dem Rücken?«

Da – mit einem Male fielen große Regentropfen, es zuckte ein greller Blitz, dem ein heftiges Krachen folgte. Am ganzen Körper zitternd standen die Geschwister da. Die Schecke hatte bei dem heftigen Donnerschlag einen Sprung seitwärts getan und lief nun querfeldein dem Dorfe zu. Es goß in Strömen, aber das Gewitter schien sich durch den einen Schlag entladen zu haben. Otto fand zuerst Worte. Indem er wieder auf etwas zeigte, sagte er:

»Schaut, der Blitz hat dort in den Baum geschlagen!«

Lange Holzsplitter lagen umher.

Bärbel bat:

»Kommt, ich will zur Mutter!«

»Ob die Schecke wohl schon zu Hause ist?« sagte Ernst, »und was wird Mutter denken, daß sie allein kommt?«

Die Kinder kamen nur langsam vorwärts, denn die durchnäßten Kleidungsstücke lagen fest auf dem Körper. Bärbel hielt dazu noch ihr Schürzlein zusammen mit der durchweichten Erde. Es kam ihr gar nicht der Gedanke, sie fallen zu lassen.

Endlich sahen sie ihr Häuschen und Mutter kam ihnen entgegen mit dem Ausruf:

»Gott sei Dank, ich war in großer Sorge, als die Schecke allein kam. Nun schnell in die Stube und trockene Kleider angezogen. Aber Kind, Bärbel, was hast du in der Schürze? Wie siehst du aus?«

Die braune, erdige Brühe war an ihrem Kleid heruntergelaufen.

»Schütte schnell die Erde aus und komm herein.«

Traurig folgte die Kleine.

Als die Familie beim Abendessen saß, hatten die Kinder dem Vater viel zu erzählen und schließlich sagte er:

»Wem haben wir's wohl zu danken, daß wir alle gesund hier um den Tisch sitzen?«

»Dem lieben Gott!« klang es ihm dreistimmig entgegen.

»So nun laßt uns ihm ein Danklied singen!« und der Vater stimmte an:

»Was unser Gott erschaffen hat,
Das will er auch erhalten.
Darüber will er früh und spat
Mit seiner Güte walten.
In seinem ganzen Königreich
Ist alles recht, ist alles gleich.
Gebt unserm Gott die Ehre!«

6. Helfen wollen.

Es war Herbst. Die Kinder hatten die Eltern über die vielen Ausgaben seufzen hören. Das Dach des Hauses war schlecht und in der Kammer war der Schwamm in der Diele. Eifrig berieten Otto und Ernst, wie sie Wohl Geld verdienen könnten, um Vater und Mutter zu unterstützen. Endlich war ihnen etwas eingefallen. Sie hatten gehört, daß die kleinen schwarzen Körner, die in manchem Jahr mehr, in manchen Jahren weniger, unter dem ausgedroschenen Getreide gefunden werden, »Mutterkorn« heißen und von dem Apotheker gekauft würden. Das war etwas. Bärbel wurde beauftragt, auf den elterlichen Schüttboden zu gehen und dort die schwarzen Körnchen zu sammeln, während die Jungen zu einigen Bauern gingen und dort um Erlaubnis baten, Mutterkorn zu sammeln. Mit der Zeit hatten sie ein schönes Häufchen beisammen. Sie banden es in ein funkelnagelneues, blaues Sacktüchlein, das ihnen die Mutter zur Verfügung stellte, und alle drei zogen damit in die nächste Stadt, die eine Stunde entfernt war.

Der Apotheker wog die Ware ab und händigte ihnen zwölf Kreuzer ein. Das war freilich nicht viel, aber doch schon etwas. Wie sie sich freuten in dem Gefühl, den Eltern zu helfen.

Unter allerlei weiteren Plänen, Geld zu verdienen, gingen sie heimwärts. Glückstrahlend riefen sie der Mutter entgegen:

»Wir haben's verkauft. Hier sind zwölf Kreuzer. Gelt, einige Dachsteine können davon schon bezahlt werden?«

»Gewiß, Kinder,« sagte die Mutter lächelnd und legte das Geld in eine bunte Blumenvase, die im Glasschrank stand und zuweilen als Sparkasse benutzt wurde.

»Und nun gebt mir auch das Sacktüchlein zurück.«

Otto faßte in seine Tasche, sah Ernst an, und Ernst blickte fragend auf den Bruder. Wo war das Tuch? Otto hatte es eingesteckt. Als sie durch den Wald gekommen waren, hatten die Kinder sich gelagert, und Otto hatte es aus der Tasche genommen und neben sich gelegt, um die kleine Geldtasche hervorzuholen und die erhaltenen Kreuzer noch einmal zu besehen. Sicher hatten sie das Tüchlein an dem Lagerplatz liegen lassen. Otto stürmte davon, um es womöglich noch zu finden, aber vergebens. – Traurig kehrte er zurück. Traurig waren alle. Eins machte dem andern Vorwürfe, nicht aufgepaßt zu haben. Das Sacktüchlein hatte zwanzig Kreuzer gekostet, somit war, bei aller Freude und Mühe der Kinder, ein Verlust von acht Kreuzern herausgekommen.

7. Bärbels Opfer.

Bärbel war jetzt zehn Jahre alt und ging gern in die Schule. Wie freute sie sich, nun nicht mehr immer als die dumme Kleine zu gelten. Sie konnte lesen. Und wer lesen kann, ist schon sehr klug, dachte sie, zumal sie vom Vater einmal das Lob hörte:

»Bärbel liest mit ihren zehn Jahren besser, als du, Ernst, und du bist drei Jahre älter.«

Otto war seit Ostern bei einem Bäcker in der Lehre.

Eines Tages gab der Lehrer in der Schule einigen unbemittelten Kindern für irgend eine Vorstellung, die in der nahen Stadt gegeben werden sollte, Freikarten. Ernst und Bärbel bekamen jedes eine. Auf dem Heimweg kam des Schmiedmeisters Lore zu Bärbel und sagte:

»Du kannst froh sein, daß du eine Karte umsonst bekommen hast. Ich ginge auch gern hin, aber mein Vater gibt für uns Kinder kein Geld aus, er verbraucht alles für sich im Wirtshaus.«

»Da, Lore, da hast du meine Karte,« sagte Bärbel und reichte ihr den Ausweis, »mein Vater wird uns nicht erlauben zu gehen, da kannst du die Karte gern haben.«

Jubelnd lief Lore davon. Am Abend zeigte Ernst dem Vater seine Freikarte und fragte, ob er gehen dürfe.

»Nun, wenn sie euch der Lehrer gegeben hat, dann wird es nichts Schlechtes sein, dann könnt ihr getrost mitgehen.«

Als Bärbel das hörte, schossen ihr die Tränen in die Augen, also war sie doch wieder die Dumme gewesen, daß sie voreilig ihre Karte weggegeben hatte. Lore, das wußte sie, gab sie ihr sicher nicht wieder zurück.

Am nächsten Tage mußte Bärbel allein die Kuh hüten, denn Ernst war mit der Schulklasse zur Vorstellung gegangen. Als das Kind mit ihrer Schecke am Waldesrand entlang geht, sieht es plötzlich etwas vor sich liegen. Es ist ein kleiner, schwarzer Lederbeutel mit einer dünnen Schnur umwickelt, an der schöne, weiße Muscheln hängen.

Sorgfältig öffnet Bärbel den Beutel, da blicken ihr mehrere Silbergulden entgegen.

»O, das ist fein,« denkt sie. Sie kann es kaum erwarten nach Hause zu kommen. Was wird die Mutter sagen! So viel Geld! Nun denkt sie nicht mehr an die Vorstellung, ihre Gedanken sind vollauf mit dem wertvollen Funde beschäftigt. Endlich zeigt das Schattenmännchen, daß der Abend da ist. Sie eilt heim. Wer zu ihrer großen Enttäuschung löst der gefundene Schatz bei der Mutter keine besondere Freude aus.

»Bärbel, das Geld dürfen wir nicht behalten, das gehört uns nicht, das mußt du zum Vorsteher tragen, der wird es ausbieten lassen, damit es der rechtmäßige Eigentümer wieder bekommt.«

Ach, so viel Geld, und Vater und Mutter sollen nichts davon haben! Wie ihr das leid tat! – Sie ging schweren Herzens zum Vorsteher des kleinen, abgelegenen Gebirgsdorfes. Am Hoftor begegnet ihr die Bäuerin. Erstaunt fragt sie:

»Nun, Bärbel, was willst du hier?«

Verlegen zeigt das Kind den Beutel.

»Du meine Güte, das ist ja meines Alten Geldtasche!. Wie kommst du dazu?«

Bärbel erzählte nun, wo sie es gefunden, und was die Mutter gesagt hatte. Sie waren unterdessen in der großen Gesindestube angelangt. Der Bauer, der zugleich der Vorsteher des Ortes war, saß am Tisch und ließ sich ein fettes Schinkenbrot gut schmecken.

»Da, sieh einmal, Alter,« so begrüßte ihn seine Frau, »was ist denn das?« Dabei hielt sie ihm den Beutel dicht vor das Gesicht. Der Bauer riß die Augen weit auf und schaute bald auf seine Frau, bald auf das Kind. Er nahm das Ledertaschel, öffnete es bedächtig und zählte den Inhalt.

»Hm, es stimmt, kein Heller fehlt. Wo war der Beutel?«

Wieder mußte Bärbel berichten und der Bauer sagte, sich an seine Frau wendend:

»Als ich zu Mittag aus der Stadt kam und meinen Anzug wechselte, merkte ich den Verlust und ärgerte mich sehr darüber, aber ich wollte es dir nicht sagen, weil du dich noch mehr geärgert hättest.«

Er entnahm nun dem Beutel einen blanken Gulden, reichte ihn Bärbel und sagte:

»Du hast eine gute, rechtschaffne Mutter und du bist ein folgsames, ehrliches Kind. Nimm dies als Finderlohn.«

Bärbel wußte nicht, wie ihr geschah. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Sie strahlte. Und als die Bäuerin ihr noch ein Stück Napfkuchen reichte, da kam sie sich überreich vor. Sie dankte mehr als einmal und eilte heim.

»Mutter«, rief sie, »ich bin so froh, daß ich nicht mit der Klasse zu der Vorstellung gegangen bin, sieh nur, sieh, was ich habe.«

8. Eierbärbel.

Wenige Tage nach dem Erlebnis kam die Frau des Gemeindevorstehers zu Bärbels Mutter. Erstaunt und etwas verlegen schaute die einfache Taglöhnersfrau drein. Was wollte die reiche Bäuerin von ihr? Stimmte gar etwas nicht mit Bärbels Fund? Sie kam nicht weit mit ihrem Denken, denn schon hub die Besucherin an:

»Großmännin, Eure Bärbel gefällt mir, sie ist ein aufgewecktes, ehrliches Ding. Wie wär's, wenn sie mir alle Wochen dreimal einen Korb Eier in die Stadt zur Nagel-Bäckerin trüge. Ich will ihr für den Weg zwanzig Kreuzer geben.«

»Das wird sie gern tun,« erwiderte Frau Großmann, »wann soll sie gehen?«

»Gleich heut nach der Mittagsmahlzeit.«

Wie freute sich Bärbel, als sie aus der Schule kam und die Botschaft hörte. Jetzt sollte sie also jede Woche einen regelrechten Verdienst haben. Das war zu schön.

Die Bäckersfrau, zu der Bärbel die Eier brachte, schenkte ihr jedesmal ein knusperiges Semmelhörnchen, und weil sie ihr gleich in dem leeren Eierkörbchen Gebäck für das Gasthaus ihres Heimatdorfes mitgab, erhielt Bärbel noch fünf Kreuzer. Das war eine Freude, sie kam sich unendlich reich vor.

»Mutter, was kann ich dir nun alles dafür kaufen?«

»Vorerst nichts, mein Kind. Spare das Geld zusammen, und wenn es dann reicht, schaffen wir neue Schuhe für dich an.«

Bärbel war einverstanden. In der Schule hieß sie bald nur noch: »Eierbärbel«. Das machte ihr keinen Kummer, sondern schien ihr ein richtiger Ehrenname zu sein.

9. Der Eulenbaum und seine Folgen.

Es war Anfang September, als Bärbel wieder einmal mit einem Korb voll Eier in die Stadt wanderte. Anton, ein Schulkamerad, gesellte sich zu ihr, denn er hatte denselben Weg.

»Hast du schon einmal eine Eule gesehen?« fragte er unterwegs.

»Nein, wie groß ist denn eine Eule?«

»Weißt du, dort drüben steht ein alter, hohler Baum.« Er wies mit dem Finger nach der Richtung, wo ein kleines Wäldchen lag. »In dem hohlen Baum ist ein Eulennest. Wenn man mit dem Stock an den Stamm schlägt, dann erschrecken die Eulen und fliegen heraus. Wollen wir einmal hingehen?«

»Ach ja, eine Eule möchte ich zu gern einmal sehen!«

Die Straße war an dieser Stelle etwas höher, die Felder daneben lagen tiefer. Die Kinder mußten eine Böschung hinuntersteigen, um zu dem Baum zu gelangen.

Vorsichtig kletterten sie hinab, gingen an den Baum, und Anton schlug mit einem Stecken fest gegen den Stamm. »Huhuhu!« schrie eine erschreckte Eule, flog heraus, setzte sich einen Augenblick auf einen Ast und flog dann ins Weite. Die Kinder schauten ihr nach und gingen dann zurück zur Straße. Anton war schnell wieder oben, Bärbel kletterte vorsichtig die Böschung in die Höhe, rutschte aber aus, und mehrere Eier fielen aus dem Korbe. Sie stieß einen lauten Schrei aus. Anton kam ihr schnell zu Hilfe. Zum Glück waren die Eier nicht ganz zerbrochen, aber einen Sprung hatten sie alle. Bärbel weinte und sagte:

»Was soll ich machen? Ich bekomme gewiß Schelte und muß die Eier bezahlen!«

»Ach, jammere doch nicht so, du darfst natürlich nicht erzählen, daß wir bei dem Eulenbaum waren. Sage, ein Wagen kam schnell gefahren, du bist gestolpert, dabei sind die Eier entzweigegangen. Dann wird die Frau nicht schelten.«

»Ich kann doch aber nicht lügen!«

»Dann sage, was du willst!«

Wortlos ging Bärbel das letzte Stück des Weges neben Anton her. In ihrem Herzen wogte und wallte es. Zögernd trat sie dann in den Bäckerladen.

»Das ist schön, daß du kommst«, sagte die Bäckerin. »Aber was hast du denn, warum weinst du?« –

»Ich, – ich bin gestolpert und da sind – sind –«

»Da sind die Eier entzwei gegangen, nicht wahr?« ergänzte die freundliche Frau den Satz. Sie nahm Stück für Stück heraus und besah sie. Sechs Eier waren zersprungen.

»Aber Kind, wie kann man denn auf glatter Straße stolpern? Du mußt unterwegs nicht träumen, sondern auf den Weg achten. Für dieses Mal will ich der Bauersfrau noch nichts sagen, aber sei in Zukunft recht achtsam.«

Gesenkten Hauptes verließ Bärbel den Bäckerladen. Am Abend sagte sie zu der Mutter:

»Ich möchte gern das Geld, das ich heut bekommen habe, der armen, kranken Tine im Gemeindehaus geben.

Erstaunt sah die Mutter ihr Kind an, aber Bärbel blickte scheu zur Seite.

»Warum willst du gerade heute das Geld verschenken?«

»Weil, – weil ich denke, – ich denke, sie wird sich freuen.«

»Kind, hier stimmt etwas nicht, wo fehlt es denn?«

Da fiel Bärbel der Mutter um den Hals und weinte. Endlich, nach langem Fragen kam es heraus:

»Ich habe gelogen.« Und nun erfuhr die Mutter die Eiergeschichte.

»Kind, und da dachtest du, dein Gewissen, das so unruhig klopfte, könntest du beruhigen, wenn du dein Geld heut der alten Tine schenken würdest. Nein, so bekommst du keine Ruhe und keinen Frieden. Mit guten Werken können wir ein Unrecht nicht wieder gut machen. Es bleibt nichts anderes übrig, als morgen in die Stadt zu gehen und deine Lüge einzugestehen.«

»Ach Mutter, eigentlich ist doch der Anton schuld daran.«

»Nein, wenn wir sündigen, dürfen wir nie bei anderen die Schuld suchen. Du warst nicht mutig genug, gleich den wahren Sachverhalt zu erzählen. Nun mußt du dich jetzt demütigen, alles sagen und noch die Lüge eingestehen.«

»Mutter, ich schäme mich aber so sehr!«

»Das glaube ich wohl, aber das hilft nun nichts. Und vor allem vergiß nicht, auch den lieben Gott um Vergebung zu bitten, ihn hast du am meisten betrübt.«

Am andern Tage wanderte Bärbel ohne Eierkorb zur Stadt. Klopfenden Herzens trat sie in den Bäckerladen und stieß hastig die Worte hervor: »Ich habe gestern gelogen.«

Erstaunt nahm die Bäckerin sie an der Hand und zog sie zu sich auf die Bank. Da erzählte Bärbel erst stockend, dann immer mutiger, wie alles gekommen war. Liebevoll strich ihr die Frau, als sie geendet, über das Haar und sagte:

»So ist es recht, mein Kind, immer die Wahrheit sagen und alles eingestehen. Ich will dir ein Verslein sagen, das merke dir:

Halte dein Gewissen rein,
Immer, auch im Kleinen!
Dringt ins Aug ein Stäublein ein,
Mußt du weinen, weinen.
So soll's auch im Innern sein,
Von der Schuld und Fehle
Macht nur Jesus ganz allein
Rein und frei die Seele. –

10. Das große Unglück.

Es war an einem Frühlingsmorgen, da kam Mutter Großmann händeringend aus dem Stall in die Stube geeilt.

»Mann, komm schnell, die Schecke ist krank!«

Wie elektrisiert fuhren Vater und Kinder in die Höhe. Die Schecke krank, das war ja furchtbar! Ernst und Bärbel eilten mit hinaus. Richtig, da lag sie und atmete schwer. Ihre treuen, großen Augen blickten müde und verschleiert, der Atem ging schnell. Ab und zu stöhnte das arme Tier.

»Lauf schnell zum alten Berthels, Vater, der weiß Rat in allen Fällen.«

Berthels kam. Er befühlte die Kuh, sah sie lange an und versuchte, sie zum Stehen zu bringen. Aber umsonst!

»Das Tier ist sehr krank, Großmann, was habt ihr gefüttert?«

»Ich gab ihr alle Tage das gleiche Futter, – und gestern Abend war sie noch ganz gesund und gab noch so schöne Milch«, jammerte Mutter Großmann.

»Hört«, sagte der alte, erfahrene Berthels, »ich kann euch nur raten, holt den Fleischer und laßt sie schlachten, ehe sie euch noch verendet.«

Das war ein Schreck, er fuhr der Mutter in alle Glieder, sie mußte sich schnell auf den kleinen hölzernen Melkschemel setzen. Ernst und Bärbel weinten. Der Vater eilte ins Dorf. – – –

Nun war sie tot, die gute Schecke, von der die Familie viele Jahre hindurch so schöne Milch und Butter gehabt hatte. Und was war schuld an ihrer schweren Erkrankung und dem schnellen Tod gewesen? – – Sie hatte einen großen, spitzen Nagel verschluckt, der wohl im Heu gewesen sein mußte. Dieser Nagel hatte sie inwendig schwer verletzt.

Aber wie war so etwas möglich gewesen! Wie war der Nagel unter das Futter gekommen?

Als Ernst das von dem Nagel hörte, wurde er leichenblaß, dann rief er:

»Ich bin schuld, ich bin schuld«, und fing an, bitterlich zu weinen. Lange konnte er nicht ordentlich reden, dann kam es stockend heraus:

»Ich war gestern beim Tischlerhannes, meinem Freund. Wir hatten beschlossen, einen Kaninchenstall zu bauen. Hannes hatte mir alte verbogene Nägel aus seines Vaters Werkstatt in die Jackentaschen gesteckt und gesagt, ich solle sie heut erst gerade klopfen, damit wir dann bauen können. Als ich heimkam, rief mich Mutter:

›Du Ernst‹, sagte sie, ›klettre mal auf den Heuboden und wirf Futter herunter.‹ Das habe ich getan und sicher ist dabei ein alter Nagel unter das Heu gekommen.«

Was war nun zu tun? Die Schecke war und blieb tot, und Geld hatten Großmanns nicht genug, um gleich eine neue Kuh zu kaufen.

»Mutter«, sagte Bärbel, »ich geb mein ganzes Eiergeld her, ich brauche noch keine neuen Schuhe.«

Aber wo reichte das hin?

11. Gott tut heut noch Wunder.

Es war einige Tage später. Die Frühlingssonne schien warm auf die Steinstufen des kleinen Tagelöhnerhauses, wo Bärbel saß. Ernst, die Hände in den Hosentaschen, stand neben ihr. Beide schienen in tiefem Sinnen und rührten sich nicht. Ihre Gedanken waren natürlich mit dem schweren Verlust beschäftigt, der sie betroffen hatte.

Plötzlich stand Bärbel auf und wollte ins Haus eilen, da rief eine fremde Stimme:

»Sitzen bleiben!«

Sie erschrak, auch Ernst war zusammengefahren. Vor ihnen stand ein feiner Herr. Er war ein Maler aus Wien. Auf seiner Wanderung durch diese Gegend kam er hier vorbei. Der Anblick dieser beiden hübschen Kinder fesselte ihn. Er holte sein Skizzenheft hervor und fing an zu zeichnen. Bärbel war gerade aufgesprungen, als er sie mit dem sinnenden Ausdruck im Gesicht zeichnen wollte.

Verwundert blickten die Kinder den fremden Herrn an, der sie bat, ein Weilchen noch gerade in der gleichen Stellung wie vorhin zu bleiben.

Als der Maler seine Zeichnung beendet hatte, fragte er:

»An was habt ihr eigentlich gedacht, als ihr so lange sinnend dagesessen habt?«

Nun erzählten sie dem fremden Herrn von dem Unglück mit der Kuh, und daß sie nachgedacht hätten, wie sie Geld verdienen könnten und doch nichts wüßten. Der Vater verdiene doch nicht genug, um eine neue kaufen zu können.

Freundlich hörte der Maler zu, dann zog er einen schönen ledernen Geldbeutel aus der Tasche, nahm zwei blinkende Goldstücke heraus und gab jedem der Kinder eines:

»Seht, das habt ihr euch jetzt durch euer Stillsitzen verdient.«

Ernst und Bärbel wußten nicht, wie ihnen geschah. Sie hatten bis jetzt noch kaum ein Goldstück gesehen, und nun sollten diese zwei blinkenden Stücke ihnen gehören! Sie faßten das Glück kaum. Da kam die Mutter aus dem Haus. Von neuem ging das Erzählen und Staunen an. Mutter Großmann rief ein über das andere Mal:

»Gott tut heut noch Wunder! Was wird Vater sagen! So können wir doch hoffen, daß wir einmal das Geld für eine neue Kuh werden zusammen bekommen.« – –

Und wirklich, ehe die Herbststürme über die Stoppeln fuhren und der Altweibersommer seine Fäden zog, stand richtig wieder eine Schecke im Stall. Aber sie wurde nicht Schecke genannt, das wäre allen wie ein Unrecht gegen die alte Kuh vorgekommen. Die Schecke sollte in liebem, unvergeßlichem Andenken bleiben. Die neue Kuh hieß, weil sie auf dem Rücken einen geraden, weißen Strich hatte: »Die Strieme!«

12. Der Abschied.

Wieder war ein Jahr vergangen, und Ernst hatte seine Schulzeit beendet. Er wollte Tischler werden und kam zu einem Meister in die Lehre. Nun war Bärbel allein bei den Eltern. Vater Großmann ging immer noch alle Tage in den Schieferbruch und die Mutter besorgte die Haus- und Feldarbeit. Das elfjährige Bärbel war ihre stets willige Hilfe. So verging die Zeit und nun stand auch Bärbels Schulaustritt schon nahe bevor. Mit Bangen dachte die Mutter an eine Trennung von ihrem Kind. Bärbel war körperlich nicht stark genug, um einen Dienst bei den Bauern, die in ihrem Dorf nur in Betracht kamen, anzunehmen. Wo würde sich eine passende Stelle für ihr Kind finden? Daheim behalten konnten sie es nicht. Bärbel mußte beizeiten lernen auf eignen Füßen zu stehen.

Es war an einem trüben Märztage, da kam unerwartet ein Bote mit der Trauernachricht: Die Christelpate ist gestorben!

Das war ein Schmerz für die Familie.

Bärbels große Augen füllten sich immer wieder mit Tränen, sie konnte den ganzen Tag keinen Bissen essen, der Hals war ihr wie zugeschnürt. Im vergangnen Herbst erst war die Pate bei ihnen gewesen und hatte mit ihrem lieben runzligen Gesicht ausgesehen, wie immer. Sie war auch den drei Stunden weiten Weg rüstig zu Fuß gegangen. Freilich war sie schon fünfundsiebzig Jahre alt, aber daß die Christelpate so bald sterben würde, das hatte Bärbel nicht gedacht.

Am Begräbnistage wandelten Vater, Mutter und Tochter nach Karlsberg, wo die liebe Alte bei einem verheirateten Sohn gewohnt hatte. Auch dort herrschte tiefe Trauer. Von nah und fern waren die Verwandten gekommen, um der Christelpate das letzte Geleit zu geben.

Bärbel sah hier zum ersten Mal einen Vetter ihres Vaters, der in Sternberg, der nächsten Bezirksstadt, eine Schuhmacherei hatte. Seine Frau war nicht mitgekommen, weil sie kränkelte. Nun fragte der Vetter, nachdem er sich mit Großmanns eingehend unterhalten hatte, ob Bärbel nicht nach Ostern für einige Zeit zu ihnen kommen könnte, um seiner Frau im Haushalt und bei den Kindern zu helfen. Den Eltern leuchtete das ein, und so wurde abgemacht, daß der Vetter Bärbel nach Ostern holen sollte.

In Bärbels Leid und Trauer um die Christelpate mischte sich nun der Gedanke an die Trennung von den Eltern und der Heimat, sowie die Aussicht, in eine fremde Stadt zu den vornehmeren Verwandten zu kommen.

Ostern rückte schnell genug heran und somit der Abschiedstag. Der Oheim kam an dem bestimmten Tage. Der kleine Handkoffer mit Bärbels Habseligkeiten wurde gepackt. Ganz unten hinein legte die Mutter in ein weißes Tüchlein eingeschlagen, eine Schnitte Schwarzbrot mit den Worten:

»Schau Kind, das ist gegen das Heimweh. Kommt es dich einmal zu sehr an, dann iß etwas von dem Brot und denke dabei, daß es deine Mutter gebacken hat. Jedes Kind, das noch eine sorgende, betende Mutter daheim hat, darf sich nicht verlassen fühlen, das muß immer dankbar und mutig sein.«

Endlich war alles fertig. Nachdem der Vater noch den 121. Psalm aus der alten, großen Bibel gelesen hatte, legte man sich schlafen. Am nächsten Morgen wurde zeitig aufgestanden, um bei Tagesgrauen den mehrstündigen Weg zur Bahnstation anzutreten. Vater Großmann drückte seinem Kind herzhaft die Hand mit den Worten: »Gott befohlen, meine Bärbel, bleibe fromm und halte dich recht.« Die Mutter schloß sie in die Arme, drückte einen Kuß auf ihre Wange und sagte: »Behüt dich Gott, mein liebes Kind.« Dann schritt Bärbel an der Seite des Oheims aus dem Elternhause. In ihren Augen standen Tränen, und sie schaute sich noch mehrmals, bis sie um eine Straßenecke bogen, nach dem lieben, alten, mit Schiefer gedeckten Hause um.

Bärbel war noch nie auf der Eisenbahn gefahren. Sie hatte nur einmal auf dem Bahnhof gestanden und die rauchende Lokomotive mit den vielen Wagen herankommen sehen und den schrillen Pfiff gehört. Menschen waren aus- und eingestiegen und schnell war der Zug wieder weitergedampft. Die Aussicht, heut nun selbst mit dieser Eisenbahn an Wiesen, Wäldern und Ortschaften vorüberzufahren, erfüllte sie mit einem Gefühl der Erwartung und der Freude. So ging sie tapfer und mutig unter der Obhut des Oheims, der so viel zu erzählen wußte, der neuen, fremden Zukunft entgegen. –


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