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Das Musikantenkind.

Von Anne Rooschüz.

I.

Wissen Sie's schon Fräulein Thusnelde? der Schnurrant oder Musikant, drüben im Hirsch, liegt im Sterben.«

Draußen auf der Straße, über den leuchtend roten Geranienstöcken, tauchte ein weiblicher Kopf auf. »Weiß schon,« kam es von drinnen zurück. – »Und dabei ist die große Hochzeit, sie fiedeln und tanzen schon den ganzen Abend! Das mag für so einen Todkranken arg sein!« – »Dann sagen Sie's doch dem Hirschwirt!« Das starkknochige, große Mädchen, das am offenen Fenster des Erdgeschosses saß, hob einen Augenblick die klugen grauen Augen, um sie gleich wieder auf die Arbeit an der Nähmaschine zu senken. Die auf der Straße Stehende trat näher heran, so daß ihr Stumpfnäschen gerade über einem Blumenstock auftauchte.

»Behüte«, meinte sie, »ich mische mich in keine fremden Angelegenheiten, und auch noch der grobe Hirschwirt, nein, wo denken Sie hin! Müßte recht dumm sein!« Und Fräulein Nane Hochdanz, die kleine, magere Haushälterin des Alt-Schultheißen, blickte sich ängstlich um. »Aber, was ich sagen wollte«, fuhr sie fort, »ein Kind ist da, so ein herziges, ich hab es auf der Staffel sitzen sehen.« – »So,« war die kurze Antwort, und die Maschine fuhr fort wütend zu rasseln.

»Gute Nacht, Fräulein Thusnelde!« Fräulein Nane bot die Hand zum Fenster herein. »Mein Schultheiß wartet auf seine Ripple, und er wartet nicht gern.« Damit trippelte sie eilig weiter, um die versäumte Zeit einzubringen, nicht, ohne im Vorbeigehen neugierig nach den Fenstern des »Hirschen« hinaufzusehen.

Die Nähterin schickte ihr keinen sehr freundlichen Blick nach. »Schwätzerin«, murmelte sie halblaut. »Und das will so fromm sein, läuft in alle Bibelstunden, streckt seine Nase in jedermanns Sachen, und wenn's gilt, ist's feig, daß Gott erbarm!«

Thusnelde stand auf, zündete das Licht an, und setzte sich mit ihrer Arbeit an den Tisch. Die Vorhänge hatte sie zugezogen. Dann nahm sie das fast fertige Kinderkleid vor, an dem nur noch die Knöpfe anzunähen waren. Auf ab, auf ab, wieder und wieder, – fest mußten sie sitzen, nur keine Schlamperei! Über dem Sofa hingen die Bilder ihrer Eltern, Vater und Mutter Meng, und blickten auf ihre Tochter herab, deren Scheitel schon grau wurde. Sie hatten sie allzu früh allein gelassen, – die Treuen. – –

Es tut nicht gut, wenn man nur für sich allein zu sorgen hat und niemand da ist, dem man Liebes tun kann.

Zum halboffenen Fenster kamen verwehte Geigen- und Trompetentöne herein. Das Mädchen wurde unruhig. Das Kind fiel ihm ein, wie es heute morgen auf der Wirtshausstaffel gesessen hatte. Sie sah es, als sie zu einer Kundin ging, und schnell hatte sie ihm ein Anisbrot zugesteckt, das sie von gestern her noch in ihrer Tasche trug. Das Aufleuchten in dem kleinen Gesicht konnte sie nicht vergessen, die großen, dunkelblauen Augen, die braunen Ringelhärchen. Wie es da so still und ernst saß, das Kind! Und droben der todkranke Vater! –

Papa Meng schaute so sonderbar herunter, als wollte er sagen: »He, Thusnelde, hast du nichts zu besorgen?« Sie kannte den Blick. Doch, es war etwas zu tun, was sie schon lange innerlich umtrieb! Schnell entschlossen stand sie auf, legte ein Tuch um, holte eine kleine Flasche Saft und ein paar Brötchen aus dem Schrank, und gleich darauf trat sie aus dem Hause. Schräg gegenüber lag der »Hirsch«. Sie ging die Treppe hinauf und begegnete der jungen Wirtin, die mit einer Magd dampfende Schüsseln trug.

»Wo liegt Euer Kranker?« fragte herb das Mädchen.

»Droben, – die Kathrin soll's Euch zeigen,« war die verlegene Antwort. »s' ist ungeschickt heut grad, die Hochzeit – –«. »Ja, es paßt schlecht zusammen. Tanzen und Sterben.« Thusnelde ging an ihr vorüber und stieg, von der Magd begleitet, nach oben. »Hier liegt er.« – Leise öffnete Thusnelde die Tür. Auf dem Tischchen am Bett brannte ein Licht und beleuchtete schwach ein wachsbleiches, von dunklem Haar umgebenes Männergesicht. Ein paar schwarze, brennende Augen starrten der Eintretenden entgegen. »Durst,« formten die fiebertrockenen Lippen. Thusnelde entdeckte Wasser in einem zerbrochenen Krug, goß Saft und Wasser in ein Glas, stützte den Kranken und gab ihm zu trinken. »Ah, danke! Das tut gut!«

Neben dem Bett auf einem wackeligen Stuhl saß das Kind, kerzengerade, steif und ernst. Aber als es Thusnelde sah, lächelte es, mit den strahlenden Augen, die das Mädchen nicht vergessen hatte. Todmüde war die Kleine, und wollte doch ihren Posten nicht verlassen! Tapferes, kleines Seelchen! Und zählte kaum sechs oder sieben Jahre! Thusnelde nahm es auf den Arm, legte es auf das zerschlissene Sofa und deckte sorgsam eine Decke über die zierliche Gestalt.

Dann setzte sie sich schweigend zu dem Kranken und nahm seine Hand.

»Die Schwester kommt auch,« sagte er mühsam, »aber sie hat noch andere zu versorgen.« »Ich bleibe hier,« gab das Mädchen zurück. »Pflegen kann ich auch. Vater, Mutter und Schwester, alle hab ich gepflegt bis zuletzt.« Sie schob das Kissen zurecht, mit einer zarten und geschickten Bewegung, die man ihr nicht zugetraut hätte.

»Bis zuletzt, ja, – es ist auch ›zuletzt‹ bei mir.« Leise und stockend kam es zurück. Thusnelde widersprach nicht.

»Soll ich Euch den Pfarrer holen? Wünscht Ihr irgend etwas?« – Der Kranke schüttelte den Kopf. »Das Kind!«

»Es schläft,« gab das Mädchen mit trockenem Hals zurück.

»Laßt es nur,« – ein Hustenanfall unterbrach den Todkranken.

»Es ist mein alles, – und es hat nur mich. Ich hab es lieb gehabt, unsagbar. Jetzt muß ich fort von ihm, und es gehört niemand, ist ganz allein. Hört mich an, ich bin bald zu Ende und – hab – nimmer viel – Zeit – .

Ich war angesehener Leute Kind, ein Tunichtgut, verließ mein Elternhaus, wurde Musiker, und hab dann geheiratet. Ein feines Mädchen, – glücklich waren wir, – dann starb sie, – als die Elfi – noch keine vier Jahr alt war, – seither bin ich kränklich, konnte nimmer viel leisten, und jetzt ..« er brach ab, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. –

»Seid ruhig,« bat Thusnelde. »Das Kind kommt in gute Hände, dafür steh ich ein.« Ein dankbarer Blick traf sie, dann kam Schwäche über den Kranken. Thusnelde ging aus der Tür, ließ die Wirtin rufen und sagte kurz: »Sorgt, daß die Musik aufhört. Der Kranke stirbt noch diese Nacht.« – Dann setzte sie sich wieder an das Bett. Nach ein Paar Stunden war alles zu Ende. Ganz sanft und still. Die Wirtin kam einmal herein, drunten herrschte Ruhe, und das Kind schlief süß und ahnungslos. Thusnelde hatte am Bett gekniet und leise gebetet: »Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang, deinen Leib und deine Seele.« Dann stand sie auf, nahm das schlummernde Kind in die Arme und verließ mit ihm das Zimmer. Es wachte nicht einmal auf. Erst drüben, als sie es in ihr eigenes Bett legte, schlug es einmal die dunkeln Augen auf, lächelte leise und hob die Ärmchen, als wollte sie dieselben der Thusnelde um den Hals legen. Diese stand davor und blickte das liebliche Gesichtlein an und das Bild über dem Sofa. Vater Meng sah sehr zufrieden aus und schien ihr zuzunicken: »Hab ich's nicht gesagt, Alte? 's war etwas zu besorgen ...«

II.

Es war etwas besonderes um das Kind. Man konnte nicht gleich sagen, woran es lag. Ein Musterkind war es nicht, dazu hatte es viel zu viel Temperament. Die Thusnelde merkte schon etwas davon an dem ersten Morgen bei seinem Erwachen, vor dem ihr bangte. Kaum öffneten sich die dunkeln Augen, da saß es schon mit einem Ruck aufrecht. »Wo ist Vati« – Die Antwort kam nicht sofort.

»Er schläft, Elslein.« »Vati, Vati! Mein lieber Vati! Ich will zu ihm!« Und die Kleine machte energische Anstalt, aus dem hohen Bett zu klettern.

»Vati will, daß du jetzt bei mir bleibst«, suchte Thusnelde dem Sturm zu begegnen.

»Hat er's gesagt?« – »Es war ihm recht so. Und nun höre, kleine Elfi: Der liebe Gott hat Vati in den Himmel geholt, und er hat es gut dort. Er muß nicht mehr husten, und es ist ihm wohl.«

Die dunkeln Augen wurden starr und weit. In den Himmel, wo Mutti war – und man nie, nie wiederkam! Soviel wußte das sechsjährige Köpfchen schon.

Und das Kind brach in bitterliches, wildes Schluchzen aus, das den zarten Körper erschütterte.

»Vati soll mich mitnehmen, ich will mit Vati gehen!« Thusnelde nahm die Kleine in ihre Arme, froh, daß sie nicht widerstrebte, und setzte sich mit der leichten Last auf das alte Sofa. »Man kann nicht gleich dann in den Himmel kommen, wenn man möchte, Elslein, man muß warten, bis der liebe Gott einen holt. Er weiß dann schon, wann es Zeit ist.« »Bald, gelt?« flüsterte die Kinderstimme an ihrem Ohr, schon ein wenig getröstet. Und die Weichen, runden Ärmchen schlangen sich um Thusneldes Nacken. »Du bist lieb, und ich will bei dir bleiben, bis ich zu Vati komme.« – Der alte Vater Meng schaute auf die beiden herunter.

»Ja, ja, so ist's gut«, schien sein freundlicher Mund zu sagen. »Ich bin ganz damit einverstanden, daß sie dableibt, die Kleine!« Da drückte das einsame Mädchen das Kind an sich, fest und weich und mütterlich.

»Es ist mir recht, wenn du bei mir bleibst, Elfi, denn ich bin so allein wie du!« sagte es leise. –

*

Man machte ihr keine Schwierigkeiten darüber, daß sie das Kind behalten wollte, vorläufig, – obgleich es Leute gab, die sagten, die Thusnelde sei wohl verrückt! Ein Kind versorgen, wo sie selbst kaum genug zum Leben habe, und gar ein Schnurrantenkind, man wußte schon im voraus, was dabei herauskam. Gutes gewiß nicht! –

»Ein Schnurrantenkind«, wie man anfangs in der kleinen Stadt sagte, war Elfi nun gerade nicht, und als die Leute näheres über das kleine Mädchen erfuhren, da hießen sie es kurzweg »das Musikantenkind«.

Was man wissen wollte, war bald erzählt. Elfis Vater, Gerd Sanders, wie er sich nannte, hatte im Orchester einer Filmgesellschaft mitgewirkt, die einige Tage in dem geschichtlich interessanten Städtchen sich aufhielt. Seine Papiere waren in Ordnung, und die Erkundigung ergab, daß ihm von dem Direktor der Gesellschaft, der er allerdings erst seit kurzem angehörte, ein gutes Zeugnis ausgestellt wurde. Dieser hatte sich, wie er schrieb, gewundert, wie ein so talentvoller Mensch es nicht weiter gebracht habe. Sanders war nicht länger krank gewesen, ein plötzliches Unwohlsein hielt ihn, der viel hustete, in dem Gasthaus zurück, in dem einige Glieder der Gesellschaft wohnten. Erst als diese abgereist waren, kam plötzlich ein Blutsturz, der das Ende überraschend schnell herbeiführte. Ob der Verstorbene nähere Verwandte gehabt, blieb ungewiß. Auf weitere Nachforschungen blieb alles still, und niemand hinderte Thusnelde Meng, das kleine Mädchen zu behalten. Zwei Kostbarkeiten befanden sich außer dem Allernötigsten in seinem Besitz: Ein in feines Leder gebundenes, in einen verbrauchten Umschlag gestecktes Gesangbuch, und eine Geige, von der Herr Berger, der in Thusneldes Haus wohnende, tüchtige junge Lehrer, behauptete, sie sei ein edles und kostbares Instrument. Und außerdem war da noch etwas. Es war an jenem Morgen, nach der Sterbenacht von Elfis Vater. Das Kind hatte neben Thusnelde seine Milch getrunken und das Mädchen saß an der Arbeit. Der Kleinen hatte sie ein altes Bilderbuch gegeben, doch diese blätterte nicht darin. Langsam kam sie zu ihr herüber, legte die Ärmchen auf Thusneldes Knie und sagte:

»Bitte, hol mir meine Geige.« – »Hast du denn eine Geige, Elfi?« – »Ja, Vati hat sie mir gemacht. Ich möchte Vati etwas Vorspielen, er hört's im Himmel. Mutti hab ich auch oft etwas gespielt, und sie hat sich dann gefreut.«

Thusnelde erhob sich, sie mußte ein paarmal schlucken. Und dann ging sie in den Hirsch hinüber, wo sie das Begehrte fand. Nachher stand das Kind am Fenster, und spielte. Eine kleine, feine Melodie, ein Liedlein, leise und traurig. Und dann eine bekannte Weise.

Thusnelde staunte. »Du kannst etwas!« sagte sie nur, – es würgte sie seltsam im Hals.

Niemand als Herr Berger, der junge Lehrer, erfuhr, daß die Elfi eine eigene kleine Geige besaß, und ein großes Talent überdies. Warum es in der Leute Mund bringen? Thusnelde hatte genug davon, und hörte im Geist, was die lieben Nächsten sagen würden: »Sie wird eben auch einmal eine von denen, die den Leuten aufspielt, und was daraus werden wird, das wird man dann schon sehen!

Ähnlich äußerte sich auch Fräulein Nane Hochdanz, die Hauserin des Alt-Schultheißen: »Wie kann man sich nur so etwas aufladen! Freilich, nett ist das Kind, aber später, wenn dann herauskommt, was in ihm steckt, was dann?« Über das, was in Elfi steckte, war Fräulein Nane sich nicht recht klar, aber etwas schlimmes würde es ja wohl sein. Thusnelde schwieg erbittert zu solchen Äußerungen. Ja, wenn alle so dachten, wer sollte sich dann des Geschöpfleins annehmen? War es nicht Christenpflicht, sich darum zu kümmern, wenn so etwas Kleines, Herziges, mutterseelenallein in der Welt stand? Und so behielt sie das Kind, sorgte für sein Wohl, und bereute es keine Stunde. Es hatte ihr sein kleines Herz voll Liebe geschenkt, das war genug für ihr einsames, liebehungriges Herz.

Ihr Leben bekam einen neuen Inhalt.

Thusnelde merkte indes bald, daß Kindererziehen keine ganz einfache Sache ist, viel schwieriger, als der Kleinen ihre Röckchen und Kleider zu nähen und das einfache Essen zu kochen. Elfi war, bei aller Besinnlichkeit einerseits, eine wilde kleine Hummel, und beim Spiel konnten ihre Augen wahre Blitze schießen. Wagten es die Nachbarsbuben, Thusneldes weiße Katze in den Schwanz zu kneifen, oder den Spitz des Hirschwirts mit Steinen zu werfen, so ging Elfi furchtlos mit geballten Fäusten auf sie los. Die großen Jungen lachten das kleine, putzige Ding aus, aber da wurde es erst recht zornig. Angst war ihm fremd, und jedes Tier ließ sich von ihm streicheln. Es war gut für beide, die Pflegemutter und das Kind, daß es zur Schule mußte. Man sah bald, daß es ebenso begabt war oder noch mehr, als die Kinder der paar Honoratioren.

Herr Berger, der Lehrer, gab ihm Geigenstunde, und teilte sich mit Thusnelde in des Kindes Liebe. Er war ein etwas schüchterner, warmherziger und für seinen Beruf befähigter Mensch, den das Mädchen versorgte und ein wenig bemutterte. Mit der aufgeweckten Elfi in Feld und Wald hinauszuwandern, und ihre vielen Fragen zu beantworten, freute ihn, und er konnte des Kindes Wißbegierde besser befriedigen als Thusnelde hinter ihrer Nähmaschine.

Wie schön war es, wenn an den langen Winterabenden Herr Berger kam mit seiner Geige, Elfi sich neben ihn stellte Und die beiden fiedelten und musizierten, daß es eine Lust war! Es war ein anderes Leben als früher. Thusnelde freute sich vom Abend auf den Morgen, und vom Morgen auf den Abend.

Ein Jahr mochte vorübergegangen sein. – Der Frühling zog ins Land und die ersten Vogelstimmen lockten. Da kam einmal wieder Fräulein Nane Hochdanz mit Neuigkeiten zum Schwatz unter Thusneldes Fenster. »Haben Sie's schon gehört? Furchtbar reiche Leute aus Amerika, oder was weiß ich, sollen das Schlößle gekauft haben. Die Handwerksleute sind schon drin, es wird alles neu hergerichtet, auch der Garten, – einfach feenhaft! Bei dem alten Grafen sei es bescheiden dagegen gewesen.«

»So, so, da gibt's also wieder etwas zu schwätzen,« war alles, was Thusnelde entgegnete. Fräulein Nane empfahl sich beleidigt. Wie die immer von oben herab tat! Aber sie würde es schon einmal kriegen, die!

– Thusnelde schaute von ihrer Arbeit auf. Gegenüber, ein wenig erhöht, lag das Schlößle. Ein schönes, altes Besitztum. Man konnte es vom Fenster aus sehen, wie es mitten in dem prächtigen, parkartigen Garten still und vornehm und weiß durch die noch unbelaubten Bäume schimmerte. Es mochte schön sein dort oben! –

Eine Woche später kam Herr Berger mit Elfi, von einem Spaziergang heimkehrend, am »Schlößle« vorüber. Gärtner waren beschäftigt, Blumenbeete anzulegen, Läden und Holzverkleidungen wurden gestrichen, weißlackierte Gartenbänke aufgestellt auf schön mit feinem Sand bestreuten Wegen. Auch die Natur hatte mächtig gearbeitet, überall schauten die ersten zartgrünen Blättlein heraus und herrliche Magnolienbäume standen in der Pracht ihrer süßduftenden Blüten. Das große, eiserne Tor war weit geöffnet.

»Da ist's schön, da wollen wir hineingehen!« bat Elfi, und faßte ihren Begleiter bei der Hand. Und ganz erstaunt war sie, als dieser mit ungewohnter Strenge sagte: »Was fällt dir ein, man darf in keine fremden Gärten hineinlaufen, die einem nicht gehören!«

Traurig wanderte das Kind weiter, sich immer wieder nach dem verschlossenen Paradies umsehend. – Und es konnte den schönen, unbekannten Garten nicht aus seinem Köpflein bringen. Warum durfte man nicht hinein, wenn man doch so gerne wollte? Manchen Tag stand es daheim am Fenster, drückte das Näslein platt und guckte verlangend zum Schlößle hinüber. – Wer doch ein einzigmal dort hinein dürfte! Niemand war drin gewesen, und doch wußte jedermann Wunderdinge zu berichten!

Nun war der Frühling da. Die Magnolien hatten ihre Blüten abgeworfen, dafür standen Aprikosen-, Pflaumen- und Birnbäume, Flieder und Goldregen in schönster Pracht. Auf dem kurzgeschorenen Rasen, etwas vom Schlößle entfernt, mitten unter Blütenbäumen, lag auf einem bequemen Liegestuhl ein junges, schönes Mädchen. Ein loses, weißwollenes Gewand umschloß die zarten Glieder, Decken und Hüllen waren sorgsam darüber gebreitet. Die schmalen Wangen erhielten ein wenig Farbe von dem riesengroßen, roten Sonnenschirm, der neben den leichten Gartenmöbeln aufgestellt war. Ein hochgewachsener, älterer Herr ging mit einem Buch in der Hand auf und ab.

»Liegst du auch gut, Sylvia? Frierst du gewiß nicht?« klang seine besorgte Stimme, während er sich über das Mädchen beugte. Und als sie lächelnd verneinte und ihm über den Arm strich mit der schmalen Hand, ging er langsam dem Hause zu. Sylvia lag still, sie sah den leise ziehenden Wolken nach, wie sie so sanft und schön dahinglitten. »Wie heimwärtseilende Seelen!« dachte sie bei sich. Und dann fesselte etwas ihre Aufmerksamkeit. Den breiten Gartenweg entlang kam langsam eine kleine Gestalt auf sie zu, in einem hellen, losen Kleidchen. Braune Ringelhärchen umspielten ein goldiges Kindergesicht, aus dem die Augen halb neugierig, halb verlegen die Liegende musterten.

»Komm doch her zu mir!« Sylvia streckte die Hand aus.

»Was willst du denn hier, du Kleines?«

»Ich möchte den schönen Garten einmal ansehen!« kam es jetzt sehr bestimmt zurück.

»So, und wem gehörst du denn?« fragte Sylvia belustigt. Ihr Interesse war erwacht.

»Der Tante Thus, und ein wenig Herrn Berger. Und er hat gesagt, man darf in keine fremden Gärten gehen, die einem nicht gehören.«

Die Sylvia nickte. »Ja, da hat Herr Berger eigentlich recht. Aber nun bestellst du ihm einen Gruß, und du dürftest hierher kommen, so oft du willst.«

»Darf ich das?« Die dunkeln Augen strahlten auf.

»Ich danke dir auch schön. Bist du krank?«

»Ja, schon lange, lange, und darum freut's mich, wenn man mich besucht.«

»Die Tante Thus hat Vati auch besucht, wie er so krank war. Er ist jetzt im Himmel bei Mutti.« Sylvias Hand strich zart über des Kindes Haar.

»Und wo wohnt denn die Tante Thus?«

Das braune, runde Ärmchen zeigte geradeaus.

»Dort, beim Herrn Berger. Er kann Geige spielen, wie mein Vati, und ich spiele auch. Auf meiner kleinen Geige. Soll ich dir einmal etwas darauf vorspielen?«

Was war das für ein merkwürdiges kleines Ding? Sylvia zog es an sich, es legte zutraulich die Ärmchen auf ihren Schoß und erzählte; das Mädchen hörte zu, und bemerkte den Vater erst, als er neben ihr stand.

Elfi war fast ein wenig erschrocken, als sie den fremden Herrn gewahr wurde. Aber sie faßte sich schnell und bot ihm zutraulich das Händchen. Sylvia las sogleich an seinen Augen, daß ihm der kleine Gast gefiel, und der Herr des Schlößchens sagte mit freundlichem Lächeln: »Ich sehe dich in guter Gesellschaft, wie mir scheint, Sylvia!« Das fröhliche Lachen seiner Tochter hatte ihm eben wie Musik geklungen.

»Was ist denn das für ein kleiner Gast?«

»Sie wollte so gerne einmal den schönen Garten sehen,« gab Sylvia zur Antwort. »Und du hast recht, Vater, diese Art von Krankenbesuch macht mir Freude. Sie hat mir allerlei erzählt, die kleine Elfi. Aber was meinst du, soll dir der liebe Herr hier mal den ganzen, großen Garten zeigen? Willst du es mir zu lieb tun, Vater?«

Herr Jansen, Sylvias Vater, nickte lächelnd Gewähr. »So komm, lütte Deern!« Vertraulich schob sich das Händchen in seine Rechte. Und dann traten die beiden ihre Wanderung an, von Sylvias Augen verfolgt. Die zierlichen Füßchen wurden vorsichtig gesetzt, um ja nirgends ein Blümchen zu zertreten, den strahlenden Augen entging nichts. Immer wieder entdeckten sie etwas Schönes, Wunderbares.

»O, o, die schönen Blumen!« Herr Jansen bog die Blütenzweige herunter und brach einen ganzen Arm voll ab. »Und dort ist ein Vöglein, – und da, – und da – –! Der Rundgang durch den Garten dauerte lange, es gab gar zu viel zu bewundern. Zuletzt noch den großen Hühnerhof mit Pfau und Puter und kleinen Kücken. In jeder Hand ein frisch gelegtes Ei, kam Elfi an ihres Begleiters Seite glückselig zu Sylvia zurückgetrippelt. »Nun, wie gefällt dir der Garten?« frug diese lächelnd. »Er ist schön, und du bist auch schön!« Elfi machte ihre kleinen Hände frei und schlang ein Ärmchen um den Hals der Liegenden. Die braune und die schneeweiße Wange berührten sich. Sylvia zog das Kind an sich. »Hier,« sagte sie, sollst du nun noch etwas Gutes haben«, und sie schob Elfi einen Teller mit Kuchen zu. Den Strauß hatte sie zusammengebunden. »Den darfst du mitnehmen«, sagte sie, »und grüße Tante Thus, besuche mich bald wieder, und noch eins, Elfi: Vergiß nicht, deine Geige mitzubringen!« Elfi versprach es, dankte noch einmal strahlend, und wandelte, mit ihren Schätzen beladen, davon, mit dem freien Händchen zurückwinkend.

Vater und Tochter sprachen in den nächsten Tagen manchmal von dem herzigen kleinen Gast, und Sylvia wartete beinahe ungeduldig auf sein Wiederkommen.

Sie urteilte, daß es ein ungewöhnliches Kind sei, und ihr Vater stimmte ihr zu. Er versprach, sich nach der Kleinen und ihrer Pflegemutter zu erkundigen, und war glücklich, an der Tochter dies lebhafte Interesse wahrzunehmen, glücklich zu sehen, daß sie sich über etwas in dieser Weise freute. Er las ihr ja jeden Wunsch von den Augen ab. Nicht, als ob Sylvia anspruchsvoll gewesen wäre, ach nein, wenn sie es doch sein wollte, ihn in Atem hielte, und dies und jenes begehrte oder anders haben wollte! Wenn sie doch nicht stets mit diesem süßen, klaren Gesicht umhergehen oder auf ihrem Ruhebett liegen wollte! Es machte ihn unruhig und nervös.

Nun war das ganze schöne neue Heim, der herrliche Besitz, eingerichtet, und es gab so eigentlich nichts mehr zu tun. Das schaffte fast ein Gefühl von Öde, nach der rastlosen Arbeit vieler Jahre. Nicht von Amerika, wie die Leute sagten, sondern von Sumatra war Herr Jansen wieder in seine deutsche Heimat gekommen, Sylvias wegen. Sie hatte sich nach einer schweren Krankheit nicht erholen können, da riet der Arzt dringend zu einem Klimawechsel. Alles, was der reiche Kaufherr besaß, war ihm nach dem frühen Tod der Gattin dieses einzige Kind. Von einem Kurort zum andern reisten dann die beiden, ohne daß Sylvias Zustand sich besserte. Sie sehnte sich nach Ruhe und einer festen Heimat, da hatte Herr Jansen in der Nähe des Geburtsorts seiner Frau das schöne, große Anwesen erworben. Sylvias Wunsch war es gewesen, in einer Gegend, die ihr seit ihrer Kindheit als eine Art Paradies erschien, wo sie bei geliebten Großeltern mit ihrer Mutter lange Zeit gewohnt, ein Heim zu finden. Und nun erhoffte der Vater, daß sie wieder seine alte, gesunde, tätige Sylvia werden würde. Gewiß, es brauchte nur seine Zeit! Ruhe und viel Geduld, dann wurde alles gut.

Thusnelde hatte damals, als das Kind bei Sylvia gewesen war, unter der Haustür besorgt nach Elsi ausgesehen, sie wußte die Kleine mit andern Kindern auf der nahen Wiese, und Elsi war, als Thusnelde von einem Ausgang heimkehrte, nicht mehr dort. Eigentlich durfte das Kind nicht ungefragt länger von Hause weglaufen, und Thusnelde wußte, daß sie es strafen sollte. Aber immer, wenn sie es hätte tun müssen, brachte sie's nicht übers Herz. Es hatte eine Art, der man schwer widerstehen konnte, zumal, wenn es die großen, bittenden Augen aufschlug.

Und da kam Elsi so strahlend an, wie ein helles Frühlingsbild, mit dem großen Blütenstrauß. Thusnelde konnte ihr nicht böse sein!

»Von der Sylvia ihrem Vati, für dich, Tante Thus, und du sollst mich nicht zanken, hat sie gesagt. Der Garten ist schön, – der Gärtner ließ mich gleich hinein, – und die Sylvia liegt auf einem Bett unter einem Baum. Ich soll bald wiederkommen, hat sie gesagt!«

Elsi sprudelte alles in einem Atem heraus, Thusnelde strich ihr die wirren Ringellöckchen aus der Stirn.

»Du sollst aber nicht allein fortlaufen,« sagte sie ernst. »Nicht böse sein! bat das Kind, sich an sie schmiegend. »Du warst fort, Tante Thus, und niemand zu Haus. Und gelt, ich darf bald wieder zu der Sylvia?«

Thusnelde begriff, daß Elsi die junge Dame aus dem Schlößle meinte. Sie sagte nach ihrer Art nicht viel. Aber sie wünschte nicht, daß das Kind zu den vornehmen Leuten ging. Und sie wollte nichts davon hören, wenn es in den nächsten Tagen so dringend bat: »Jetzt muß ich aber zu der Sylvia, sie hats gesagt, daß ich wiederkommen soll, › bald‹, und das ist › jetzt‹! Und ich möchte meine Geige mitnehmen, weil sie's hören will.«

Was war da zu tun? Thusnelde besprach sich mit Herrn Berger, der meinte, sie solle das Kind ruhig gehen lassen. Von den Schlößlesbewohnern höre man nur Gutes. Da zog das Mädchen der Elsi ihr bestes Kleidchen an und sah ihr nach, wie sie eilig und glückselig ihren Weg antrat. – Sie konnte sich selbst nicht begreifen, die Thusnelde; aber ihr war, als strecke etwas Fremdes die Hände nach dem Kinde aus, von dort, wo es hell und schön war, und man sorglos in Reichtum lebte.

Sylvia lag im Garten wie das letztemal und streckte Elsi beide Hände entgegen, als sie heiß und atemlos herbeigelaufen kam, ihre kleine Geige unter dem Arm.

»Das ist recht, daß du kommst,« sagte die junge Dame fröhlich. Und nun setze dich ruhig hierher, du kleine Hummel. Warum bist du auch so gerannt?«

»Weil du doch auf mich gewartet hast,« war die Antwort, »und ich wäre schon gekommen, aber die Tante wollte nicht gerne. Und jetzt spiele ich dir etwas vor.«

Sylvia legte den Kopf mit den schweren, dunkelblonden Flechten in die Kissen zurück, und genoß das reizende Bild, wie das fremde Kind vor ihr stand, mit großen, jetzt ganz ernsten Augen. Leise und zart und rein kamen die Töne. Als ob das Kind begriffe, daß für die Kranke keine lustige Musik passen würde. Staunend lauschte Sylvia dem lieblichen Spiel. Und wie das letztemal, stand plötzlich Herr Jansen hinter dem Stuhl seiner Tochter und schaute auf das Kind. Sylvia fühlte, daß er ein ebenso großes, seltsames Gefallen an der Kleinen fand, wie sie selbst. Und als diese jetzt eine Pause machte, hob er ihr Kinn in die Höhe und sagte: »Ich habe jemand gekannt, der gerade solche Augen hatte wie du«. Sylvia schwieg. Sie wußte, es gab eine wunde Stelle im Herzen des Vaters, die sie sich scheute zu berühren. Dann zog sie das Kind liebreich an sich: »Du hast mir eine große, große Freude gemacht, Elsi, und ich danke dir. Und nicht wahr, du kommst oft, recht oft zu mir?« Strahlend versprach es die Kleine.

Vater und Tochter besprachen sich später lange und gründlich miteinander. Sie waren sich darin einig, daß das Kind ein ungewöhnliches Talent besitze, und Herr Jansen erfüllte Sylvias Wunsch, sich persönlich bei Fräulein Meng nach dem kleinen Mädchen und dessen Herkunft zu erkundigen.

Thusnelde empfing ihn freundlich und erzählte, was sie wußte und erlebt hatte. –

»Sanders?« fragte Herr Jansen, und schüttelte wie enttäuscht den Kopf. Der Name sagte ihm nichts. Aber er redete gütig mit Thusnelde, und bat sie, das Kind einer Tochter so oft als möglich zu schicken, was das Mädchen zögernd versprach, ebenso, daß sie selbst die Kleine bald einmal auf das Schlößle begleiten möchte ...

Thusnelde wurde, als sie ihr Versprechen wahr machte, von Sylvia liebreich empfangen, und konnte sich der herzgewinnenden natürlichen Art des anmutigen jungen Wesens nicht verschließen. So verschieden diese beiden Menschen waren, so großes Gefallen fanden sie in der Stille aneinander.

Trotzdem war Thusnelde beunruhigt und nicht glücklich. Es kam so, wie sie gefürchtet hatte.

Immer öfter fand Elsi den Weg nach dem Schlößle, und wurde dort immer heimischer. Es konnte nicht anders sein, früher oder später würde das Herz des Kindes ihr entfremdet werden, sich in der schönen, reichen Umgebung wohler fühlen als in der bescheidenen Behausung, die ihm zur Heimat geworden. Vorläufig freilich merkte man nichts davon. Als gegen den Spätsommer hin die Tage kürzer wurden, saßen die drei Menschen fröhlich wie sonst um den runden Tisch bei der Lampe, Herr Berger brachte ein großes Werk mit bunten Bildern und zeigte Elsi seltsame Vögel und Tiere, oder Thusneldes schöne Bilderbibel, und das Kind war ebenso aufmerksam und herzig wie immer. Höchstens, daß sein kleiner Geist durch den Verkehr mit Sylvia mehr geweckt worden war, und Elsi durch ihre Fragen manchmal ihren Lehrer verblüffte. Und abends beim Gutnachtkuß schlang sie die runden Ärmlein noch ebenso warmherzig um Thusneldes Hals wie je. Nein, sie konnte sich nicht beklagen! Treuer noch als vorher legte sie dem Gott, der der rechte Vater ist über alles, was Kinder heißt, ihren kleinen Liebling ans Herz. –

Sylvia schien wirklich wohler gegen den Herbst hin, sie machte kurze Autofahrten, besuchte Thusnelde und saß so natürlich und gemütlich in dem kleinen, traulichen Heim, als wäre sie nicht das reiche, verwöhnte Fräulein aus dem Schlößle. Aber als der Winter kam, zog sie sich eine neue schwere Erkältung zu und lag wochenlang ernstlich krank an einer bösen Rippfellentzündung, von der sie sich nicht erholen konnte. Und da war es Thusnelde, die ihr zum großen Trost wurde. Niemand verstand es mit Kranken so gut wie sie. Ihr konnte Sylvia vieles sagen, was sie mit ihrem Vater nicht sprechen konnte. Davon, daß sie vielleicht nie mehr gesund werden würde, und sich innerlich bereitete für den Heimgang in die himmlische Heimat. Sie lag dann still und hold da, mit gefalteten Händen, und konnte wohl sagen:

»Es ist mein einziges Anliegen, daß ich Gehorsam lerne.« Elsi war viel um die Leidende, tat ihr kleine Dienste, und wurde ihr nie zu viel. Am meisten liebte sie es, wenn das Kind sich mit seiner Geige zu ihr setzte und spielte. Einmal auch erwähnte Sylvia Thusnelde gegenüber das besondere Wohlgefallen ihres Vaters an der Kleinen, die ihn an eine vielgeliebte Cousine und Pflegeschwester, die in seinem Elternhaus erzogen worden war, erinnerte. Das schöne Mädchen hatte sehr jung gegen den Willen der Eltern einen armen jungen Künstler geheiratet, und diese verschlossen dem heißblütigen Geschöpf, das sich ihrem Willen nicht fügte, das Vaterhaus. Damals war Herr Jansen schon im Ausland, und als er zurückkehrte, konnte er trotz aller Bemühungen die Spur der beiden nicht mehr auffinden. Sie waren wohl gestorben, verdorben! Herr Jansen aber trug noch immer schwer an diesem Erleben. –

Es sah so aus, als sollte Sylvia wider alles Erwarten noch einmal gesunden. Aber der Arzt verlangte einen monatelangen Aufenthalt im Süden. –

Eines Abends erschien Herr Jansen bei Thusnelde. Erregt ging er im Zimmer auf und ab und blieb dann vor ihr stehen.

»Fräulein Meng«, begann er, »ich möchte etwas mit Ihnen reden. Unsre Abreise rückt heran. Sie wissen, wie sehr meine Tochter an Ihrem Pflegekind hängt. Es wird ihr schwer, sich von ihm zu trennen. Und nun, – sie, – Sylvia, weiß nichts davon, aber ich möchte eine Frage, eine Bitte an Sie richten, deren Erfüllung oder Nichterfüllung allein bei Ihnen steht. Wollen Sie uns das Kind überlassen, uns erlauben, für die Kleine zu sorgen? Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß wir aufs beste, aufs liebevollste für ihr Wohl bedacht sein würden. Wir könnten ihr, die so sehr begabt ist, die bestmöglichste Ausbildung verschaffen. Ich weiß, Sie lieben das Kind, indes – Sie haben sich etwas Großes damit aufgeladen. Überlegen Sie sich die Sache einmal.« –

Thusnelde war totenbleich geworden. – Nun war es da, das Schreckliche, was sie, zuerst halb unbewußt, dann immer deutlicher gefürchtet hatte. Man wollte ihr das Kind nehmen, an dem ihr ganzes Herz hing, das Kind, das ihrem Leben Liebe und Inhalt gab.

Sie richtete sich auf. »Nie«, sagte sie ruhig und fest, niemals werde ich die Kleine aus meiner Hand geben – außer, es wäre ihr eigener Wunsch. Ich werde Elsi ...«

»Nicht jetzt«, – Herr Jansen machte eine abwehrende Bewegung. Es eilt ja nicht, und – ich wollte Sie nicht kränken, liebes Fräulein Meng. Wie Sie auch entscheiden, wir bleiben Freunde ...«

Thusnelde verbrachte eine schlaflose Nacht. Streng ging sie mit sich ins Gericht. Hatte sie recht getan? Oder war sie vielleicht selbstsüchtig und hartherzig, mehr auf ihr eigenes, als des anvertrauten Kindes Wohl bedacht? Sollte Gott andere Wege mit ihm einschlagen wollen? Aber nein, sie hatte nie gefunden, daß Reichtum die Menschen glücklicher oder besser machte. Als der Morgen graute, hielt sie es nicht länger auf ihrem Lager. Sie stand auf und sah, die Lampe in der erhobenen Hand, auf das süß schlummernde Kind. Dann setzte sie sich an ihre Arbeit in der Wohnstube. Wie zufällig fiel ihr Blick auf das Bild des Vaters. »Nicht so unruhig, Thusnelde, und Gott vertraut«, war's nicht das, was er ihr sagen wollte? Hastig wischte sie sich eine Träne aus den Augen.

Es war gegen Mittag, als Elsi fröhlich und ahnungslos von der Schule heimkehrte. Länger hielt Thusnelde es nicht mehr aus. Sie nahm sich das Kind vor.

»Elsi«, sagte sie so ruhig als möglich, »ich muß dich etwas fragen. Etwas wichtiges. Herr Jansen und Fräulein Sylvia möchten dich mitnehmen, für lange Zeit« – sie stockte – »vielleicht für immer. Möchtest du mit ihnen gehen, Elsi, von mir fort?«

Sie hielt inne. Würde das Kind einen Jubelruf ausstoßen, würde es ..?

Einen Augenblick stand Elsi verwirrt, stumm. Dann stürzte sie auf Thusnelde zu und umklammerte sie mit beiden Ärmchen.

»Nein, nein, ich will bei dir bleiben, ich gehe nicht von dir fort, nie! nie!« und sie brach in wildes Schluchzen aus.

Mit einer Leidenschaft, die man dem stillen Mädchen nie zugetraut hätte, riß Thusnelde das Kind in ihre Arme. Sie streichelte das erregte kleine Geschöpf und flüsterte immer wieder: »Wir bleiben beisammen, Elsi, wir bleiben beisammen!«

Diese Stunde nahm Thusnelde als eine tausendfache Vergeltung dafür, daß sie einst das arme, verlassene Musikantenkind bei sich ausgenommen hatte. – »Treue um Treue«, sagte Herr Berger, der gute Hausfreund, dem Thusnelde alles berichtete. »Aber, – hätten Sie etwas anderes von dem Kinde erwartet?«

*

Es gab einen schweren Abschied. Elsi weinte bitterlich, als Sylvia zum letztenmal die Arme um sie schlang. Diese selbst nahm sich aufs äußerste zusammen und blieb ruhig, ja fast heiter, um ihres Vaters und des Kindes willen. Sie sah erschreckend zart und durchsichtig aus, als sie in ihren Reisehüllen auf dem Bahnsteig stand. Noch einmal drückte sie die kleine Gestalt an sich. »Auf Wiedersehn, Elslein, auf Wiedersehen!« – Noch lange flatterte ihr weißes Tüchlein aus dem forteilenden Zug ...

Niemand wußte, daß Elsi an jenem Abend still und heiß in ihre Kissen weinte. Zum erstenmal in ihrem jungen Leben litt ihr liebevolles Herz unter einem schmerzlichen Zwiespalt. Keinen Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, die treue Pflegemutter verlassen zu wollen. Aber wenn sie an die kranke, blasse Sylvia dachte und an deren gütigen Vater, die beide Heimweh nach ihrem Elsikind haben würden, dann kam eine tiefe Betrübnis über das kleine Mädchen. Eine zarte Scheu, ein unbewußter Herzenstakt verboten ihm, Thusnelde seinen Kummer zu verraten. Und dann hatte Elsi einen sonderbaren Traum: Sie sah Sylvia in einem Nachen stehen, und in ihrem weißen Kleid, ohne Fährmann und Ruder, auf ein weites Wasser hinausfahren. Sie winkte Elsi zu, die ihre Ärmchen nach ihr ausstreckte, während der Nachen langsam ihren Blicken entschwand. Thusnelde erwachte an einem leisen Aufschluchzen. Sie griff nach dem Händlein des Kindes, dessen Bett neben dem ihrigen stand. »Fehlt dir etwas, Elslein?« – Aber es blieb alles still. –

*

Sylvia ist nicht wiedergekommen. Auf einem herrlich gelegenen Bergfriedhof hoch im schweizerischen Gebirge, wurde sie auf ihren letzten Wunsch zur Ruhe gebettet. Ein Holzkreuz mit dem geschnitzten Bilde des Heilandes trägt ihren Namen, darunter steht der Spruch: »Das Los ist mir gefallen aufs lieblichste, mir ist ein schön Erbteil worden.«

Wie der zärtlich liebende Vater, dessen ein und alles man hier in die Erde gesenkt, dazu kam, diesen Spruch zu wählen, bleibt ein Geheimnis.

Elsis bewegliches Herzchen war tief betrübt, als die Trauernachricht kam. Sie weinte sich in Thusneldes Armen aus, die selbst Leid trug um das liebe, feine Mädchen. Herr Jansen hatte ein kostbares Goldkettlein gesandt von venezianischer Arbeit, das Sylvia um den Hals getragen –, sie selbst hatte es für Elsi zum Andenken bestimmt.

Und dann wurde alles, wie es früher gewesen war. Dennoch vergaß keines das Erlebte. Sylvias Bild stand immer unter frischen Blumen, und manches mal drückte Elsi ihre frischen Kinderlippen darauf. – Einsam und verlassen in seinem großen Garten lag das Schlößle wie früher.

Wieder waren zwei Jahre vergangen. An einem Frühlingsabend klopfte ein Gast an Thusneldens Tür. Ein einsamer Mann stand draußen: Herr Jansen!

»Ja, ich bin's!« sagte er freundlich auf Thusneldes erstaunten Ausruf. »Ich bin hier, und bleibe, – wie lange, das weiß ich heute noch nicht. Es hat mich hierhergezogen, an die Stätte, die »ihre« letzte, liebe Heimat war. Und ich wollte das Kind noch einmal sehen, das wir beide ins Herz geschlossen hatten.« Da trat Elsi ins Zimmer, ahnungslos. – Er betrachtete das Kind, das stark gewachsen, und noch lieblicher geworden war. In Jansens Augen trat ein suchendes Staunen. »Ihr Ebenbild!« sagte er wie träumend halblaut zu sich selbst. »Es ist ›ihr‹ Gesicht, und doch anders, weicher.« Doch rasch faßte er sich und fing an, von Sylvia und ihrer letzten Lebenszeit zu sprechen. Eine edle Ruhe lag über dem einst so nervösen, unruhigen Mann, der jahrelang um das Leben seines Kindes gezittert hatte. Es war eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Elsi saß auf seinen Knien und er betrachtete mit stummer Rührung das ihm so wohlbekannte Kettlein, das sie um das feine Hälschen trug. – »Auch mir hat meine Tochter etwas Kostbares hinterlassen,« sagte Herr Jansen, »ein Buch, das ihr besonders teuer war, – ich meine, außer ihrer geliebten Bibel ihr Gesangbuch. Wenn ich es da hätte, so würde ich Ihnen den Vers zeigen, der sich darauf bezieht, was ›sie‹ mir zuletzt sagte.«

Thusnelde erhob sich, und holte von dem Bücherbrett ein Gesangbuch, dasselbe, welches Elsis Vater seinem Kind hinterlassen hatte. Herr Jansen schlug es auf, und sein Blick fiel auf einen kurzen Namenszug auf der ersten Seite. Klein und schwer leserlich. Er wurde blaß, starrte auf die paar Buchstaben, dann brachte er mühsam heraus: »Elke Thorn, Elke Thorn! – also doch! Meine liebe, kleine, arme Schwester! Meine Elke!«

Thusnelde wußte nicht, was dieses sonderbare Benehmen zu bedeuten hatte, und es dauerte lange, ehe Herr Jansen ruhig zu sprechen vermochte.

»Meine Ahnung, mein Gefühl haben mich also nicht betrogen«, sagte er endlich, Elsi an sich ziehend. »Sie ist das Kind meiner kleinen, lange und schmerzlich gesuchten Schwester! ›Elke‹, der nordische Name für Else, so wurde sie gerufen. Elke, meine kleine Elke! Und dies also ist ihr Töchterchen, und Sylvia hat es lieb gehabt. Wie wunderbar sind wir zusammengeführt worden! – Still und ergriffen von dem Erlebten saßen die drei Menschen beisammen.

Da war nun das Kind dieser beiden, ihr Kind, und doch ein Wesen, ein Geschöpf anderer Art, als sie gewesen waren. Thusneldes schlichte, fromme Erziehung, und vor allem Gottes geheimnisvoll bildende Hand waren über ihm. Mochte Fräulein Nane, mochten die Leute prophezeien, wie sie wollten, Thusnelde kannte die Kleine besser: Sie hatte ein festes und treues Herz! – Und dann erzählte Thusnelde von den letzten Lebensstunden von Elsis Vater, und was sie von ihm erfahren hatte. Es war wenig, und doch viel für den, der sich so sehr nach Nachricht sehnte. Er war also kein schlechter Mensch gewesen, er, dem die unerfahrene kleine Elke sich in die Hände gegeben hatte! Welch ein Trost! Er hatte sein Weib geliebt und sein Kind! Ihr Büchlein, das sie wert gehalten, fand man unter seinen wenigen Habseligkeiten, und er hatte sich nicht von ihm getrennt, nicht von ihm und seinem Kinde. Die Eltern der jungen Elke waren tot. Warum Gerhard Stövesandt, der anfangs mit seinem Weibe nach Amerika gegangen war, seinen Namen in Sanders umgeändert hatte, das blieb im Dunkel. Vielleicht leitete ihn der Gedanke, der gute Name aus altem Geschlecht passe nicht mehr für ihn, der wohl nach vielen Irrfahrten und Fehlschlägen wieder in sein Vaterland zurückgekehrt war. Gott sei seiner Seele gnädig!

– Herr Jansen ergriff Thusneldes Hand. »Nun bleiben wir beisammen, wir drei. Nichtwahr, Sie erfüllen meine Bitte und ziehen zu mir, helfen mir die kleine Elsi erziehen? Sie soll sich nie von Ihnen trennen müssen. Und, nun sie mein ist, bin ich kein armer, heimatloser Geselle mehr. Ich habe wieder eine Lebensaufgabe.«

Thusnelde ergriff ernst und mit festem Druck die Hand des Mannes. Elsi stand zwischen beiden, das eine Ärmchen um seine Schulter, das andere um den Hals der treuen Pflegemutter geschlungen. Noch begriff sie nicht alles. Aber sie verstand genug. Nun war alles gut. Sie brauchte nicht ängstlich zu wählen wie damals, – keinen Kummer zu fühlen in der Furcht, jemand wehe zu tun, niemand verlangte mehr, daß sie diejenige verlassen sollte, die sie wie eine Mutter liebte. Wie glücklich fühlte sich das kleine, zärtliche Herz! Es durfte lieben, lieben – und was gibt es wohl Köstlicheres auf der Welt?!


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