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Wie Babettle Frieden stiftete.

Von Berta Maria Hofmann.

 

Der Mundleins Görg war dem Deininger Michel aus verschiedenen Gründen gram. Erstlich einmal war der Michel ein Musterschüler und bei dem Lehrer gut angeschrieben; der Görg war zwar auch ein heller Kopf, aber er war faul und zu allerlei Streichen aufgelegt; deshalb kam es des öftern zu Ermahnungen, bei denen der Michel als Vorbild hingestellt wurde. Das hätte der Görg schließlich noch ertragen; schlimmer war das Zweite: daß der Michel nicht nur in der Schule, sondern auch auf der Dorfstraße unter der Dorfjugend großes Ansehen genoß, besonders bei den Jüngeren, denen er allzeit als ein getreuer Beschützer und Retter erschien, wenn es galt, die Schwächeren gegen Stärkere zu verteidigen.

So war er auch einmal dazugekommen, als der Görg dem blassen, schmächtigen Babettle einen Teil ihrer Erdbeeren wegnehmen wollte, weil sie sich weigerte, ihm ihre Erdbeerplätze zu verraten. Er war auf den größeren und stärkeren Schulkameraden losgefahren, hatte ihn, ungeachtet aller Gegenhiebe und Puffe, tüchtig verprügelt und hatte ihn einen gemeinen Kerl genannt.

Diese Rauferei war der Grund der gegenwärtig bestehenden Feindschaft der beiden Buben, umsomehr als sie für Görg den beleidigenden Entzug eines von ihm hochgeschätzten Rechtes zur Folge gehabt hatte: des Rechtes, beim Läuten der Betglocke zu helfen.

Das Läutamt war seinerzeit dem Michel übertragen worden, da Lehrer und Pfarrer dem armen und zugleich zuverlässigen Buben gern die paar Pfennig Verdienst zukommen lassen wollten.

Der Görg hätte das Geld auch gern gehabt, denn von seinem Vater, dem wohlhabenden aber sparsamen Platthofbauern, bekam er nur sehr selten einen Groschen Taschengeld, aber er fand sich damit ab, solange er, je nach Lust und Gutdünken, dem Michel beim Läuten in der ein wenig außerhalb des Dorfes liegenden Kirche hatte helfen dürfen.

Nach dem Streit wegen des Babettle war er eine Woche ferngeblieben. Er dachte, diese Anstandspause sei lange genug, um alles vergessen zu machen. Aber als er wieder an der Turmtüre erschien, war der Michel nicht allein; das Babettle, das seinem Beschützer wie ein getreues Hündlein nachlief, war da, hatte seine dünnen Händchen um das Glockenseil gelegt und half ziehen. Der Görg bat ganz bescheiden, ob er auch mittun dürfe. Aber sei es nun, daß der Michel sich vor dem Babettle nocheinmal ein besonderes Ansehen geben wollte, sei es, daß ihm seine Tugend und sein Ansehen überhaupt zu Kopf gestiegen waren, er drehte sich gar nicht um, sondern sagte nur so ganz hochmütig von oben hin über die Achsel: »So einen elenden Tropfen laß ich nicht in meinen Turm!«

Dieses Wort vergaß der Görg dem Michel nicht. Er sann von Stund ab darauf, wie er dem hochmütigen Kerl eines auswischen könnte.

Da ihm nicht gleich etwas Besseres einfiel, kam er zunächst einmal auf den Gedanken, den Michel in der Schule auszustechen. Er fing an, tüchtig zu arbeiten. Michel spürte, wie der Feind ihm in seinen Leistungen immer näher rückte, besonders im Rechnen. Er wollte sich nicht überflügeln lassen und bereitete im voraus alle möglichen Aufgaben aus dem Rechenbuch schriftlich vor.

Vor lauter Rechnen bis in die Nacht hinein war er eines Tages bei der Schulaufgabe ganz wirr, und er wurde immer noch wirrer, weil er sich schrecklich ärgerte, daß sein Nebenbuhler Görg seine Zahlen so flink und siegessicher niederschrieb. In seiner Verzweiflung suchte er nach dem Zettel mit den zu Hause vorbereiteten Aufgaben und schob ihn in sein Heft.

Das sah der Görg, und wie er ein paar Minuten später seine Aufgabe ablieferte, stieß er im Vorbeigehen wie von ungefähr an Michels Heft, daß es zu Boden flatterte und seinen geheimen Inhalt offenbarte.

Der Lehrer sah den Zettel und war betroffen und betrübt; so etwas hätte er seinem besten Schüler nie zugetraut. Er zankte nicht sehr; aber, – und das war schlimmer – ein leises Mißtrauen blieb in seiner Seele haften.

Dieser Erfolg in der Schule brachte den Görg auf den Gedanken, er könne versuchen, das Ansehen Michels auch bei den Kameraden ein wenig zu erschüttern. Er begann, ganz glimpflich und manierlich mit seinen Mitschülern umzugehen, auch mit den kleinen und schwachen, und das wurde ihm, dem reichen und vormals so groben Großbauernsohn natürlich noch höher angerechnet als das Freundlichsein dem armen Michel. Er verstieg sich sogar dazu, den Pflaumenbaum seines Vaters zu plündern und die begehrten blauen Früchte unter die kleineren und ärmeren Genossen zu verteilen. Mit den Pflaumen zugleich verbreitete sich das Gerücht, der Görg könne seine schöne Mundharmonika nicht mehr finden. Da jedermann wußte, wie sehr der musikliebende Michel den glücklichen Besitzer um dies Instrument beneidet hatte, ging der Verdacht den naheliegenden gegebenen Weg, und wenn auch niemand wagte, dem Beargwöhnten gegenüber eine offene Anschuldigung auszusprechen, so gab es doch des Gemunkels und der scheuen, schiefen Blicke genug.

Der Michel empfand den Umschwung in der Stimmung als Ungerechtigkeit, er wurde scheu und trotzig und ging seine eigenen Wege. Nur die kleine Babett hielt treu zu ihm. Sie litt fast noch mehr als der Bube unter den gegenwärtigen Verhältnissen, denn sie fühlte sich schuldig an dem Zerwürfnis. Nicht einmal bei ihren geliebten weißen Stallhasen, ihrem einzigen kostbaren Besitz, fand sie völligen Trost. Jeden Tag sann sie darüber nach, wie sie dem Michel helfen könne. Es fiel ihr aber nichts andres ein, als daß sie ihm täglich ihr Pausebrot hinschob mit dem Bemerken: »Ich bin satt!« Denn der Bube hatte, wie sie wohl bemerkte, immer ein sehr kleines Brot und einen sehr großen Hunger.

Der Görg seinerseits sann täglich nach, wie er dem Feind noch einen weiteren ordentlichen Streich spielen könne. Endlich glaubte er, etwas Richtiges gefunden zu haben.

Er hatte herausgebracht, daß der Michel am nächsten Mittwoch nachmittag beauftragt war, den elterlichen Krautacker auszujäten, der ganz abseits von allen andern Feldern zwischen zwei vorspringenden Waldecken versteckt lag, so daß er dort für eine ganze Weile den Augen aller Leute entrückt war. Darauf baute Görg seinen Plan.

Am Mittwoch schlüpfte er während des Mittagläutens unbemerkt und heimlich durch die offene Tür der Kirche und versteckte sich bis zu Michels Fortgang in einer der Bänke.

Dann kauerte er sich auf die Turmtreppe und freute sich des wohlgelungenen Beginns seiner Unternehmung. Sein Plan war nämlich der: er wollte eine Stunde vor der ordnungsgemäßen Zeit tüchtig läuten und dann zum Turmfenster hinausspringen und entwischen, ehe Michel von dem fernen Acker herbeikommen konnte. Von diesem Streich versprach er sich zweierlei: der Michel würde sich ärgern, daß ein andrer ihm im Läuten zuvorgekommen sei, und die Bauern würden sich über den Michel ärgern, daß er so wider Pflicht und Herkommen zu unerlaubter und irreführender Stunde geläutet; denn wen anders als den Michel konnte man des Läutens wegen zur Rechenschaft ziehen, er allein war ja den Nachmittag über im Besitz des Kirchenschlüssels.

Die Wartezeit vertrieb der Görg sich mit Lesen; dazwischen zog er seine Harmonika heraus und freute sich, daß er sie ungestört betrachten und ganz leise ein bißchen probieren konnte. Er hatte das Instrument vor kurzem in einem Winkel seiner Kammer wiedergefunden, hatte es aber keineswegs für nötig erachtet, die Nachricht über das Wiederauftauchen ebenso rasch zu verbreiten wie die über das Verschwinden.

Während er im Turm saß und wartete, saß jemand außen vor dem Turm und wartete ebenfalls. Es war die kleine Babett. Sie wollte, wie sie das häufig tat, dem Michel beim Läuten helfen. Deshalb war sie schon frühzeitig auf den Kirchenhügel gestiegen. In einem Korb hatte sie ihre geliebten weißen Häschen mitgenommen, um sie ein bißchen im Gras herumspringen zu lassen. Sie saß unter einem Fliederbusch und schaute bald auf die weißen Tierlein, die munter an Klee und Löwenzahnblättern knabberten, bald auf den fernen Acker am Waldrand, wo sie den Michel bei seiner Arbeit ganz deutlich beobachten konnte.

Auf einmal hob ganz unerwartet zu ungewohnter Stunde die Glocke zu ihren Häupten zu schwingen und zu klingen an. Ehe das Babettle sich von ihrem Erstaunen erholt und sich aufgerafft hatte, um dem sonderbaren Geschehnis nachzuforschen, ereignete sich etwas noch Merkwürdigeres: ein Bube sprang aus dem ziemlich hochgelegenen Kirchenfenster, fiel zu Boden, raffte sich auf, sank mit einem Schmerzenslaut zurück und schleppte sich dann ganz mühsam und stöhnend auf allen Vieren zu den nächsten Büschen, wo er sich verkroch.

Babettle hatte den Springer gleich erkannt: es war der Görg. Sie sah nach dem Acker. Der Michel hatte beim ersten Klang der Glocke die Haue hingeworfen; nun sprang er auf dem Fußweg der Kirche zu. Hinter ihm am Waldrand erschien ein Mann mit Flinte und Jagdhund, der Inspektor des nahegelegenen Gutshofes.

Babettle packte ihre Häschen in den Korb und lief dem Freund entgegen. Auf dem Kies vor der Kirche blitzte ihr etwas entgegen. Die Harmonika, die Görg beim Fall aus der Tasche geglitten war! Sie hob sie auf und hastete weiter.

Als sie mit Michel zusammentraf, berichtete sie eifrig, was sich zugetragen hatte. Der Bube ergriff mit der einen Hand die Harmonika, mit der andern packte er die Kleine am Arm und triumphierte: »Nun laufen wir schnell zum Lehrer und erzählen alles, damit er sieht, was für ein gemeiner Kerl der Görg ist.«

Gehorsam rannte Babettle mit, aber aufeinmal fing sie an zu weinen; sie weinte immer mehr, bis Michel schließlich anhielt und fragte: »Was ist denn los?«

Sie schluchzte: »Ich hab gedacht, es soll wieder gut werden mit euch zwei, und nun wird es ärger als zuvor. Wenn du es dem Lehrer sagst, wird der Görg noch wilder und schlimmer als er ist, seit du gesagt hast, er sei ein elender Tropf. Und ich bin schuld an allem.«

Michel war betroffen. Kam alles daher, weil er zum andern gesagt hatte: »elender Tropf?« war er nicht im Begriff, selber ein elender Tropf zu sein, wenn er hinging und den andern verriet?« Er meinte ein wenig unsicher: »Aber wenn ich's nicht sag, meinen alle, ich habe so außer der Ordnung geläutet und nehmen mir mein Amt. Niemand hat gesehen, daß ich da auf unsrem Acker war!«

Babettle wußte Rat: »Der Inspektor hat gesehen, daß du auf dem Acker warst, wie es geläutet hat. Ich laufe hin und bitte ihn, bis er es mir schriftlich gibt, daß du auf dem Acker warst. Paß nur auf meine Hasen auf!« Und ehe der Bube antworten konnte, hatte sie den Korb vor ihm niedergestellt und schoß wie ein Pfeil davon.

Nach kurzer Zeit erschien sie wieder und schwenkte triumphierend einen Zettel in der Luft. Georg schob den Zettel mit der Bestätigung in die Tasche und hob die Kaninchen in den Korb. Er streichelte das glänzende, weiche Fell und meinte anerkennend: »die gefallen mir gut; so eine gibt es im ganzen Ort nicht mehr!«

So gern und gierig Babettle sonst jedem Lobspruch für ihre Lieblinge lauschte, jetzt hatte sie kein Ohr dafür. Sie zog den Buben am Ärmel: »Jetzt gehen wir zum Görg«!

Der Görg hatte unterdessen keine gute Zeit gehabt; er hatte schreckliche Schmerzen am Fuß und ein komisches Gefühl in seinem Innern. Er fand seinen Streich, nachdem er ihn ausgeführt hatte, gar nicht mehr so geistreich. Es war ihm sehr ungemütlich zu Mute, wenn er an das Ruchbarwerden seiner Täterschaft dachte. Sein Vater verstand keinen Spaß; so zurückhaltend er mit dem Taschengeld war, so freigebig konnte er zu Zeiten mit Schlägen sein.

Der Görg sah daher mit recht bänglichem Gefühl, wie sein Gegner und Babettle auf sein Versteck zukamen. Michel pflanzte sich vor ihm auf: »Das Babettle und ich wissen, daß du geläutet hast. Wir haben auch deine Harmonika gefunden!« Und er hielt sie ihm vor die Nase und schwieg.

Das Babettle mit seinem sanften Stimmlein fuhr an seiner Stelle fort: »Er will es niemand sagen, wenn du nicht mehr garstig gegen ihn bist.«

Görg schaute freudig überrascht und dankbar auf; das war einmal anständig! Aber der Michel fiel ein: »Du mußt auch versprechen, daß du allen sagst, wie es mit der Harmonika war, sonst sag ich's doch!«

Das war eine Drohung, darauf konnte man nicht hören. Görg wurde wieder verstockt und wandte den Kopf zur Seite. Michels Gesicht wurde ganz finster. Es entstand eine peinliche Stille.

Babettle sah entsetzt von einem zum andern; nun wurden ihre schönsten Hoffnungen auf Versöhnung wieder zunichte. Die Tränen kamen ihr wieder.

Auf einmal stieß sie den Deckel des Korbes zur Seite; mit jeder Hand packte sie ein Kaninchen an den Ohren und hielt die zappelnden Tierlein rechts und links einem jedem der verstockten Sünder dicht vors Gesicht: »Ich schenk euch jedem einen Hasen, dir einen, Michel, und dir einen, Görg; seid nur wieder gut miteinander!« flehte sie.

Die Buben schauten beide auf; da stand der kleine Friedensengel mit verheultem Gesichtchen und streckte den beiden Feinden als Versöhnungsgabe ihre kostbarsten Besitztümer entgegen, die kleinen strampelnden Kaninchen.

»Nein, nein, nein!« riefen die Buben zugleich, »die brauchst du nicht hergeben!« und Görg fuhr tapfer fort: »Wir sind auch so wieder gut; ich sag, wie es mit der Harmonika war!« und er streckte seine Hand aus, die Michel eifrig ergriff und kräftig drückte. –

Die Folge dieser Versöhnung war: der Lehrer hatte von nun an zwei sehr gute Schüler; die Glocke hatte zwei eifrige Läutbuben; die Dorfjugend hatte zwei bewunderte Helden und das Babettle hatte nicht nur zwei kleine weiße Hasen, sondern überdies noch zwei getreue große Freunde.


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