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Unser Christbaum in Alexandrien.

Von Else Doerfler

 

»Mutti, wann kommt das Christkind?« fragte Brüderchen wohl zwanzigmal des Tages unsre Mutter in Alexandrien. Es war kurz vor Weihnachten. Nie müde oder ungeduldig gab die Gute zur Antwort: »Bald kommt es, bald!« Bis eines Abends die Weihnachtstüre weit aufflog, wir mit leuchtenden Augen vor dem strahlenden Christbaum standen, mit gefalteten Händen unser: »Stille Nacht, heilige Nacht« sangen und dann jubelnd an unsre Bescherungstische eilten. Das heißt, Bruder Hermann und ich. Brüderchen stand noch in Seligkeit versunken vor dem großen Christbaum, an den es sich vom vergangenen Jahre her nicht mehr so deutlich entsinnen konnte.

»Christbaum!« flüsterte es und seine Händlein öffneten und falteten sich wieder, »Christbaum!« Sein Bescherungstisch mit dem hölzernen Pferde, dem neuaufgefrischten geliebten Hampelmann, »Baba« genannt und dem neuen Bilderbuch freute ihn sichtlich. Mit dem strahlenden »Christbaum« aber ging dem Kinde ein Stück Himmel auf Erden auf. Jede Silberkugel, jeder goldene Tannenzapfen, jedes schimmernde Lichtlein daran war sein Entzücken. Während ich in Seligkeit versunken über meinen neuen Büchern im »Lieblingswinkel« saß, Bruder Hermann seinen neuen Werkzeugkasten einer eingehenden Prüfung unterzog, stand Brüderchen immer wieder vor dem Christbaum und: »Mutti, ein Pferd! Mutti, ein Nikolaus! O Mutti, ein silbernes Trommelchen!« klang das liebe helle Stimmchen durch das hohe Zimmer. Vater nahm das jubelnde Kind auf den Arm und zeigte ihm den strahlenden Stern an der Spitze des Baumes.

»Baba auch sehen,« bat Brüderchen, ließ sich von Vaters Arm auf die Erde niedergleiten und der geliebte Hampelmann mußte alles gebührend mitbewundern. »Alles Englein bracht, Baba« flüsterte das liebe Kind und sein Gesichtchen leuchtete vor Seligkeit.

Aber noch einer stand im Bescherungszimmer und bewunderte den Christbaum mit aufgerissenen, großen, schwarzen Augen. Ibrahim, der Sohn unsres Boabs (Türhüters). – Es war Sitte in unsrem Hause, daß alle seine Bewohner an der Bescherung teilnehmen durften, von Therese, der treuen Köchin bis zu Ibrahim, dem Kinde des langen, schwarzbraunen Boabs Achmed, des Berberiners. Ibrahim war nicht vom Christbaume zu trennen. Als alle sich schon längst zurückgezogen hatten und wir Kinder fröhlich mit unsren Eltern im Weihnachtszimmer weilten, um die ganze beglückende Stimmung des heiligen Abend nochmals zu durchleben, tauchte aus dem hintersten Winkel des Gemaches Ibrahim auf.

»Kris – pam«, sagte er, und seine schwarzen Augen brannten vor Entzücken, er kreuzte die Arme über die Brust. »O – ah – – kris – pam«. Seine dicken, roten Lippen formten das schwere deutsche Wort voll Wonne immer wieder. Dann legte er sich zutraulich mit Brüderchen vor der kleinen, strohgedeckten Krippe nieder, in welcher das Christkind lag, bewunderte es – dazu die Lämmlein der anbetenden Hirten, das Öchslein und Eselein im Stalle, das Lichtchen, das hinter dem kleinen Fenster der Krippe brannte und sie mit geheimnisvollem Schein erhellte.

»La – a – la – a –« murmelte er bewundernd.

»Das ist das ›Christkind‹, Ibrahim,« belehrte ihn Bruder Hermann. Er schüttelte nichtverstehend den Kopf.

»Christ – kind« rief ich ihm zu.

»Uachet bint –« (ein Kind) sagte er. »Ja,« nickte ich eifrig. »Bint suggeir –« (kleines Kind). Ein Gedankenblitz durchzuckte mich. »Es ist Allahs Kind, Ibrahim,« erklärte ich ihm weise.

»O – ah – – o ah!« Er verbeugte sich tief. Immer, wenn er nun in unser Bescherungszimmer kam – verneigte er sich mit gekreuzten Armen auf der Brust. Der kleine braunschwarze Ibrahim vor dem Gotteskindlein in der Krippe. Jeden Abend wurden die Kerzen unsres lieben Christbaums der deutschen Heimat angezündet. Jeden Abend stellte sich Ibrahim unaufgefordert ein. Sobald die Sonne untergegangen war und die Dunkelheit eintrat. Dämmerung gibt es in Ägypten nicht. Der »krispam« übte einen magischen Zauber auf den braunen Knaben aus. Als Mutter ihm einmal eine Silberkugel und einen Tannenzapfen vom Baume schenkte, kannte sein Glück keine Grenzen. Und seine Salems (Verbeugungen des Dankes) fanden kein Ende.

Wir waren es schon bald gewöhnt, Brüderchen, Baba und Ibrahim einträchtig und selig verklärt vor dem Christbaum sitzen zu sehen. Nie schleckten sie ein Zuckerstückchen oder Kringelchen vom Baume. Als später die Zimtsterne an den unteren Ästen unheimlich rasch verschwanden – bekannte sich Hermann reumütig als Missetäter.

Wochen vergingen. Vor Schulbeginn war es Sitte der deutschen Familien in Alexandrien, die Christbäume gemeinsam abzuleeren, und gleichzeitig ein großes Kinderfest zu feiern. Unter Jubel und Lachen wurden die Christbäume geplündert, das Zuckerzeug verlost, die schönsten Spiele gespielt. Als eines Abends zwanzig deutsche Kinder unser Haus verlassen hatten, suchten wir Brüderchen. Es war nirgends zu finden. »Gewiß ist es im Bescherungszimmer,« sagte die Mutter. Wir spähten in jeden Winkel. Endlich klang aus dem dunkelsten tiefes Weinen. Hinter der abgeleerten Tanne kauerte Brüderchen – Baba im Arme – neben ihm Ibrahim. In Tränen aufgelöst.

»kris – pam«, schluchzte Ibrahim. Sein ganzer Körper zuckte vor Schmerz.

»Christ – baum«, schluchzte Brüderchen und starrte hoffnungslos nach dem geplünderten Baume.

»Nächstes Jahr bringt das Christkind einen noch schöneren, größeren,« tröstete die gute Mutter.

»kris – pam«, schluchzte Ibrahim noch fassungsloser als zuvor.

»Christ – baum«, schluchzte Brüderchen – zitternd vor Weh und Schmerz.

»Wenn's so weiter geht, entsteht ein See im Zimmer,« sagte Bruder Hermann trocken. Dann aß er einen Zimtstern nach dem andern auf, die er sich von seinem Weihnachtsteller eingesteckt hatte.

Mir kam ein rettender Gedanke.

»Mutter! Mutter! schenke mir den oberen Teil des Christbaumes mit seinen Ästen,« bat ich, »ich will Brüderchen mit meinem Zuckerzeug einen neuen kleinen Christbaum schmücken, o Mutter, erlaub es doch!« Und die Gute willigte ein.

Mit der Hoffnung, morgen einen neuen kleinen Christbaum zu bekommen, ließen sich Brüderchen und Ibrahim endlich beruhigen. Und am nächsten Abend schmückte ich wirklich meinen Christbaum für Brüderchen mit unbeschreiblicher Wonne und Glückseligkeit. Ein Paar glänzende Kugeln, sechs Lichtlein und silbernes Engelshaar hatte mir die Mutter dazu geschenkt.

»Stille Nacht, heilige Nacht,« sang Brüderchen, Baba im Arm, vor der verschlossenen Türe mit selig erwartendem Stimmlein. Sie flog auf. Mit lautem Glücksschrei stand er vor seinem Christbäumchen. Als ich mich umdrehte stand Ibrahim hinter mir.

»kris – pam – kris – pam!« jauchzte er. Mich nahm Wunder, daß er ihn nicht umarmte und sich die Finger und sein grellgelbes Hemdlein daran verbrannte. – Jeden Abend zündete ich nun für Brüderchen den kleinen Christbaum an. Jeden Abend stand Brüderchen mit Baba und Ibrahim davor. Selig, wie Kinder nur sein können.

Nach zwei Wochen fing der Christbaum an seine Nadeln zu verlieren. Täglich lagen neue grüne Häuflein am Boden. Eines Morgens nahm Mutter Brüderchen auf den Schoß und sagte:

»Brüderchen hat doch die Vögel lieb?«

»Ja,« nickte Brüderchen eifrig.

»Mutter hat einen Gedanken, Brüderchen!« Er schaute sie mit seinen offenen, lieben Blauaugen an. »Wir stellen den Christbaum in den Garten hinaus, die Vöglein wollen doch auch einen Christbaum mit Zuckerplätzchen haben. Und im Garten hält er sich noch einige Tage, willst du, Brüderchen?

Und so wanderte der kleine Christbaum in den Garten hinaus. In Ägypten liegt im Winter weder Eis noch Schnee. Es grünt und blüht dort weiter zu jeder Jahreszeit. Das hätte die deutsche Tanne sich auch nicht träumen lassen, daß sie dreimal als Christbaum zu Ehren kommen sollte im fernen Ägyptenlande. Mit lautem Zwitschern und Zwatschern ließen sich nun die Zugvögel darauf nieder und pickten zu Brüderchens heller Freude an den Zuckerplätzchen herum und sangen und wiegten sich auf den Tannenzweigen wie in ihrer deutschen Heimat im Walde. Am dritten Tag war unser kleiner Vogelchristbaum spurlos verschwunden.

»Mutter! unser Christbaum ist fort!« rief ich erschrocken aus und stürzte ins Zimmer herein. Brüderchen rieb sich schlaftrunken die Augen.

»Unmöglich,« sagte die gute Mutter.

»Englein – holt?« sagte leise Brüderchen.

»Nein, Brüderchen, einen Christbaum, der so kahl ist, tragen die Englein nicht mehr in den Himmel hinauf,« erwiderte die Mutter und streichelte Brüderchens goldhelle Löckchen.

Es war uns ein Rätsel. Aber der Baum blieb verschwunden.

Drei Tage darauf schickte mich die Mutter zu unserem Boab mit einem Auftrag. Er hatte seine kleine Wohnung rechts und links vom Hauseingang; um das Kommen und Gehen aller Leute in unser Haus zu beobachten.

Als ich eintrat, blieb ich wie angewurzelt stehen.

In der linken Ecke, auf kleiner arabischen sanie (Tischchen), stand unser Vogelchristbaum. Kahl, mit herabhängenden Ästen, drei angebissenen Zuckerstücklein und drei abgebrannten Lichtstümpfchen.

»I – bra – him!«

Ein gellender Schrei klang aus dem hintersten Winkel. Dann schoß etwas Braunes, Dunkles an mir vorüber – zwei schwarzbraune Arme streckten sich verzweifelnd nach dem kahlen Baume aus, von dem noch die letzten Nadeln abfielen.

»die – bitta – an – ha, – die – bitta – an – ha –« (er gehört mir, mir), schluchzte und wimmerte es in allen Tönen.

»I – bra – him!«

»O sitte Else – o sitte – Else!« (kleine Herrin). Er preßte die kalten Zweige an sein dunkles Gesicht. Tränen schossen aus seinen schwarzen Augen, »kris – pam –, kris – Pam – – mie« (mein eigen).

»Ibrahim,« sagte ich ganz traurig, »das hättest du nicht tun sollen. Das war batall (schlecht), aber jetzt behalte ihn.«

»krispam – bitta – an – ha,« hörte ich ihn jubeln und schreien, so laut, als Araberkinder nur schreien können. Und das grellgelbe Hemdlein umflatterte mit zuckenden braunen Armen den heißgeliebten, dürren »krispam.«

Erschrocken erzählte ich der Mutter alles, was ich erlebt.

Sie sah mich still sinnend an. Dann nahm sie meine beiden Hände in die ihren. »Wir wollen Ibrahim nächstes Jahr ein eigenes Christbäumchen schmücken,« sagte sie in ihrer steten Liebe und Güte; »er soll nicht mehr in Versuchung geführt werden, den Vogelchristbaum zu holen.« Wie rasch hatte sie doch die richtige Lösung gefunden! Die gute Mutter!

Ibrahims Jubelschrei über seinen »krispam« im nächsten Jahre habe ich nie vergessen.


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