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Die Freunde.

Erzählung von Else Doerfler.

 

Heinz Dehlius war ein stiller, versonnener Knabe. In der Klasse fleißig und beliebt, verstand er einen Scherz und vereitelte nie einen lustig geplanten Anschlag. Hermann Held war sein bester Freund. Er war Vorturner, ein frischer, kräftiger Junge, blauäugig und mit blondem Haar. Es gab immer ein hübsches Bild, wenn beide gemeinsam heimgingen und der kräftigere Hermann dem Schwächeren beim Berganstieg die schwere Schultasche trug. Sie wohnten gemeinsam in einem Villengebäude vor der Stadt auf halber Bergeshöhe.

Zu diesen Freunden gesellte sich nun ein dritter. Er hieß Albrecht Körner, war blaß, hochaufgeschossen für seine zwölf Jahre, der Sohn eines früh verstorbenen Mechanikers, und bewohnte mit seiner Mutter und fünf Geschwistern eine kleine Wohnung in der Altstadt. Als Heinz und Hermann ihn besuchten, erschraken sie vor der Armut, welche ihnen dort entgegentrat. Es war aber alles so sauber in der Stube und Albrechts Mutter eine solch freundliche Frau, daß sie sich bei ihm gleich heimisch fühlten. Dazu wuchs ihre Freundschaft von Tag zu Tag und sie hießen in der Klasse nur mehr »der Dreibund«.

Da geschah es eines Morgens, daß Albrecht, der eine schwierige Mathematikaufgabe an der Schultafel zu lösen hatte, zum Schrecken aller Kameraden ohnmächtig umfiel. In der frischen Luft des Schulhofes wachte er sofort wieder auf und richtete sich erschrocken in die Höhe.

»Verzeihung, Herr Professor,« murmelte er, peinlich verlegen.

»Hast du kein Zehnuhrbrot gegessen, Junge?« fragte dieser freundlich. Eine helle Röte lief über Albrechts blasse Wangen. Niemand wußte, daß oft bis Mittag kein Bissen über seine Lippen kam, denn er schenkte stets seinem schwachen, jüngsten Bruder sein Frühbrot.

»Wer hat von meinen Jung's noch Essen bei sich?« rief Professor Hertwig laut. Dreißig Paar Knabenhände griffen sofort in ihre Taschen. Was kam da alles zum Vorschein! Ein Zucken lief über des Professors Gesicht. Schusser und Steine, Lehmkugeln und Schokolade, Messer und Knöpfe – ab und zu auch ein Brotrest oder ein Apfel.

»Nur her damit, d. h. mit dem Eßbaren; und nun greife tüchtig zu, Albrecht!« Er reichte ihm vor allem ein Glas frisches Wasser.

Nach einer Viertelstunde saß Albrecht Körner wieder munter neben Hermann Held auf der Schulbank. Als sich aber nach zwei Tagen der Vorfall wiederholte, bevor Heinz und Hermann, wie sie es verabredet, ihr Zehnuhrbrot mit ihm geteilt, murmelte der Professor etwas von »völlig unterernährt« in seinen Bart und suchte nach Klassenschluß die Wohnung der Witwe Körner auf. Verlegen öffnete diese die Türe und reichte ihm die abgearbeitete Frauenrechte zum Gruße. Mit einem Blick in die Stube der Armut wußte der Professor von Albrecht Körner alles.

»Ihr Sohn ist mir ein lieber, fleißiger Schüler,« sagte er bewegt, »ich werde für Frühstück und Mittagstisch für ihn sorgen, verlassen Sie sich darauf.«

Tränen standen in den Augen der Witwe. »Die Pension ist so gering,« sagte sie schlicht, »die Kinder helfen mir sparen, soviel sie können – denn – es sind gute Kinder –«

»Sie sollen es bald leichter bekommen, Frau Körner.« Der Professor drückte ihr fest die Hand. Dann ging er. Unterwegs begegneten ihm Heinz und Hermann.

»Guten Morgen, Herr Professor.« Die Mützen flogen vom Kopfe.

»Grüß Gott, Jung's. Hört mal – ich hätte wegen dem Albrecht Körner eine Bitte an euch. Könnte er nicht abwechselnd Mittagessen bei euren Eltern bekommen?«

»Gerade sprachen wir davon!« Die Augen der Knaben strahlten. »Unsre Mütter haben sofort ihre Einwilligung gegeben.«

»Schön – das wäre somit erledigt. Und euer Zehnuhrbrot teilt ihr auch mit ihm – das habe ich schon bemerkt. Recht, Jung's! Geben ist das Schönste im Leben!«

*

Albrecht Körner weinte, als er hörte, daß es ihm nun so gut gehen sollte. Es war ein tiefes Weinen, das allen ins Herz schnitt.

»Ich kann es nicht annehmen,« schluchzte der blasse Knabe, »wenn Mutter und Geschwister daheim hungern – – –.«

»Für Mutter und Geschwister lasse mich nur sorgen, Albrecht!«

Ein Freudenstrahl glitt über das offene, schmale Knabengesicht; zwei Hände griffen dankend nach der Rechten des Professors. Darauf läutete die Schulglocke. – Glücklich ging Albrecht Körner mit seinen Freunden ihrem Hause zu. –

Der Professor sah ihm lange nach. »Aus dem Jungen wird bestimmt noch etwas Tüchtiges im Leben,« sagte er freudig zu sich, »dazu ist es meine Aufgabe, ihm vorwärts zu helfen. Seltsam, daß aus der Armut oft unsre tüchtigsten Männer wachsen und der Reichtum vielen Kindern kein Glück bringt!« –

*

»Jung's,« rief eines Morgens Hermann Held in die Klasse hinein, »ich habe einen Gedanken –!«

»Na, hoffentlich einen guten –!«

»Habt ihr je einen schlechten bei mir entdeckt?,« klang es lachend zurück.

»Na, schieß los, du spannst uns auf die Folter«.

»Ist Albrecht anwesend?«

»Nein« –

»Also, wir veranstalten eine Weihnachtsverlosung für Albrecht Körner!«

»Famos!«

»Großartig!«

»Ausgezeichnet!« – Fritz Weber hob Hermann auf seine Schulter – es war der Längste der Klasse – und trug ihn unter allgemeinem Hallo im Schulzimmer herum.

»Und zwar zeichnen, schnitzen, malen und laubsägen wir die Gewinne selber«, eiferte Hermann von seinem Sitz herunter, »es müssen alles schöne Sachen sein – verstanden – nebenbei gesagt, spendieren unsre Mütter bestimmt auch etwas dazu.«

»Hermann, du bekommst eine Ehrenkrone aufs Haupt gesetzt –«

»Du verdienst eine Auszeichnung –«

Da trat der Professor ein.

»Na, Jung's, was ist denn das für ein Radau – das bin ich bei meiner guten Klasse gar nicht gewöhnt –«

Lachend und strahlend wurde ihm der Plan mitgeteilt. »So ist's recht, ihr habt mein vollstes Einverständnis.« Er war sofort mit Feuer und Flamme bei der Sache. »Im geschmückten Schulsaal wird die Verlosung gehalten. Die ersten zehn Lose nehme gleich ich – hoffentlich seid ihr nobel und laßt mich nicht lauter Nieten ziehen.«

Helles Lachen war die Antwort.

»Nun aber ruhig, Albrecht kommt über die Straße! Laßt ihn selbstverständlich mitmachen – er zeichnet flott – und sagt, die Verlosung sei einfach für einen guten Zweck.«

Da trat Albrecht Körner in das Schulzimmer. Der Unterricht begann. Leuchtende Knabenaugen schauten zu dem verehrten Lehrer auf, der es so gut – so gut – mit seinen Jung's verstand.

Und Weihnachten rückte immer näher. Die Schulaufgaben fielen gut aus, obgleich die stattfindende Lotterie den Knaben viel Zeit weggenommen hatte. Eine ganze Reihe schöner Geschenke prangte schon im Schulschrank, dazu die verlockende Aussicht, was Väter und Mütter noch schenken wollten. Eben brachte Albrecht zwei gelungene Farbenzeichnungen der Stadt, die er entworfen und eingerahmt hatte. Der sonst blasse Knabe sah frisch und rotwangig aus. Man sah, wie ihm die gute Kost anschlug. Dazu konnte er die Mutter noch unterstützen durch Nachhilfestunden, welche ihm Professor Hertwig bei minderbegabten Knaben verschafft. Das war seine größte Freude.

Der Verlosungstag kam immer näher. Am 18. Dezember fingen die Knaben an Lose zu drehen. Am 20. Dezember sollte das Fest stattfinden.

»Was soll das Los kosten?« berieten sie untereinander.

»Wir wollen es recht billig machen, aber tüchtig viele Hanswurstl (Nieten) darunter geben«, riet Franz Müller und rieb sich vergnügt die Hände.

»Also 10 Pfennige« –

»Abgemacht! Und Sonntag den 20. ist die Verlosung, nachmittags 3 Uhr. Da haben alle Eltern Zeit.«

»Sogar mein Vater,« lachte Hermann, der ein Arztsohn war. »Übrigens, wer stellt Tannenreisig zum Schmücken des Saales?«

»Ich,« rief Klaus Peter, der Forstmeistersohn.

»Dein Vater kann sich gratulieren, wie wir seine Tannen plündern werden.« – In diesem lustigen Tone ging es endlos weiter.

Und der 20. Dezember kam heran. Es war ein herrlicher, trockener Wintertag. Voll Begeisterung schmückten die Knaben den Schulsaal mit deutschen Fahnen und Tannengrün, ordneten ihre Geschenke, dazu die Gaben der Mütter auf langen, weißgedeckten Tischen und befestigten die Glücksnummern daran. Als es 3 Uhr vom Johannesturme schlug, öffneten sich die Saaltüren. Eine große Anzahl Menschen strömte unter einem freudigen Ruf der Bewunderung herein. Professor Hertwig hielt eine kurze Begrüßungsrede, wies auf den guten Zweck der Weihnachtsverlosung hin und auf die helle Freude seiner Jungen, welche sie erdacht und zusammengestellt. Dann begannen zwölf Knaben mit dem Verkauf der Lose. Ein Lachen und Scherzen flog dabei hin und her.

»Natürlich, ich hab zehn Hanswurstl gezogen,« rief ein Vater lachend aus, »Lieschen, hol mir nur gleich nochmals fünf Lose, du willst doch was gewinnen, mein Kind.«

»Hurra! ich hab einen Treffer!« schrie ein kleiner Junge. Er wollte sofort auf den Geschenktisch losstürzen und sich etwas aussuchen. Aber die Knaben, welche davor eine Schnur gespannt, hielten ihn zurück.

»Du bekommst gleich deinen Gewinn,« trösteten sie ihn.

»Ich möchte zwei Lose kaufen,« rief ein fünfjähriges Mädchen. Drei Knaben mit Tellern voll Losen stürzten sofort auf sie zu.

»Nimm nur von jedem,« sagte die gute Mutter.

»Mutterle, Mutterle – alle drei haben einen Treffer!«

»Hurra! der Hermann hat den Haupttreffer gemacht, das feine Geschichtsbuch, vom Herrn Professor gestiftet!«

»Ehre, wem Ehre gebührt!« Neidlos umstanden ihn die Kameraden »Du hast den feinen Plan mit der Verlosung ausgeheckt, dir gehört auch der erste Preis, mein Sohn.«

Nach einer Stunde waren alle Lose verkauft. Ein helles Glockenzeichen erklang; mit ihm begann die Verteilung der Gewinne, die Professor Hertwig übernommen.

Nr. I. Ein Bild unsrer Stadt in geschnitztem Rahmen; wer hat Nr. I?

»Ich hab's – ich hab's!« Ein zehnjähriger Junge drängte sich vor; er nahm es strahlend in Empfang.

»Nr. II. Ein Uhrständer; Laubsägearbeit. Wer hat Nr. II?«

»Nr. III. Eine Tafel Schokolade.«

Immer wieder holte den Gewinn der lachende Besitzer des Loses.

»Nr. IV. Ein kleines Gemälde.«

»Nr. V. Ein Buch.«

»Nr. VI. Eine Puppe.«

»Mir, mir,« jubelte ein herziges, kleines Mädchen, nahm sie selig in die Arme und küßte sie voll Zärtlichkeit vor allen Anwesenden.

»Nr. VII. Eine Mütze.«

»Mutter, die kann ich gut brauchen.« Gleich wurde sie auf den Blondkopf gesetzt.

»Nr. VIII. Ein paar Kinderstrümpfe.«

Helles Gelächter! Ein Gymnasiast hatte sie gewonnen.

»Nr. IX. Ein Wandbrett aus Kerbschnitt.«

»Nr. X. Eine geschnitzte Schatulle.«

Und so ging es weiter, hundert Gewinne wurden verteilt. Freude und Lachen überall. – – –

»Meine Arbeit hat der Kommerzienrat Hellwig gewonnen,« – »meine der Professor Müller,« – »meine der dicke Bäcker Meier,« so schwirrten die lebhaften Knabenstimmen durcheinander.

»Du, Hermann, wenn der Albrecht wüßte, was wir wissen,« raunte Heinz seinem Freunde ins Ohr.

»Ich bin zu glücklich,« sagte Hermann, »die Sache verlief glänzend – der Erfolg wird großartig sein; denke, viele Väter haben das Doppelte gezahlt und –« jubelte er, »mein Vater hat auch dabei sein können!«

Wieder erklang ein Glockenzeichen. Das Stimmengeschwirr legte sich. Mit ein paar herzlichen Schlußworten dankte Professor Hertwig für das überaus zahlreiche Erscheinen aller Eltern, für ihre so bereitwillig gespendeten Gaben und den raschen Verkauf der Lose. Mit einem jubelnden:

»Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt« –

schloß die schöne Feier.

*

Am Weihnachtsabend überreichten zwei frohe, glückliche Knaben der armen Witwe Körner 300 Mark als Weihnachtsgruß ihrer gesamten Klasse. Es war der Erlös der Verlosung. Der Witwe liefen die hellen Freudentränen über die blassen Wangen. »Vergelt's Gott!« sagte sie und das klang so innig – daß es keiner andern Worte weiter bedurfte, so sehr sie auch danach suchte; sie brachte keines über die freudezitternden Lippen. Albrecht aber hatte seinen Kopf auf den Tisch gelegt und schluchzte. Dann sprang er auf und reichte Heinz und Hermann die Hand.

»Habt Dank, ihr treuen Freunde,« sagte er ergriffen, »für alles, was ihr an uns getan! Wenn ich euch einmal im Leben einen großen Dienst erweisen kann, soll es mein glücklichster Tag gewesen sein!« Darauf zündete er den kleinen Christbaum an mit den sechs Kerzen und den rotbackigen Äpfeln für die jubelnde Geschwisterschar. Die Mutter nahm das Bübchen auf den Arm, jedes bekam einen Lebkuchen in die Hand und:

»O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit«

erklang es aus frohem Kindermunde. Fest und fröhlich sangen Heinz, Hermann und Albrecht mit. – –

»Das war das glücklichste Weihnachtsfest, das wir je erlebt,« sagten die beiden Freunde, als sie heimwärts schritten, »Professor Hertwig hat recht:

Geben ist das Schönste im Leben


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