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Erzählung von Harry Weiß.
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Der Frühling des Jahres 1890 war angebrochen. In den träumerisch dahinrollenden Fluten der Nordsee spiegelte die Sonne wohlgefällig ihr Antlitz und lächelte heiter zu dem neckischen Spiel der jungen Möven über dem Wasser. Auch das Meer feierte das Erwachen der Natur. Hast du es schon gesehen in seiner erhabenen Größe im Glanz des erwachenden Frühlings? Geh' hinab an den Strand, sieh', wie es wogt und glitzert auf endlos weiter Fläche. Es rauschen die Wellen zum Strand, sie flüstern miteinander über das, was sie einst gesehen und nun längst dahingesunken in das Meer der Vergessenheit. Wunderschön ist Gottes Erde, aber Seine Geschöpfe sind nichtig und die Arbeit derselben ist vergänglich. Was einst bestanden, liegt längst in Schutt und Staub. O Menschenkind, du hinfälliges Geschöpf, du nennst dich Krone der Schöpfung, doch hier unten ist doch wohl deine Heimat nicht. Sieh', wir haben Geschlechter kommen und wir haben sie hinsterben sehen, anderen Platz zu machen. Was wir indes einst geworden, da des Allmächtigen »Werde« uns das Dasein gab, sind wir geblieben, um im steten Wechsel, doch immer dieselben, Zeugnis abzulegen von der Güte und Langmut des ewigen Gottes, und den Menschen zu sagen, daß droben in der Höhe noch ein Vaterhaus ist.
Sei gegrüßt, du weite See, im Licht des erwachenden Frühlings, rede zu den Menschen in deiner stummen und doch so beredten Sprache von der Größe dessen, der dich geschaffen.
An einem lieblichen Maitage schon genannten Jahres wanderte kurz vor Sonnenuntergang eine männliche Gestalt am Strand der friesischen Küste auf und nieder. Hermann von Wardo, so wollen wir ihn nennen, war eine imponierende Erscheinung. Groß und stark gebaut, und sein Gang trotz der 60 Jahre, welche er bereits zählen mochte, fest und sicher. Freundlich, fast weich hätte man den Blick seiner blauen Augen nennen können, wenn nicht in seinen Zügen etwas gelegen hätte, was seinem Wesen etwas kaltes, beinahe abstoßendes verliehen.
Still in sich versunken schritt er am Strand auf und ab und hatte anscheinend seiner Wanderung kein bestimmtes Ziel gesetzt. Auf einem Stein ließ er sich nieder und sah hinaus in die See.
»Wohl höre ich, was ihr mir sagt, ihr rauschenden Wellen«, murmelte der Greis vor sich hin. »O Ewigkeit du furchtbares Wort.« Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und gedachte längst verschwundener Tage. »Die Zeit heilt Wunden«, fuhr er in seinem Monolog fort, »macht sich aber vergangenes Unrecht gut, sühnt sich jemals die Schuld der Vergangenheit?« Hermann von Wardo seufzte schwer auf, und eine Thräne nach der andern rollte herab in seinen langen, weißen Bart.
Was sind doch körperliche Schmerzen und wären sie noch so groß, im Vergleich zu jenen Qualen der Seele, die ein verletztes Gewissen dem Menschen bereitet? Wahrlich, eine Hölle auf Erden, da der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlischt.
Der Greis erhob sich, den Heimweg anzutreten. Wie friedlich war die Natur um ihn her, o, wie sehnte auch er sich nach Frieden. Eben hatte er eine Anhöhe erstiegen. Die kleinen Wölkchen, die sich vor einer Stunde gezeigt, waren mit lawinenartiger Schnelligkeit zu einer schwarzen, undurchdringlichen Wolkenwand gewachsen, und bedeckte, einem lauernden Ungeheuer gleich, den Himmel. Wo ist die flutende Welle? Du suchst sie vergebens. O Frühling, nur flüchtig war dein Gruß, den du dem Meere gesandt. Donnernd stürzen die Wasserberge, von grellem Widerschein der untergehenden Sonne magisch beleuchtet, gegen und über einander. Die weißleuchtenden Schaumkronen auf den Häuptern jagen sie gleich Furien daher, sich in einem Augenblick vernichtend, um im nächsten aus einem Chaos wildrauschender Fluten wieder zu erstehen, den Kampf von neuem zu beginnen und im ewig wechselnden Einerlei ihr wildes Spiel fortzusetzen.
Lang stand Hermann von Wardo versunken in dem gewaltigen Anblick, der sich hier ihm darbot. Es that ihm wohl und gewährte ihm eine gewisse Befriedigung, den Kampf der Elemente zu schauen. Stand doch auch der Sturm so recht im harmonischen Einklang mit den stürmischen Gefühlen, welche in diesem Augenblick seine Brust durchtobten.
»Wohl mag es ein dem Menschen feindliches Geschick geben, das sich zu Zeiten aufmacht, ihn zu verderben«, sagte Hermann von Wardo zu sich, während ein unheimliches Feuer aus seinen Augen leuchtete, »aber es gibt keinen Gott.«
Ein Blitz zuckte aus der finstern Wolkenwand, – dem ein lang hinhaltender Donner folgte.
Die Sonne war in die Wogen hinabgetaucht, kein Sternenhimmel stand über dem Meer. Brüllend stieg die See gegen die schützenden Deiche.
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Mitten im Grün schattiger Laubwaldungen, welche sich westlich des an der friesischen Küste gelegenen Fischerdörfchens N. hinzogen, stand ein kleines Waldhaus, von den Bewohnern des Dorfes nicht anders, denn das »Waldschloß« genannt. Vor drei Jahren hatte es sich Hermann von Wardo, als er von Schlesien in diese Gegend zog, erbaut. Die Bauart des Schlosses selbst, wie auch die Anlagen der Gärten, die das Gebäude umgaben, ließen es auf den ersten Anblick erkennen, daß der Erbauer fein ausgeprägten Sinn für Kunst hatte. Epheuranken zogen sich an der Front des Hauses hinauf bis unter das Dach, und aus dem Grün leuchteten die blanken Scheiben, wenn der Strahl der Sonne sie traf. Ein sprudelnder Quell unweit des Hauses sandte seine Wellen dem Bächlein zu, der den wohlgepflegten Garten mit seinen frisch grünen Rasenmatten und duftenden farbenprächtigen Blumenbeeten durchströmte. Hier also wohnte der alte Oberst a. D. Freiherr v. Wardo.
In der geschmackvoll eingerichteten Studierstube war der Freiherr, vom Meeres-Strand kommend, soeben eingetreten, und ließ sich in seinen weichen Sessel vor dem Schreibtische nieder, um mit wenigen Zeilen ein Werk zu Ende zu bringen, woran er, mit Aufwendung all seiner schriftstellerischen Begabung, schon seit Jahren gearbeitet. Es war betitelt: »Der Tod das Ende!« aber sonderbar genug, je mehr der Freiherr sich dem Abschluß seiner Arbeit genähert, um so zweifelhafter ward ihm die Wahrheit der Grundsätze, auf denen sich seine ganze Arbeit ausbaute und stützte.
Durch die Forsten brauste der Sturm, er fuhr in die Stämme der Waldriesen, warf das morsche Geäst zu Boden und trieb den Regen in schräger Richtung vor sich her, daß er platschend gegen die Fenster der Waldwohnung schlug.
Hermann von Wardo hörte das Brausen des Sturms und das Branden der See, aber sein Geist weilt ganz wo anders. Er stand auf, drückte die heiße Stirn gegen die Scheiben und blickte verzweiflungsvoll in die dunkle Nacht hinaus.
Im Nebenzimmer saß Anna, des Freiherrn Töchterlein, ein Mädchen im Alter von 10 Jahren; ein Bibelbuch lag vor ihr aufgeschlagen auf dem Tisch. Ein leichtes Gewand von hellem Kattun umschloß ihre Gestalt mit den noch kindlichen Formen. Das dunkle Haar fiel aufgelöst, nur durch ein Seidenband gehalten, über die Schultern herab, die Wangen färbte ein bleiches Rot und unter den buschigen Braunen sahen ein paar helle Augen in die Welt, voll Jugendfrohsinn und kindlicher Anmut.
Auch Anna vernahm den Sturm, aber ganz andere Gefühle rief derselbe wach als bei ihrem Vater. Sie stand auf, nahm die Laute zur Hand, und in das Klingen der Saiten mischte sich des Kindes helle Stimme, indem sie sang:
»Breit aus die Flügel beide, O Jesu, meine Freude, Und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, So laß die Englein singen: Das Kind soll unverletzet sein.«
Das Mädchen schwieg, aber die Saiten der Laute tönten fort, wie von unsichtbarer Hand gerührt, erst in lauten Akkorden, dann immer leiser werdend, bis man nichts mehr vernahm, als das Heulen des Sturmes und das Branden der empörten Wogen.
Dem Freiherrn ging ein jedes Wort, welches die Tochter sang, wie ein Stich durchs Herz. So hatte er als Kind auch einmal gesungen, jetzt konnte er es nicht mehr. Da öffnete sich die Thür, Anna trat leichten Schrittes ein. »Warum bist Du wieder so traurig, lieber Papa«, sagte sie, ihm zärtlich das Haar aus dem Gesicht streichend, bist Du vielleicht betrübt, daß Wilhelm gestorben? O, es ist wahr, ich habe meinen Bruder sehr lieb, gehabt, aber jetzt ist er doch beim lieben Gott. Nicht wahr. Du sagtest doch, er sei am Herzschlag gestorben? O, er hat gewiß nicht viel zu leiden gehabt, und die Hauptsache ist doch, daß er selig gestorben ist.« – »Wilhelm starb am Herzschlag, so sagten die Leute«, erwiderte der Oberst auf die flüchtig hingeworfene Frage seiner Tochter, und sein Gesicht überzog Todesblässe. Auch Anna bemerkte dies. – »Aber Papa, Dir wird doch nicht übel, wie siehst du denn aus.« – »Es wird vorüber gehen«, sagte der Freiherr zerstreut, mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischend, »jetzt muß ich arbeiten. Geh', mein Kind, sage dem Mädchen, daß sie mir den Thee bringe«. Er gab ihr einen liebevollen Kuß auf die Stirn, Anna nickte dem Vater freundlich zu und verließ geräuschlos das Zimmer. Der Freiherr war allein.
»Rastlos habe ich gearbeitet«, sagte der Freiherr zu sich, »habe meinen Geist in Schranken zu halten gesucht, ihn in Bahnen zu lenken, welche mein Charakter und mein fester Wille ihm gesetzt. Mit allen Gründen des gesunden Menschenverstandes habe ich diese Wahnidee von einem Weiterleben nach dem Tode, von der Existenz eines allwissenden und allweisen Gottes zu bannen versucht, und jetzt, wenige Tage zuvor dieses Buch der Wahrheit, für die ich zwei Jahrzehnte gefochten, die Thore öffnet, muß ich meinen Sohn verlieren, und warum? – Weil er diesem Hirngespinnst und Pfaffengeschwätz nicht geglaubt hat. Nur der Glaube an einen Gott im Himmel oder die Furcht vor einer göttlichen Rache nach diesem Leben hätte meinen Sohn abhalten können vor der schrecklichen That des – Selbstmordes.«
So saß der arme Mann vor seinem Sündenwerk, gebrochen an Körper und Geist, finster vor sich hinbrütend, bis er erschöpft die Augen schloß. Ein Traum umfing seine Seele. Bilder aus der Vergangenheit standen lebhaft vor seiner Seele.
Er war wieder jung geworden. – Elastischen Schrittes trat er in das Offiziers-Kasino des Infanterieregimentes Nr. 1 ein, mitten in den Kreis zechender Kameraden. Die Champagner-Flaschen knallten, man trank sich fleißig zu, ein Toast folgt dem andern. – Die Unterhaltung ist im besten Gange. Da sagt ein junger Offizier, welcher neben ihm sitzt, sich ihm zuwendend: Kamerad, das ist der schönste Abend, den ich hier im Kasino erlebt, man lebt doch nur einmal – und dann? fragt Wardo scheinbar gleichgültig. Nun, dann kommt der Tod, erwidert der also Gefragte. Man gräbt ein Grab und schmückts mit Tannengrün, und meinem Sarg folgt die Abteilung Soldaten, welche ich einst angeführt. Die edle Musika aber, die spielt und klagt, daß den Weibern auf den Straßen die Thränen an den Wangen herunterlaufen. Auf dem blumengeschmückten Grabeshügel aber grünt und blüht es. Weißt du auch, mein lieber von Wardo, warum auf dem Friedhof die schönsten Blumen blühen? – Alle Organismen auf Erden, seien es tierische oder menschliche bewegen sich in dem ewig wechselnden, und doch wiederum ewig gleichen Kreislauf. – Diesem Traumgebild folgt ein anderes.
Der Krieg gegen Frankreich ist erklärt. – Hermann von Wardo steht an der Spitze des Regimentes. Vor ihnen liegt der Geisberg. – Man kann es im Thal sehen, wie der Feind auf den Höhen seine Kolonnen entwickelt. – Das Signal zum Avancieren ist gegeben. – Die preußischen Regimenter gehen zum Angriff über. Nur mühsam kann von Wardos Regiment Fuß fassen, da rückt ein zweites zur Unterstützung im Geschwindritt heran, an dessen Spitze, Oberst von L., Wardos Tisch-Nachbar, im Offiziers-Kasino in S. Schwer wird es den Mannschaften, ihrem thatendurstigen Oberst von L. zu folgen. Links und rechts blitzt und kracht es, die Reihen lichten sich. – Da trifft auch ihn das feindliche Blei, er stürzt vom Pferd, die Seinen stürmen über ihn hinweg. – Der Sieg ist erfochten, jedoch nicht ohne schwere Opfer gefordert zu haben. – Drunten im Thal weht das rote Kreuz auf weißem Feld. – Hermann von Wardo steht am Lager seines Freundes. Kamerad, sagt Wardo, er versucht seine Fassung zu behalten, dennoch zittert seine Stimme. – Laßt es euch nicht so hart ankommen, ihr sterbt den Tod für's Vaterland. – Und dann? fragt der Verwundete mit erbleichenden Lippen und angstvoll auf ihn gerichtetem Blick. »Nun, dann hat es ein Ende,« antwortet ihm Wardo möglichst unbefangen. Da richtet sich der Sterbende noch einmal mit der ihm zu Gebote stehenden Kraft empor: »Herr Oberst, wer sagt Ihnen das, o daß es doch also wäre,« ruft der Verwundete verzweifelnd. »Ihr selbst habt den Ausspruch, den ich eben anführte, noch vor wenig Monden im Offizierskasino in S. gethan,« antwortete der Freiherr mit bebender Stimme und erschüttert von diesem furchtbaren Anblick. »Das sagte ich damals,« ruft der Sterbende, »jetzt hört ein anderes Wort. Es lebt ein Gott, der Sünde vergilt.« Ein dunkler Blutstrom quillt aus seinem Munde, er sinkt in die Kissen zurück. – Oberst v. L. ist tot. –
Der Schläfer erwachte und fuhr erschrocken auf. Ach, es war ja nur ein Traum. Er wußte dem Gott, welcher Sünder straft, keinen Heiland, der für die Sünder gestorben, entgegen zu stellen, und darum leugnete oder versuchte er doch wenigstens, überhaupt das Vorhandensein Gottes zu leugnen. Er machte es ähnlich dem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand gräbt und meint, er werde dem Jäger entgehen, da er ihn doch nicht sehe.
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»Es giebt keinen Gott«, das war der Grundton, in welchem der Freiherr schon auf seinem Landsitz in Schlesien zu seinem einzigen Sohn Wilhelm gesprochen hatte. Schnell, ach nur zu schnell, war Wilhelm den Kinderschuhen entwachsen. Die Mutter des Knaben, eine durch und durch christliche Frau mußte es mit Thränen in den Augen ansehen, wie Wilhelm, unbeirrt durch die ernsten Ermahnungen, welche sie ihm wiederholt gab, dreist und geflissentlich die Gottheit leugnete, und den Heiland, vor welchem er noch vor Kurzem andächtig die Kniee gebeugt hatte zum kindlichen Gebet, nun für ein Phantom erklärte. Wie altklug klang dies doch im Munde eines zehnjährigen Knaben, und gar bald hatte die kluge Mutter es herausgefunden, woher der Wind wehte. Schon oft hatte Ludmilla, des Freiherrn Gattin, denselben auf den Knieen gebeten, doch der religiösen Erziehung des Knaben eine andere Richtung zu geben. »Für euch Weiber ist die Christenlehre wohl eine ganz schöne und gute Moral, aber nicht für Männer, welche durch ihre Stellung im Leben darauf angewiesen sind, die That an Stelle weiblicher Gefühle und Empfindungen treten zu lassen,« pflegte dann der Freiherr wohl öfters zu antworten, »ich werde Wilhelm erziehen und für sein Fortkommen sorgen, Anna's Ausbildung überlasse ich dir? Mag sie doch deinem Gotte Weihrauch streuen, so viel sie Lust hat. Ich werde sie niemals daran hindern.«
Ludmilla vermochte nicht dem Willen ihres Gemahls zuwider zu handeln. Anna war ein frommes Kind, welches im Aeußeren, der Mutter Ebenbild, auch ganz die Gesinnung der Mutter teilte. Wo Not und Elend sich zeigte, da erschien Ludmilla mit ihrer Tochter, all überall hülfreich die Hand bietend. –
Wilhelm war in das Kadettencorps in L. eingetreten und als ein flinker talentvoller Bursche zu manch froher Hoffnung des Vaterherzens berechtigt. –
Unerwartet warf eine schwere Krankheit Ludmilla auf das Lager. Wilhelm, welcher aus die Nachricht von Mutters Erkrankung herbeigeeilt war, kam eben noch zurecht, um der Mutter, welcher er im Leben so viel Herzeleid bereitet hatte, in das bleiche Totenantlitz zu schauen.
Der Freiherr war über den Tod seiner Gattin untröstlich, er liebte seine Frau innig, trotz den entgegengesetzten Lebensanschauungen, und jetzt, da sie nicht mehr bei ihm war, empfand er erst, was die Gattin ihm gewesen.
Auf Wilhelm machte das Hinscheiden der Mutter im ersten Augenblick einen überwältigenden Eindruck, aber bald war der Thränenquell versiecht, eine andere Umgebung erweckten andre Bilder in seiner Seele, und schon nach wenig Wochen war Wilhelm derselbe Leichtfuß, der er vordem gewesen.
Freiherr von Wardo wollte Schlesien verlassen. Der Eindruck, welchen der Landsitz in Schlesien nach dem Tode seiner Gattin auf ihn machte, war ihm unerträglich. Er verkaufte das kleine Gut, und ließ sich in der Nähe von N. in Ostfriesland nieder, wo wir ihn wiedergefunden haben.
Was aber war aus Wilhelm geworden? Wilhelm war ein schmucker Husarenoffizier, er war schön, das mußte ihm der Neid lassen, er wurde bewundert von dem »schönen Geschlecht«, und wegen seines hitzigen Temperaments gemieden. An den Vater schrieb er nur selten und wenn er das that, war es weiter nichts, als eine Apellation an dessen Geldbeutel.
An dem Tage, an welchem Wardo am Meeresstrand gesessen hatte, war ein Brief in seine Hände gelangt, in welchem der Oberst des Regiments, bei welchem Wilhelm stand, ihm, dem Freiherrn, im geschäftlichen Tone die Mitteilung machte, Lieutenant von Wardo habe seinem Leben mit eigener Hand ein Ziel gesetzt. Das Motiv zu dieser Handlung sei die Zahlungsunfähigkeit von einer ungeheueren Summe, welche Leutenant von Wardo im »Spiel« verloren habe. Von einem Begräbnis mit militärischen Ehren könne unter solchen Umständen natürlich nicht die Rede sein.
Der Freiherr war durch diesen Schlag wie vernichtet. Wohl mochte es ein verhängnisvolles Geschick geben, das gleich einem Damokles-Schwert über den Häuptern der glücklichen Menschenkinder schwebe. Aber ein Leben nach dem Tode! – Vor diesem Gedanken schauderte er zurück, er konnte, er wollte es nicht glauben.
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Der Sommer ist ins Land gekommen. Heiß brennt die Sonne über die wogenden Aehrenfelder, das Reifen der Frucht zu beschleunigen. Still liegt sie da, die weite, weite See, gleich einem schlafenden Kind an Mutterbrust. Still ist es auch im Waldgrund und auch dorten im Waldschlößchen. Hinter den herabgelassenen Vorhängen schläft ein bleiches Kind dem Tode entgegen, und am Bett sitzt die pflegende Kranken-Schwester, sie hütet eine Rose, die bald, ach nur zu bald, der Todesengel sich pflückt.
Der Freiherr sitzt wieder wie an jenem Frühlingsabend, da der Sturm um das Schloß fuhr, in seiner Studierstube. Was hat denn den wetterharten Kriegsmann so weich gemacht, daß er weint wie ein Kind? »Grad wie an jenem Abend am Strand, und heut scheint er am Bibel-Lesen zu sein. Schämst du dich nicht Freiherr von Wardo? O nein, er braucht sich nicht zu schämen, weder des Lesens in der Bibel noch der Thränen. Eben hat er Abschied genommen von dem letzten Sprossen seines Hauses, aber auf Wiedersehen!
Vor wenigen Wochen ist Anna plötzlich erkrankt, die Aerzte vermögen die Fieberanfälle nicht mehr zu unterdrücken, das Kind ist aufgegeben. Anna weiß, daß sie nicht mehr gesund wird. Sie hat oft den Vater an ihr Bett gerufen: »Lieber Papa«, pflegte sie dann zu sagen, »willst du deiner Tochter eine Liebe erzeigen, o, ich bitte dich, lies mir doch etwas aus der Bibel vor.«
Das war oft eine harte Nuß, die dem Oberst da zum Knacken gegeben wurde. Er hat sich in solchen Stunden oft sein eigenes Urteil gesprochen. »Die Thoren sprechen in ihrem Herzen, es ist kein Gott.« – »Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten.« – »Was der Mensch säet, das wird er ernten.«
Aber auch der Geist Gottes begann am Herzen zu arbeiten und wo der einmal wirkt, da setzt weder der Charakter noch der feste Wille die Schranken, in denen des Menschen Geist die Wege sich bahnt. Er lernte in der Bibel nicht nur den Jehovah Israels kennen, der unter Blitz und Donner das Gesetz dem Volke gegeben, sondern er lernte auch einen Heiland lieben, der am Stamm des Kreuzes gestorben für arme Sünder. Bald nahm er die Bibel von selbst zur Hand, ohne daß ihn die Tochter darum bitten brauchte und nahm sie auch auf seine Studierstube.
Eben ist er wieder an das Lager der Tochter geeilt und da hat das Kind, aus einem unruhigen Schlummer erwacht, und den Vater erkennend, zu diesem gesagt: »Papa, wir wollen mit einander beten,« und der Freiherr hat im kindlichen Gebet seine Kniee gebeugt vor dem Vater im Himmel und hat den Gott gefunden, dessen Dasein er geleugnet, dessen allgewaltige Rächerhand er bei dem Verlust seines Sohnes schmerzlich empfunden, und dessen rettende Heilandsliebe er gespürt, da Gott ihm das Letzte nahm, das er auf Erden geliebt, um seine unsterbliche Seele zu retten. Seine schriftstellerische Arbeit hat er aufgehoben zum Erinnerungszeichen, was Gott an ihm gethan. Und der letzte unlogische, aber richtige Satz darin lautet: »Und es giebt doch einen Gott, und ein Leben nach dem Tode.«
Als der letzte Strahl der Sonne die Wipfel der Bäume umspielte und als blutrote Scheibe hinabtauchte in die blauen Fluten, da streifte eines Engels Flügel des Kindes Lagerstatt. Licht war es noch einmal im dunkelnden Raum beim Scheiden der Sonne. Anna war Daheim.