Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine Erzählung aus dem Leben für Jung und Alt von Marie Schweikher.
*
Behüt Dich Gott, mein liebes Kind!
Die Stunde kam, eh' wir's geahnt,
Daß Du allein des Weg's mußt zieh'n;
Nun folge Ihm, der ihn gebahnt.
Behüt Dich Gott, mein liebes Kind!
Behalt Dein Herze fromm und rein,
Wenn Du nun in dem fremden Land
Mußt unter fremden Menschen sein!
Die Thüre zum Wartesaale erster Klasse des Bahnhofes in Zürich öffnete sich ziemlich geräuschvoll und der Schaffner rief die Stationen des nach Romanshorn fahrenden Zuges aus.
In einer größeren Gruppe, die ziemlich isoliert in einer Ecke des Wartesaales gesessen, entstand eine lebhafte Bewegung. Eine kleine mütterlich aussehende Dame ergriff rasch die neben ihr liegenden Sachen und eilte trippelnden Schrittes dem bereit stehenden Zuge zu, gefolgt von einem Herrn, der, der Ähnlichkeit nach zu schließen, ihr Bruder war, und der ihr jetzt in der Unterbringung aller der verschiedenen kleinen, unvermeidlichen Köfferchen und Schachteln hilfreiche Hand leistete. Nachdem diese Arbeit vollendet und noch einmal prüfenden Blickes von der kleinen Dame gemustert worden war, ergriff sie rasch beide Hände des neben ihr Stehenden und sagte herzlichen Tones: »Also noch einmal »Adieu«, lieber Bruder, und Gott befohlen, Du und Deine liebe Frau! Und was Deine beiden teuren Kinder anbetrifft, so« –
»So weiß ich, daß ich dieselben außer uns selber keiner besseren und treueren Obhut anvertrauen könnte als der Deinigen. Wollte Gott, ich könnte eben so ruhig über Rudolf sein. Aber wo bleiben nur Ella und Johanna?« Die Sprechenden blickten um sich und gewahrten nun die beiden kleinen Mädchen, die sich an die Arme einer großen, schlanken Dame gehängt hatten und mit unendlicher Zärtlichkeit zu derselben aufschauten. Nur mit großem Widerstreben ließen sie sich von dem Vater in das Coupé hineinheben; immer und immer wieder versuchten die kleinen Arme die draußen stehende Mutter zu erreichen und ihr noch einen letzten Kuß aus Wangen, Lippen und Stirn zu drücken. Sie ließen davon ab, als nun plötzlich ein schlanker, brünetter Knabe durch den Wartesaal auf sie zugerannt kam und nun auch seinerseits diese Liebkosungen beanspruchte.
Aber die Zeit kennt kein Erbarmen! Unbekümmert um das Empfinden des einzelnen Menschenherzens schreitet sie rastlos weiter, und der Augenblick zur Abfahrt des Zuges war herangekommen. Nur ein letzter Blick noch von Auge zu Auge sagte mehr als alle Worte, und wenige Sekunden später war auch die letzte Spur der Abgefahrenen verschwunden.
Der größere Teil der vorhin durch die Abreise gestörten Gesellschaft kehrte in den Wartesaal zurück; nur die schlanke Dame und der zuletzt angekommene Knabe blieben zurück und begannen Arm in Arm auf dem Perron auf und ab zu wandeln.
»Mama, Mama!« begann der etwa zwölfjährige Knabe in fast leidenschaftlichem Tone, »nur noch eine Stunde und ich soll mich wieder von Dir trennen! Warum konnte mich der Onkel nicht heute wenigstens von der Schule dispensieren?!«
»Ja, es war schwer für uns alle. Der Onkel hätte vielleicht mehr Rücksicht nehmen können auf unsere Gefühle. Aber Du kennst einmal seine etwas strengen Ansichten und er wollte uns am Ende auch unnützen Schmerz ersparen.«
Ein leichter Spott kräuselte die Lippen Rudolfs, der in diesem Augenblicke entschieden älter aussah.
»Als ob ich den ganzen Morgen an etwas anderes gedacht habe als an Euch! Ella und Johanna haben es gut. Sie bleiben bei einander und haben nachher noch die Vettern und Cousinen; ich aber bin so allein, o so schrecklich allein! Mama, daß Ihr mich doch wieder mit Euch nehmen könntet!«
»O Rudolf, wozu noch einmal auf diesen Punkt zurückkommen? Laß uns doch das ohnehin so bittere Trennungsweh nicht noch unnötig erschweren! Hätten wir uns denn je von Euch getrennt, wenn es nicht Euer Wohl so erheischen würde? Gott allein weiß, wie wir europäische Frauen in Indien darunter zu leiden haben, daß wir das Liebste, was wir auf Erden besitzen, sobald fremder Obhut übergeben müssen. Und Du Rudolf durftest noch ausnahmsweise lange bei uns bleiben, da unser Aufenthalt in den blauen Bergen Dir weniger nachteilig war.«
»Und doch, liebste Mama, ist es mir, als ob die zwei Jahre, die ich hier im Hause des Onkels verlebt habe, eine halbe Ewigkeit gedauert hätten.«
»Dein Onkel ist ein edel denkender Mann, mein Sohn. Ich hoffe, daß Ihr Euch besser verstehen werdet, wenn Du älter geworden bist.«
»O, ich werde schnell genug hier alt werden; da ich ja doch kein Kind mehr sein darf!«
»Liebster, liebster Rudolf! – schon wieder diese Bitterkeit in Deinem Ton? O, wie mich derselbe an meinem einst so frohherzigen Knaben schmerzt! Der Onkel hält Dich strenger an zur Arbeit, weil er sieht, daß Du hinter den Knaben Deines Alters zurück bist. In Indien durften wir Dich schon des Klimas wegen nicht so zur geistigen Arbeit anhalten und das rächt sich vielleicht jetzt an Dir.«
»Nein, nein, Mama, mache Dir darüber keine Sorgen. Ich stehe gegen keinem Knaben in der Klasse mehr zurück. Es ist nicht das. Ich lerne ja so gerne.«
Der Knabe schwieg, und dem geprüften Herzen der Mutter entrang sich ein tiefer Seufzer. Sie wußte, daß es nicht das war, wenigstens nicht das allein. Sie hatte in den drei Monaten ihres Besuches zur Genüge gemerkt, woran es ihrem Erstgeborenen gebrach: am Sonnenschein sympathischer Liebe und Verständnis, am erwärmenden Lichte jenes Christentums, das sich weniger in Worten und der Beobachtung äußerer Formen zu erkennen giebt, als in dem Geiste, der Leben und Sein durchdringt, und der mehr gefühlt wird als definiert werden kann. Wie konnte sie aber mit ihrem Sohne darüber reden, ohne in ein gewisses Richten zu verfallen? Fühlte sie doch das Alles überhaupt mehr, als daß sie ihre Empfindungen hätte in Worte kleiden können. Um seinem Gedankengange eine andere Richtung zu geben, fragte sie jetzt:
»Weißt Du noch, Rudolf, was Dir als Kind der größte Schmerz zu sein pflegte?«
Ein Lächeln überflog seine hübschen, intelligenten Züge, als er jetzt rasch erwiderte:
»Wenn ich glaubte, vom schmalen Wege abgewichen zu sein.«
»Und ist es meinem Knaben heute weniger Ernst damit?«
Es erfolgte nicht gleich eine Antwort; aber die Mutter fühlte, wie der Arm in dem ihrigen zitterte, und ein Blick auf das Gesicht ihres Sohnes zeigte ihr, wie er kaum mehr im Stande war, ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie zog ihn auf eine Bank nieder und umfaßte ihn liebevoll.
»Mama, – ich – ich glaube nicht, daß ich überhaupt noch auf dem schmalen Wege bin.«
»Um so nötiger, mein teurer Sohn, daß Du Dich ernstlich prüfst und Gott bittest, Dich auf jenen Pfad Deiner Kinderjahre zurückzuführen. Damals hattest Du eine förmliche Angst vor dem breiten Wege, der so schön verlockend aussieht; aber der diejenigen, die darauf wandeln, in's Verderben führt. Wie oft kamst Du doch mit Deinen unschuldigen Kinderaugen zu mir und sagtest: »Mama, ich habe Dies oder Jenes gethan; bin ich wohl noch auf dem schmalen Wege? Und Niemand war glücklicher als Du, wenn ich Dir versicherte: »Gewiß, wenn Dir Dein Unrecht leid ist und Du es nicht wieder thust.«
»Du hast jetzt mich nicht mehr zu fragen; aber Du hast einen besseren Wegweiser, als ich Dir je gewesen – Du hast den Heiligen Geist, den Gott Jedem giebt, der Ihn darum bittet. Und zudem wollen wir uns recht fleißig Briefe schreiben, bis der liebe Gott uns ein neues Wiedersehen vergönnt.«
Die letzten Worte waren kaum noch vernehmlich gewesen. Sie drückte noch einen innigen langen Kuß auf die Lippen ihres Sohnes und stand dann rasch auf, um die übrigen Minuten vor Abfahrt des Zuges, der sie und ihren Mann ihren Kindern entführen und zunächst nach Italien bringen sollte, noch den übrigen anwesenden Verwandten zu widmen.
Eine Viertelstunde später war auch dieser zweite Abschied äußerlich überstanden; – wer aber vermag zu fragen, wie lange derselbe noch in den Herzen der am meisten beteiligten, der Eltern und der Kinder nachwirkte? Uns würde es zu weit führen, von den einzelnen zu berichten, und wollen wir uns begnügen, noch einen Blick auf die Hauptperson dieser Erzählung, auf Rudolf zu werfen.
Ja, er war allein, recht allein. Der Onkel richtete im Laufe des Tages die ernste Mahnung an ihn, nun da die Eltern fort seien, diese dadurch am meisten zu ehren, daß er mit erneuertem Eifer zu seinem Lernen zurückkehre.
Gut gemeint war ja diese Ermahnung am Ende; nur daß sobald nach dem Abschiede vielleicht nicht der rechte Zeitpunkt für dieselbe war, und sie aus diesem Grunde die beabsichtigte Wirkung verfehlte. Die Tante fühlte wohl mit dem Neffen; aber sie war so schüchtern, daß sie selber ihr Empfinden nicht zu äußern wagte, und da sie nie ein eigenes Kind gehabt, vermochte sie im Umgang mit Kindern auch nicht den rechten Ton zu treffen.
Dennoch that ihr warmer Händedruck beim »Gutenachtsagen« dem Knaben ungemein wohl, und obgleich er es nicht zu essen vermochte, so war doch das große Stück Kuchen, das sie ihm auf sein Zimmer brachte, auch ein sprechendes und verstandenes Zeichen ihrer Teilnahme. Lange, lange lag der Knabe wach im Bette und eine Erinnerung nach der andern tauchte in ihm auf aus seiner glücklichen Kindheit.
Endlich, wie er es schon als kleines Kind so oft gethan, stand er auf, kniete nieder und sandte ein inbrünstiges Gebet empor zu seinem himmlischen Vater.
Als er am andern Morgen aus einem unruhigen Schlummer erwachte, da erinnerte er sich, daß er im Traume einen steilen, schmalen Gebirgspfad hinan geklommen, an schauerlichen Klüften und Abgründen vorüber. Liebliche Stimmen und Gestalten hatten ihn gelockt hinüber auf den breiten Weg, auf dem es sich so lustig wandelte. Aber wenn er hinüber wollte, dann sah er eine kleine Gestalt, die ihn ängstlich festhielt und ihn flehentlich bat: »Bleibe hier; verlaß mich nicht.« Diese Gestalt aber war er selber, wie er einst als Kind gewesen.
*
Ueb immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab.
So wirst du wie auf grünen Au'n
Durch dieses Leben gehen;
So kannst du sonder Furcht noch Grau'n
Dem Tod ins Antlitz sehn.
Volkslied.
Fast zwei Jahre waren seit jenem Abschiede auf dem Bahnhofe in Zürich verstrichen. Im Hause Professor Wiegands war seitdem so ziemlich Alles nach dem alten Geleise gegangen. Strenge Regelmäßigkeit, pünktliche Ordnung in den Gewohnheiten waren die nicht zu verachtenden Grundgesetze des häuslichen Lebens, nur daß der allzu große Ernst des Hausherrn einen Schatten auf das Ganze warf, der selten durch irgend einen freundlichen Wiederschein gemildert wurde.
Die Hausfrau war zu schüchterner Natur; der Hausherr ihr zu sehr maßgebend in allen Dingen, als daß sie es gewagt hätte, in irgend einer Frage selbständig vorzugehen.
In dieser Luft wuchs Rudolf heran. Körperlich groß und entwickelt, trugen seine sonst hübschen Züge doch nicht ganz den glücklichen, sorgenlosen Ausdruck, den wir so gerne an Knaben seines Alters beobachten. Seit jenem Abschiede von seiner Mutter war es sein fester Entschluß, dem Motto seiner Kinderjahre getreu, den schmalen Weg des Lebens zu wandeln, so gut er es verstand und vermochte. Der Briefwechsel mit seiner Mutter hatte ihn noch darin bestärkt, und diese Korrespondenz war der fast einzige Sonnenschein, ihre Briefe die fast einzigen Lichtpunkte seines einförmigen Lebens. Aber eben dieser äußere Lebenspfad, den er zu gehen hatte, war zu eng, zu sehr abgegrenzt, als daß nicht sein lebhafter Geist sich wieder und wieder dagegen aufgebäumt und ihm innerlich unzählige Kämpfe bereitet hätte.
Bücher, die er gerne gelesen, wie Robinson Crusoe, Lederstrumpfs Erzählungen etc. wurden ihm versagt, ohne daß ihm andere dafür geboten worden wären, die neben dem Verstand auch das Gemütsleben und die Phantasie berücksichtigt hätten.
Körperliche Uebungen hatte er nur in der Schule gemeinschaftlich mit andern Knaben; ein freies Umherschweifen mit denselben durch Feld und Wald und Gebirge war ihm nicht gestattet. Knaben mit in das Haus zu bringen, war gegen die alt hergebrachten Gewohnheiten, und Rudolf war zu stolz, bei Andern etwas zu genießen, was er selbst nicht bieten durfte. So wurde er allmählich verschlossen, in sich gekehrt und stand unter seinen Schulgenossen im Rufe eines Sonderlings.
Und doch, wie sehnte sich sein junges Herz nach Freundschaft und Liebe, hätte er die letztere nur wenigstens einem Tiere, einem Vogel oder einem Hunde erweisen dürfen. Aber auch das Halten von Tieren war im Hause des Onkels verpönt. Vogelgesang und Hundegebell störten denselben im Denken und beleidigten seine Nerven.
Wie oft war es dem Knaben, als ob er das enge Netz, das ihn nach allen Seiten umgab, hätte zerreißen mögen; wie oft fühlte er sich unwiderstehlich dazu angetrieben, einmal gegen ein Gesetz zu sündigen, um nur irgend eine Unterbrechung dieses ewigen Einerlei herbeizuführen.
Da trat ohne sein Zuthun eine Aenderung im Haushalt ein, die von großem Einfluß auf sein Leben sein sollte.
Der einzige Mensch, dem sich Professor Wiegand wirklich verpflichtet fühlte, war ein Freund in Wien, der ihm während seiner Studienjahre einen bedeutenden Dienst erwiesen hatte, und der jetzt die Bitte an ihn stellte, seinen etwas leichtsinnigen Sohn Otto für einige Zeit in sein Haus aufzunehmen, dessen strenge Regelmäßigkeit gewiß von gutem Einfluß auf den jungen Mann sein werde.
Der Professor konnte die Bitte nicht wohl abschlagen, und der 19jährige junge Mann wurde der neue Hausgenosse, ohne daß die Hausfrau noch Rudolf etwas von dem Grund seiner Anwesenheit erfahren hätten. Der Professor zweifelte nicht daran, daß er selber, wie die streng geregelte Hausordnung, Schutz genug gegen jeden üblen Einfluß bieten würden.
* * *
Otto v. Keil war die personifizierte Liebenswürdigkeit. Klein und schlank gebaut, war er behende wie eine Katze und imponierte Rudolf gleich anfangs durch seine Gewandtheit in körperlichen Uebungen. Gegen den Professor trug er die größte pietätvolle Ehrerbietung zur Schau, behandelte die Frau Professor mit ritterlicher Artigkeit und war bald der erklärte Liebling der sonst so steifen Auguste, der jahrelangen weiblichen Stütze des Hauses. Wie er letzteres zu Stande gebracht, blieb Rudolf immer ein Rätsel; wie es ihn gleich anfangs verwunderte, daß der doch gewiß verwöhnte junge Mann sich der ihm selbst so peinlichen Hausordnung gegenüber sich so musterhaft benahm. Den Professor überraschte das nicht; er betrachtete dieses Benehmen als eine gute Frucht seiner ersten, ernsten Unterredung mit dem jungen Manne. Ein Beweis, wie oft auch wirklich weise Männer ihren persönlichen Einfluß überschätzen.
Wie ganz anders wurde doch Rudolfs Leben. Er hatte bei seinen Turnübungen im Hofe einen Kameraden und brachte es darin bald zu großer Fertigkeit. Seine Lieblingsbücher, die lang ersehnten, fand er in Otto's Besitz und durfte sie in dessen Zimmer noch spät am Abend lesen und noch so manches andere Buch, das gierig von ihm verschlungen wurde, nachdem durch Otto's beruhigende Versicherungen das sich wieder und wieder regende Gewissen zum Schlaf gebracht worden war. Nachdem Otto in seiner Gegenwart den Onkel einmal in liebenswürdiger Weise darum gebeten, wurden ihnen auch gemeinschaftliche Spaziergänge gestattet, die sich allerdings auf eine gewisse Zeit beschränken mußten. Glaubte doch der Professor den jungen Mann in der Begleitung seines wohlerzogenen Neffen vor allen Extravaganzen gesichert.
Otto aber wußte seine Gelegenheit zu benützen. Mit einem Buche versehen, blieb Rudolf oft stundenlang an irgend einem Flecken sitzen, während sein Begleiter nach Herzenslust sich in den verschiedenen Vergnügungslokalen bewegte, trank, rauchte und spielte. Fiel einmal dem Knaben sein erhitztes Aussehen aus, so entschuldigte er sich mit raschem Gehen oder angestrengtem Rudern. Letzteres hätte Rudolf schon länger gerne gelernt, und da der Onkel nur einmal verboten hatte, daß er mit Knaben seines Alters rudere, glaubte er kein Unrecht darin zu sehen, wenn er sich Otto's geschickter Führung anvertraute, und der Lehrling that es bald fast dem Meister gleich. Unmerklich, doch überraschend schnell, erweiterte sich der äußere Lebenspfad des Knaben. Genüsse, die er nie zu erlangen gehofft, wurden ihm zu Teil; aber Otto war schlau genug, ihn von solchen Dingen fern zu halten, die ernstlich Rudolf's Gewissen beunruhigt und ihn zum Nachdenken über die älteren Kameraden gebracht haben würden. Stellte der Onkel Fragen, so wurden dieselben meistens von Otto beantwortet und die Wahrheit dabei so geschickt umgangen, daß Rudolf, obgleich er manchmal stutzig wurde, doch den jungen Mann keiner eigentlichen Unwahrheit zeihen konnte.
Ach, und doch gab es Zeiten, wo ihm jetzt sein eigenes Leben wie eine einzige, große Lüge vorkam. War er wirklich noch auf dem schmalen Pfade? Brachten die ersehnten Genüsse, nur da er sie teilweise heimlich kostete, wirklich die Befriedigung mit sich, die er früher darin gesehen?
Er war oft müde und abgespannt. Das Aufstehen fiel ihm schwer, und während den Unterrichtsstunden ertappte er sich oft darauf, daß seine Gedanken weit ab schweiften nach den Urwäldern Amerikas, sich mit irgend einem Seeabenteuer oder einer Greuelthat im Schwarzwalde beschäftigte.
Manchmal wollte es ihm fast erscheinen, als ob der ihm so unvergeßliche Traum zur Wahrheit geworden, als ob er sich mitten auf dem breiten Wege befände, und er sich selber und allen seinen früheren Entschlüssen untreu geworden sei. Aber Otto verstand es so prächtig, derartige Bedenken einzulullen. Man müsse das Leben kennen lernen, man müsse männlich werden und sich keiner Tyrannei unterwerfen, wenngleich die Klugheit manchmal gebiete, solches nicht auf auffällige Weise zu thun und was dergleichen Sophistereien mehr waren.
Einige Male war Rudolf bereits an Plätzen gewesen, wie in Varietévorstellungen und im Volkstheater, die er früher kaum dem Namen nach gekannt, und immer öfter kam es jetzt vor, daß er dem älteren Freunde Concessionen machen mußte, wie z. B. ihn abends aus dem Fenster und etliche Stunden später wieder hereinlassen, ihm Briefe an seine Freunde besorgen und sogar manchmal mit seinem Taschengelde aushelfen.
Schon etliche Male hatte man den sonst so musterhaften Knaben in der Schule tadeln müssen, erst allein, dann öffentlich vor den Mitschülern, und seitdem das Letztere geschehen, glich Rudolf kaum mehr sich selber. Er wurde noch wortkarger und verschlossener, aß und trank wenig mehr und zuckte oft bei dem leisesten Geräusch in nervöser Angst zusammen.
Die Briefe an seine Mutter trugen den Stempel seines veränderten Zustandes; aber noch ehe der Brief, den dieselbe in ihrer Besorgnis an den Schwager schrieb, in dessen Hände gelangte, rief Gott selber ein: »Bis hieher und nicht weiter!«
*
Der breite Weg gleicht anfangs zwar
Dem grünen Weg durch Auen;
Allein sein Fortgang wird Gefahr,
Sein Ende Nacht und Grauen.
Der letzte Tag vor dem Beginn der großen Ferien war herangekommen. Die meisten Knaben hatten sich nach der Verteilung der Zeugnisse in froher Erwartung der vor ihnen liegenden goldenen Freiheit schon nach allen Seiten hin zerstreut; zu den wenigen, die noch in der Schule geblieben, um besondere Bemerkungen in Empfang zu nehmen, gehörte auch Rudolf Wiegand. Als er, das Zeugnis in der Tasche, das Schulgebäude verließ, glich er mehr einem Automaten, als einem lebenden Wesen. Blaß bis in die Lippen achtete er auf keinerlei Zureden einiger gutherzigen Mitschüler, denen sein Aussehen leid that, und mechanisch schlug er, anstatt nach Hause zu gehen, den Weg zum See ein.
»Wenn Sie so fort fahren, werden Sie der Schule und ihren Angehörigen bald zur Schande gereichen«, hatte die Schlußbemerkung des Direktors gelautet. Diese Worte gingen ihm unaufhörlich im Kopfe herum. Er, der sein Leben für seine Eltern gelassen hätte, ihnen eine Schande sein? Und der Onkel, der bei aller Strenge ihm doch Vertrauen und Achtung bewiesen, er sollte ihn jetzt mit Recht strafen, ihn vielleicht verachten dürfen? Wohin war er geraten? Was hatte er gethan? Welch' bittere Hefe war zurückgeblieben in dem Becher des Vergnügens, den er in der letzten Zeit mit so durstigen Zügen geleert hatte! »Otto ist es gewesen; er hat mich verführt!« rief es in ihm unwillig und anklagend.
»Das ist eine Lüge!« rief eine andere Stimme. »Du selbst, du allein bist schuld! Du nährtest die Lust nach allen jenen Dingen in deinem Herzen; anstatt die Sünde, die vor deiner Thüre ruhte, mit allem Ernste vor dir zu weisen und über sie zu herrschen, ließest du ihr ihren Willen; du bist schuld; denn obgleich an Jahren jünger, kanntest du den Willen deines Gottes besser als Otto.«
Unter solchen Gedanken, die sich fortwährend unter einander anklagten und entschuldigten, gelangte er zur Landungsbrücke. Er nahm ein Boot, und seine Bücher neben sich legend, ergriff er die Ruder. »Nur fort, fort aus der Nähe der Menschen!« hieß es in ihm. Der Vermieter der Boote rief ihm einige Worte nach und deutete dabei auf den Horizont – aber Rudolf achtete nicht darauf.
Als er so ziemlich außer Sichtweite war, zog er die Ruder ein, und sein Gesicht mit den Händen bedeckend, ließ er das Boot treiben, wohin es wollte. Er achtete nicht auf die Stille rings um ihn her, bemerkte es nicht, daß so wenige Boote sichtbar waren und diese wenigen dem Ufer zuruderten; selbst das immer stärker werdende Schaukeln des kleinen Fahrzeugs schien er nicht zu empfinden. Der Knabe weinte, weinte, bis sein ganzer Körper darunter erbebte, Thränen der Scham und der Reue. »Du kannst mich nicht mehr fragen,« hatte seine Mutter an jenem Tage des Abschieds zu ihm gesagt; »aber Du hast einen besseren Wegweiser, als ich Dir je gewesen, den Heiligen Geist.« O, und wie oft hatte dieser gute, untrügliche Führer unseres Lebens ihn gewarnt, gestraft! – aber er hatte seiner Liebesmahnung je länger, je öfter ein taubes Ohr entgegengesetzt. Je breiter sein Weg äußerlich geworden, je breiter und bequemer hatte es sich auch sein innerer Mensch gemacht. Nun aber war derselbe plötzlich erwacht und bemerkte, daß er am Rande eines Abgrundes schwebte.
Eine heftige Bewegung des Bootes ließ ihn aus seinem Brüten auffahren. Schwarz war der Himmel über ihm, schwarz das Wasser, auf dem sich ein weißer Gischt gebildet, und in der Ferne rollte unheimlich der Donner. In immer rascherer Aufeinanderfolge fuhren die Blitze herab und in wenigen Minuten hatten sich die einzelnen ruckweisen Windstöße zu einem so heftigen Sturm ausgebildet, daß das Boot gleich einer Nußschale auf den Wellen tanzte.
Unwillkürlich hatte Rudolf wieder zu seinen Rudern gegriffen; aber was vermochte seine schwache Kraft gegen das Toben der entfesselten Elemente?
Als eine große Welle ihm das eine Ruder aus der Hand riß, zog er auch das andere ein, und nach einiger Zeit hatte er seine ganze Kraft daran zu setzen, mit seinem Hute das in das Boot geschleuderte Wasser heraus zu schöpfen.
War das das Ende? Wollte Gott ihm keine Zeit zur Umkehr, keine Reue mehr gestatten? Eine unsagbare Angst erfaßte ihn, und ein verzweifelter Hilfeschrei erscholl über die empörte Wasserfläche.
Nur jetzt nicht sterben! nicht sterben mit dieser Last auf dem Gewissen! Nicht sterben ohne die Verzeihung seiner Eltern – seines Onkels!
Aber nirgends zeigte sich Rettung. Wilder heulte der Sturm und wilder wogte der See! O, wenn auch ihm jetzt ein Heiland erscheinen wollte, wie einst den Jüngern auf dem See Genezareth und mit seiner ausgestreckten Hand dem See und dem Sturm gebieten! Aber konnte er das erwarten, – er, der sich so weit verirrt, so schwer verfehlt hatte?
»Mein Gott!« rief er in seiner Herzensangst, »muß ich sterben, so vergieb Du mir meine Sünden, so tröste meine Eltern!«
Seine Arme erlahmten; seine Gedanken begannen sich zu verwirren. Alles flimmerte und flirrte vor seinen Augen. Da war es ihm, als wenn eine dunkle Masse über das Wasser sich auf ihn zu bewege, als ob ein langer Arm sich nach ihm ausstrecke. Mit einem lauten Aufschrei brach er ohnmächtig zusammen.
*
Wohl meinst du oft in deiner Not,
Es sei umsonst dein Fleh'n,
Und doch hat schon der treue Gott
Die Hilfe auserseh'n.
Noch eh' den Retter du erkannt,
Erfaßt dich sicher Seine Hand.
Das war für das Wiegand'sche Haus ein schwerer Tag gewesen! Und wie schwer mochten die Tage sein, die noch kommen sollten.
Leute gingen ein und aus, und schon etliche Male war der Doktorwagen vorgefahren. Die Frau Professor war schwer erkrankt; der Schrecken über Rudolfs Verschwinden und die furchtbare Angst, als sie erfuhr, daß derselbe auf den See hinaus gefahren und bei dem Unwetter höchst wahrscheinlich verunglückt sei, war für ihren schwachen Körper zu viel gewesen.
Eine lange Ohnmacht hatte ihre Sinne fast wohlthätig umnachtet gehalten; aber nachdem sie aus derselben erwacht, war sie so schwach, daß sie ihr Lager nicht verlassen konnte.
Otto befand sich in einem Zustande der qualvollsten Aufregung und wurde nicht müde, immer und immer wieder hinauszustürmen und Nachforschungen anzustellen. Die Aussage an der Fähre, daß Rudolf dort ein Boot genommen, hatte den Professor ungemein überrascht, und als er sah, wie der ihn begleitende Otto bei dieser Nachricht in Verwirrung geriet, begann er denselben genauer über die jüngste Vergangenheit auszuforschen. Und erst einmal allein mit dem Professor und unter dem Eindruck seiner ernsten, wahrheitheischenden Augen war ein Geständnis nach dem andern über die Lippen des jungen Mannes gekommen. Mit einem stummen Kopfneigen hatte der Professor denselben dann entlassen, war zum Direktor der Schule, zu den Lehrern gefahren und endlich als ein halb gebrochener Mann zurückgekehrt.
In seinem Studierzimmer ging dann der gelehrte Mann in ein ernstes Gericht mit sich selber, und das Endresultat desselben war: »Gewogen und zu leicht erfunden!«
Wie sollte, wie konnte er je wieder sein Haupt erheben, nachdem er das wertvollste, ihm anvertraute Kleinod, so schmählich vernachlässigt hatte.
War es genug gewesen, für dessen körperliche Ausbildung und höchstens noch für seinen Verstand zu sorgen? Hätte er nicht auch das Gefühls- und Gemütsleben des so früh seiner Mutter entrissenen Knaben berücksichtigen müssen? Und warum war das nicht geschehen? Mit einem schmerzlichen Aufstöhnen gestand es sich der Professor, weil er, er selber dazu zu bequem gewesen war. Den Lebensweg des Knaben hatte er eingeengt, ihm manchen unschuldigen Wunsch versagt, weil dieselben in Collission gekommen waren mit des gelehrten Herrn eigenen Lieblingsneigungen, und er nicht gesonnen war, sich seinen gewöhnten Pfad einengen und schmälern zu lassen!
O, wie sicher war er gewesen, im Glauben an seine unbedingte Autorität, und nun hatte dieselbe den eigenen Neffen in den Tod getrieben, während der andere Hausgenosse, der Sohn seines Freundes, dieselbe einfach ignoriert hatte.
Nur wer schon ähnliches erlebt, vermag es völlig zu fassen, was der Professor in wenigen Stunden an inneren und äußeren Qualen erlebte.
Es mochte gegen neun Uhr Abends sein, als noch einmal Einlaß in das Wiegand'sche Haus begehrt wurde. Wie jedes Mal heute, zuckte auch jetzt der Professor beim Klang der Glocke heftig zusammen und öffnete die Thüre seines Studierzimmers, um zu hören, ob man vielleicht Nachricht von dem Vermißten, dem Todtgeglaubten bringen würde.
Auf dem Hausflur stand ein junger Mann, dessen Züge ihm bekannt erschienen und der, sobald er des Hausherrn ansichtig wurde, aus diesen zueilte mit dem Ausrufe:
»Herr Professor, Ihr Neffe lebt und ist bei meiner Mutter in guter, treuer Obhut!«
Da mußte sich der, sonst starke Mann, nach einer Stütze umsehen. Auf den nächsten Sessel sank er nieder und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. An dem krampfhaften Heben und Senken der Brustmuskeln erkannte der junge Mann die furchtbare Aufregung des vor ihm Sitzenden, und er bat es dem Mann im Stillen ab, daß auch er ihn bis jetzt für kalt und gefühllos gehalten.
Es vergingen einige Minuten, ehe der Professor sich so weit gefaßt hatte, daß er dem Ueberbringer der frohen Nachricht danken konnte.
»O bitte«, sagte er, »ehe Sie mir weiter berichten, lassen Sie mich erst diese größte Beruhigung meiner armen Frau mitteilen, die der Schlag von uns allen am härtesten getroffen.«
Ob der Professor damit das Richtige traf? Seelenleid ist oft unendlich viel schwerer zu tragen, als das größte körperliche Leid! –
Bei seiner Rückkehr drückte er noch einmal dem jungen Manne herzlich die Hände.
»Und bitte, nun erzählen Sie mir Alles, Alles!«
»Ich weiß nicht«, begann dieser, »ob Sie, Herr Professor, sich meiner noch erinnern? Ich besuchte eine Zeit lang Ihre Kollegien, bis mich vor einem Jahre ein heftiges Nervenfieber ergriff und bis heute mich zu jeder geistigen Anstrengung untüchtig machte. Mein Name ist Eugen Howen.«
Der Professor nickte nur, und der Sprecher merkte, wie ungeduldig er der Hauptsache entgegen sah.
»Meine Mutter kam zu meiner Pflege von England, und da meine Schwester auch leidend war und die Aerzte ihr eine Luftveränderung geraten, so mietete meine Mutter eine Villa am Ufer des Sees in der Nähe von X. Ich mußte diese Bemerkungen vorausschicken, Herr Professor, damit Sie verstehen, wie es möglich war, daß ich mich heute zwischen zwei und drei Uhr, in dem furchtbaren Unwetter am Ufer des Sees aufhalten kannte.
»Ich besitze selber zwei kleine Fahrzeuge und wollte sie, mit Hilfe des Gärtners, vor der Gewalt des Sturmes bergen, als dieser mich auf einen Gegenstand aufmerksam machte, der wie ein Ball von den Wellen herumgeschleudert, bald sichtbar wurde und bald wieder verschwand. Ich lief in's Haus, mein Fernrohr zu holen und erkannte nun zu meinem Schrecken ein Boot und in demselben ein lebendes Wesen. Was sollten wir thun? Durften wir in diesem Unwetter hoffen, das leichte Fahrzeug regieren zu können? Es mußte unter allen Umständen gewagt werden, und nachdem der Gärtner rasch eine Fangleine, aus einem in der Nähe befindlichen Tau bereitet, sprangen wir in das Boot und stießen ab. Zum Glück wurde das fremde Boot immer mehr dem Ufer zugetrieben; aber zugleich merkten wir auch, daß es sich zusehends mit Wasser füllen mußte. Einige Male glaubten wir Hilferufe zu vernehmen; doch konnte es auch das Heulen des Sturmes gewesen sein. Nachdem wir unter unsäglichen Anstrengungen endlich ziemlich nahe gekommen waren, erwies sich die Idee unseres Gärtners als das beste Hilfsmittel. Es gelang uns, die Schlinge des Taues um das Steuerruder des Bootes zu werfen und dasselbe an uns heran zu ziehen. Die Gestalt in demselben, die sich bis vor Kurzem bewegt hatte, lag jetzt, fast vom eindringenden Wasser bedeckt, bewegungslos auf dem Boden des Kahnes. Die größte Gefahr für uns kam nun erst – den Leblosen aus seiner Lage zu befreien und zu uns herüber zu schaffen. Mit Gottes Hilfe gelang es! Das Boot mußten wir seinem Schicksal überlassen, da wir alle Geschicklichkeit, alle Kräfte aufzubieten hatten, unser jetzt tiefgehendes Fahrzeug vom Wasser freizuhalten und an das Ufer zu gelangen.«
»Der Gerettete, Herr Professor, war natürlich Ihr Neffe.«
»Und er lebt? Er ist gesund? Warum ist er nicht hier.«
»Ja, er lebt und wird, so Gott will, auch bald wieder hergestellt sein. Aber Sie dürfen nicht erschrecken. Der Arzt, den wir aus X. herbeiholten, hält seinen Zustand durchaus nicht für bedenklich und mehr für eine natürliche Folge der überstandenen Angst und Kälte. Doch hält er die Vermeidung jeglicher Aufregung einstweilen für das Geratenste. Würden Sie, Herr Professor, bis es der Arzt erlaubt, auf ein Wiedersehen verzichten können? Ich kam soeben mit dem Dampfschiff an und werde Ihnen jeden Tag Nachricht bringen.«
»Und warum konnte Rudolf nicht zu uns gebracht werden? Doch ich vergaß, meine Frau ist ja selber erkrankt und braucht unsere Pflege. Aber wie können, wie dürfen wir von Fremden so viel Aufopferung annehmen?«
»Darüber noch ein Wort, Herr Professor. Ihr Neffe ist mir kein Fremder. Rudolf erregte meine Aufmerksamkeit schon hier im hohen Grade, wenn ich ihm dann und wann auf einem Spaziergange begegnete. Ich bin etwas Idealist, und es war etwas in dem Auge des Knaben, das mich wunderbar anzog, und gerne hätte ich seine Bekanntschaft gemacht. Aber er war immer so zurückhaltend, und da ich von Natur trotz meines Alters sehr schüchtern bin, so blieb es eben bei dem bloßen Wunsch. Nun aber betrachte ich diese Begegnung als eine Fügung Gottes, auch für meine Mutter, die von der Natur zur Krankenpflegerin wie gemacht ist.«
Als an diesem Abend die beiden, so verschiedenen Männer sich trennten, da schieden sie als Freunde von einander. So verschieden ihr Alter sein mochte: Der eine hatte Hochachtung vor dem anderen empfangen.
*
Ein getreues Herz zu wissen
Ist des Lebens höchster Preis;
Der ist selig zu begrüßen,
Der ein solches Kleinod weiß.
Mir ist wohl beim höchsten Schmerz:
Denn ich weiß ein treues Herz.
Paul Fleming.
An einem sonnigen Herbstnachmittage saß im Garten von Frau Howens Villa eine fröhliche Gesellschaft am Theetisch, der unter einer mächtigen Platane gedeckt war, und von dem aus man einen freien Ausblick auf den See genoß, der heute friedlich und ruhig unter einem leuchtend blauen Himmel dalag. Fröhliches Lachen und Plaudern erschallte über die Wasserfläche, und doch wurde der Lärm nie zu groß, die zarte gegenseitige Rücksicht wurde nie außer acht gelassen.
Die besondere Aufmerksamkeit Aller aber galt offenbar einer in einem Schaukelstuhle sitzenden jugendlichen Gestalt, deren brauner Lockenkopf sich gerade jetzt auf eine so schmale durchsichtige Hand stülpte, daß man in dem Sitzenden auf den ersten Blick einen Rekonvalescenten erkannte.
Rudolf Wiegand war nicht so schnell, wie man im Anfange erwartet, von den Folgen jenes ereignisvollen Tages genesen. Die Nerven waren zu sehr erschüttert worden, und langsam, sehr langsam, fast Schritt für Schritt, wurde sein Leben dem drohenden Tode abgerungen.
Aber er genaß; genaß unter dem Sonnenschein der aufopferndsten Liebe und Sorgfalt, wie selbst seine Mutter sie ihm nicht besser hätte zu Teil werden lassen können. Erst seit einigen Wochen konnte er das Bett auf einige Stunden verlassen und wie heute in der warmen Oktobersonne zubringen.
Die Aufmerksamkeit seiner ihm fast zur zweiten Mutter gewordenen Pflegerin, seine beiden Schwestern mit einer älteren Cousine für die noch schöne Herbstzeit aus Norddeutschland kommen zu lassen, hatte sich als ein treffliches Beschleunigungsmittel zu seiner Genesung bewährt. Daß Rudolf glücklich war, daran konnte Niemand zweifeln, der ihm in die ausdrucksvollen Augen blickte. Und heute hatte er noch besondere Ursache sich zu freuen. Seine Mutter hatte ihm geschrieben und ihren Besuch in Aussicht gestellt, da sie den jüngsten Bruder ebenfalls nach Deutschland zu ihrer Schwägerin zu bringen beabsichtigte. Einstweilen aber war sie durch ein hartnäckiges Leberleiden ihres Mannes an der Abreise verhindert.
Fast jede Woche statteten Professor Wiegand und seine Frau, seitdem die letztere genesen, wenigstens einmal, ihrem Neffen einen Besuch ab, und das Verhältnis war ein viel innigeres geworden.
Manchmal kam auch Otto mit. Der Professor hatte ihn nicht, wie er anfänglich beabsichtigt, fortgeschickt; sondern den Jungen auf dessen ausdrückliche Bitte hin behalten, um womöglich an ihm das Versäumte nachzuholen. Die ernste Folge seines Leichtsinns, das lange Schweben Rudolfs zwischen Tod und Leben hatte doch einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht und ihm ein ernstes Halt auf seinem so sorglos dahingeschrittenen Lebensweg entgegen gerufen. Das innigste Verhältnis aber hatte sich zwischen Eugen und Rudolf gebildet, und man nannte sie im Hause scherzweise nur noch die Unzertrennlichen. Eugen's Bitten war es auch gelungen, des Onkels Einwilligung zum verlängerten Aufenthalte Rudolfs zu erlangen, der sich wenigstens bis über den Winter hin erstrecken sollte. Eine so kurze Spanne Zeit erschien dies den Beteiligten, und doch wurde sie für Rudolfs ganzes ferneres Leben von schwerwiegendster Bedeutung.
Der Geist ernster, evangelischer Frömmigkeit, treuster Pflichterfüllung und aufopferungsfähiger Liebe, wie er in dem Hause der Frau Howens herrschte, konnte seinen Einfluß auf ein so empfängliches Gemüt, wie dasjenige Rudolfs war, nicht verfehlen. So war ihm das Christentum nicht mehr entgegengetreten, seitdem er von seiner edeln aufrichtig frommen Mutter getrennt wurde, den interessanten Erzählungen Frau Howens, deren Vater Missionar in China gewesen, und deren Geschwister sich fast alle dem Missionsdienst gewidmet, lauschte er mit gespannter Aufmerksamkeit, und die Missionsberichte und Beschreibungen, die ihm im Hause seines Onkels eine so gezwungene langweilige Lektüre gewesen, gewannen jetzt in der Art und Weise der Behandlung und gemeinschaftlicher Besprechung Geist und Leben.
Wie eng, abgegrenzt war ihm noch vor einiger Zeit das Wirken eines Missionars vorgekommen – wie unermeßlich wichtig für Zeit und Ewigkeit erschien ihm dasselbe jetzt, und noch nie zuvor hatte er die Bitte des »Vaterunsers« – »Dein Reich komme« – mit solcher Inbrunst und Herzlichkeit gebetet.
Der Freund ward ihm mehr und mehr zum Ideal, und dieser verdiente es, zu sein. Aeußerlich einfach, anspruchslos, galt sein Wirken und sein Denken vom Morgen bis zum Abend Andern – an sich selber dachte er immer nur zuletzt. Keine Person war ihm unwichtig, von seinem Schneider bis hinab zum Gärtnerburschen erschien jeder ihm liebenswert und seines wärmsten Interesses würdig. Bei Allen lag ihm die eine Frage vor allen Dingen am Herzen: »Befindet sich diese Seele auf dein Wege des Lebens, und wenn nicht, was kann ich thun, sie vom breiten Wege zurückzuhalten, der unfehlbar mit Tod und Verderben endet? In dem steten Zusammenleben mit einem solchen Freund mußte Rudolf der Zustand seines eigenen Herzens nicht nur immer klarer werden; er erhielt auch ganz andere Anschauungen über Welt und Menschen, lernte vom Kleinlichen, Zufälligen und Nebensächlichen absehen und das Wichtigste stets im Auge zu behalten: Den Wert einer jeden unsterblichen Menschenseele.
Noch ehe der Winter vergangen war, stand sein Entschluß fest, den stillen, dornenvollen, aber auch segenbringenden Pfad eines Missionars zu betreten und diesem Berufe sein Leben zu weihen.
Obgleich die endgültige Entscheidung dieser Frage seinen Eltern überlassen bleiben sollte, so war doch der Wunsch des Onkels für Rudolf maßgebend. Diesem gab er endlich nach, zuvor, wie von Anfang an beabsichtigt, ein technisches Fach zu studieren, und wenn damit fertig, und er ein gereifteres Alter erreicht haben würde, sollte ihm die Entscheidung frei stehen.
*
Der Wolken, Luft und Winden
Giebt Wege, Lauf und Bahn;
Der wird auch Wege finden,
Da
dein Fuß gehen kann.
P. Gerhardt.
In der russisch-deutschen Stadt R. begegnen wir unseren Freunden wieder, nach zehn Jahren. In einem ärmlichen Dachkämmerchen sitzen sie am Bette eines kleinen, schwarzhaarigen Schneiderleins, dessen kohlschwarze Augen in unheimlichem Glanze leuchten, während die dürren Finger unruhig auf der Decke umhertasteten.
»Komm Rudolf, geh heim und lege dich schlafen,« sagt Eugen »Dies ist mm die dritte Nacht, die du dem armen, verlassenen Menschen geopfert. Denk an deine Mutter und Geschwister; du siehst wahrlich selbst angegriffen genug aus.«
Rudolf öffnet das kleine Fenster, um der Morgensonne den Eingang zu gestatten, deutet auf die kleine zusammengekauerte Gestalt des Leidenden und sagt leise:
»Ich weiß, Eugen, Du meinst es gut; aber laß mich hier, bis er ausgelitten hat; dann will ich ruhn.«
»So sagst du immer; aber wann kämest du zur Ruhe? Alle Zeit, die dein Beruf nicht in Anspruch nimmt, verbringst du in der ungesunden Luft der Krankenzimmer, oder bei den Armen. Woher soll da die Erholung kommen? Rudolf, ich gehe fort von dir, mit Sorge um dich im Herzen. Versprich mir, dich zu schonen!«
»Sei unbesorgt, Eugen. Du gehst, wohin ich gerne gegangen wäre, auf das Missionsgebiet, und ich bin fest überzeugt, daß du bald eben so wenig an's Schonen denken wirst, wie ich.« »Wirket, so lange es Tag ist; denn es kommt die Nacht, wo niemand wirken kann.« »Du und meine liebe Johanna, meine herzige Schwester, Ihr werdet beide nur zu sehr nach diesem Worte des Heilandes handeln. Ich darf euch nicht folgen; so lasset mir wenigstens diese, mir so liebe Missionsarbeit an den Armen und Kranken, die ich als ein heiliges Vermächtnis von deiner lieben Mutter übernommen habe. Meine Mutter und Emmy sorgten schon dafür, daß ich nicht zu viel thue. Sie möchten lieber alle Arbeit auf ihre eigenen Schultern laden. Aber nun gehe, Freund; mein armer Kranker wird unruhig, und ich sollte heute keine Zeit verlieren mit Sprechen. Da die Aufwärterin abgesagt hat, muß ich heute hier die nötigen Dienstleistungen selbst verrichten.«
Schweigend umarmten sich die Freunde, deren gegenseitige Liebe und Achtung mit den Jahren immer mehr zugenommen, und mit bekümmertem Gesichte verließ Eugen das Gemach.
Erst gegen Abend, nachdem er dem armen, müden Erdenpilger die Augen zugedrückt und das Nötige zu seinem Begräbnis angeordnet, schritt auch Rudolf müden Schrittes seiner freundlichen Wohnung in der Vorstadt zu. Noch fühlte er den Druck der erkaltenden Hand, hörte noch die letzten gestammelten Dankesworte, und ein köstliches Friedensgefühl zog in sein Herz. In seinem zwanzigsten Jahre, als er gerade in Paris seine Studien beendigte, wurde sein geliebter Vater ihm geraubt. Schwere äußere Verluste hatten sein Ende beschleunigt, und Rudolfs Mutter war fast mittellos zurückgeblieben. So nahe, so fast greifbar nahe am Ziele seiner Wünsche, mußte er jetzt doch einstweilen dieselbe bei Seite legen und mit Hilfe des Onkels so fleißig als möglich seine Studien betreiben.
Nun war er seit zwei Jahren hier in R. als Ingenieur angestellt, hatte den Seinen ein liebliches, bescheidenes Heim bereitet und sich in der kurzen Zeit die allgemeine Achtung, die Liebe der Bedrückten und Hilflosen erworben.
Manchmal überkam es ihn freilich, wie eine fast unbezwingliche Sehnsucht, hinauszuziehen in die Heidenländer; aber ein Blick auf seine frühergraute, edle Mutter genügte, ihn zufrieden und glücklich mit seinem Loose zu machen. Gottes Weg sollte sein Weg sein, und er gelobte sich, auch in seinem jetzigen Berufe sich als ein treuer Arbeiter im Weinberge des HErrn zu beweisen.
Als er das Pförtchen zum Gärtchen öffnete, legte sich ein Arm in den seinigen. »Mein lieber, lieber Sohn, meines Alters Stolz und Freude,« sagte seine Mutter, sich an ihn schmiegend.
Und Rudolf wußte, daß er recht gethan.