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Schwer gebüßt.

Eine wahre Erzählung aus dem Leben für Jung und Alt von Marie Schweikher.

*

I.
Eine Scene im Wirtshaus.

In I... war Jahrmarkt. Wie gewöhnlich an solchen Tagen hatte sich auch heute eine große Anzahl wohlhabender Bauern in der Stadt eingefunden, um allerlei Käufe und Verkäufe abzuschließen und sich nachher mit den aufs Höchste geputzten Frauen und Töchtern bei einem Glase Wein oder einer Tasse Kaffee gütlich zu thun.

An solchen Tagen pflegten die Gast- und Wirtshäuser überfüllt zu sein, doch schien der »schwarze Adler« stets die größte Anziehungskraft auszuüben. Während hier im großen Vordersaale die Bauern mit ihren Frauen und Töchtern an saubergedeckten Tischen saßen, hatten sich im kleinen Saale hinten, die jungen Burschen zusammengefunden, die meistens schon aus den Schulen des Städtchens die erste Bekanntschaft geschlossen und froh waren, dieselbe von Zeit zu Zeit erneuern zu können nach monatelanger Einförmigkeit des Landlebens. Wenn die Jugend wohl auch hie und da in eine etwas angeheiterte Stimmung hinein geriet, so kam es doch selten zu lärmenden Ausschreitungen; teils ist dazu die norddeutsche Natur überhaupt zu phlegmatisch, teils machte sich bei den jungen Leuten doch auch der Einfluß gebildeten Umgangs während der Schuljahre geltend. Um so auffallender war es, daß heute keine rechte Stimmung aufkommen wollte, und auf manchem jugendlichen Antlitz sich offener oder mit Mühe unterdrückter Unmut ausprägte.

»Na Jungens,« sagte ein neu Eintretender, »ihr sitzt ja da, als ob ihr euch zu einem Leichenbegängnis zusammengefunden hättet. Was ist los?« Mit diesen Worten hing er seinen Hut an einen der zahlreichen Haken und war gerade im Begriff, sich zu setzen, als sein Blick auf einen jungen Mann fiel, der mit einer Cigarre im Munde und den Hut auf dem Kopfe ganz in die Tagesneuigkeiten vertieft zu sein schien und offenbar keine Notiz von den übrigen Gästen nehmen wollte.

»Was der Tausend, Heinken, du hier? Und mit dem Hut auf dem Kopfe? Was soll das bedeuten?« fragte der Ankömmling. Als ob es nur dieses Anstoßes bedurft hätte, ertönte es jetzt von verschiedenen Seiten: »Hut ab! Hut ab!«

Der mit »Heinken« Angeredete rührte sich nicht und musterte nun mit väterlichen Blicken die um ihn Sitzenden.

Als die Rufe sich in drohender Weise wiederholten, schlug er endlich mit der geballten Faust aus den Tisch, daß die Gläser klirrten, und rief laut und vornehmlich: »Hier im öffentlichen Lokal bin ich mein eigener Herr und thue, was mir beliebt.«

Einen Augenblick trat Ruhe ein, und offenbar überlegte man flüsternd, was mit dem Widerspenstigen zu thun sei; dann ertönte es wieder: »Hut ab!«

Als auch dieser Aufforderung nicht Folge geleistet wurde, schritt der zuletzt Gekommene auf den scheinbar immer noch Lesenden zu und schlug ihm mit einer geschickten Handbewegung den Hut vom Kopfe. Nur Einer in der Gesellschaft hatte bemerkt, daß Heinken, während der junge Mann sich ihm näherte, in die Rocktasche gegriffen, und dieser war es denn auch, der durch ein rasches Eingreifen des Armes, Heinken an einer That verhinderte, die er vielleicht sein ganzes Leben lang bereut haben würde, der abgefeuerte Schuß fuhr in die Zimmerdecke, rief aber eine Wirkung hervor, als ob der Blitz eingeschlagen hätte.

»Hinaus mit dem Friedensstörer!« »Werft den Amerikaner hinaus!« »Der eingebildete Tropf!« So ertönten Rufe von allen Seiten, und obgleich derselbe sich jetzt mit dem Messer zu wehren suchte, mußte er doch der Uebermacht weichen und zähneknirschend seinen Rückweg antreten.

Natürlich war das Ereignis bald nach allen Seiten ausgebreitet und rief die unwilligsten Aeußerungen hervor über den jungen Burschen, der kaum von Amerika zurückgekehrt, sich in einer Weise geberde, als ob die Welt ihm allein gehöre, und er es vergessen habe, daß es auch noch ein Ding, wie »Höflichkeit«, in derselben gäbe.

Der alte Heinken gab, mit Kummer und Groll im Herzen, den Befehl zum Anspannen.

»Ich habe Dir ja immer gesagt, daß aus dem Burschen nichts wird«, sagte der alte Mann zu der weinenden Mutter desselben. »Dem hat man die Zügel zu lang gelassen. Aber du bist nicht schuld und sein Vater hat auch noch auf seinem Sterbebette seinen Fehler eingesehen. So geht's, wenn man einen Abgott aus seinen Kindern macht und die Rute spart.«

Noch ein anderer der älteren Bauern war tief empört. Auch er ließ anspannen, um, wie er sagte, noch bei seiner Schwester vorzufahren und mit derselben ein ernstes Wort zu reden. »Wenn sie,« sagte er im Dahinfahren zu sich selber, »die Adelheid dem Bernhard giebt, so wäre es besser für das Mädchen, wenn der liebe Gott sie gleich heute zu Sich nähme. Aber rechne einmal einer mit den jungen Mädchen.«

*

II.
Adelheid.

Während im schwarzen Adler jene eben geschilderte aufregende Scene sich abspielte, saß in dem reizenden Blumengärtchen eines einfachen, einstöckigen Hauses, das etwas außerhalb der Stadt lag, ein junges Mädchen von etwa neunzehn Jahren. Die Hände waren mit dem Zubereiten eines Gemüses auf den Mittag beschäftigt; aber daß die Gedanken weit weg von der Arbeit schweiften, das las man leicht aus dem sinnenden, träumerischen Ausdruck der veilchenblauen Augen. Das blonde Haar fiel in langen Locken über den Nacken des lieblichen Geschöpfes und wurde nur in der Mitte von einer blauen Bandschleife zusammengehalten. Rosen der Gesundheit blühten aus den weichen Wangen, und Adelheid Harmshen war in der That eine anziehende Erscheinung. Sie war aber nicht nur schön; sie war auch herzensgut und von solch' kindlicher Frömmigkeit, daß sie während ihres Konfirmationsunterrichtes der besondere Liebling des Pfarrers wurde und an ihrem Konfirmationstage von ihm den Spruch erhielt: »Wahrlich, ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes nimmt als ein Kind, der wird nicht hineinkommen.«

Mit Bernhard Heinken war sie im selben Orte aufgewachsen und hatte schon als ganz kleines Mädchen mit Bewunderung zu dem wilden, unternehmenden Knaben aufgeblickt. Sie war ihm immer gut geblieben und hatte ihn, ach so oft, in Schutz genommen auch gegen wohlverdiente Anklagen.

Unter seinem Jähzorn und seiner Heftigkeit hatte sie ja selber zu leiden gehabt; aber anstatt die Schuld ihrer Zwistigkeiten bei ihm zu suchen, vermochte er sie nur zu leicht davon zu überzeugen, daß sie zu dumm, zu einfältig oder zu langsam sei und ihn dadurch reize.

Als er nach Amerika gegangen vor zwei Jahren und sie gefragt hatte, ob er wiederkehren und sie als seine Frau hinüberholen dürfe, da hatte sie ohne Zögern und freudigen Herzens eine bejahende Antwort gegeben. Und nun war er wiedergekehrt! Der Traum, den sie lange, stillverborgen in ihrem jungen Herzen genährt, sollte zur Wirklichkeit werden. – War sie glücklich?!

Zu seinem raschen, ungestümen Wesen hatte sich noch etwas Neues, Fremdes gesellt – etwas Gereiztes, Absprechendes und – sie konnte es sich nicht verhehlen – eine gewisse Feindschaft gegen alles, was mit der Religion im Zusammenhange stand. Sie wagte ihn oft schüchtern darauf aufmerksam zu machen, und es that ihr weh, für ihren Lieblingsdichter Gerock, für so manche liebliche Erzählung, die sie ihm zu lesen bot, kein Verständnis bei ihm zu finden. Aber er wußte ihr Bedenken, ihre Befürchtungen meistens hinweg zu scherzen. Er schilderte ihr das buntbewegte, amerikanische Leben, erzählte von seinem Geschäft, das er mit einem Freunde angefangen und sprach von der schönen Häuslichkeit, die er gegründet, und die jetzt nun noch auf die junge Hausfrau warte. Alles Andere würde sich ja nachher finden. Es sei ja schön und gut, wenn die Frau Religion habe; aber der Mann, der den Kampf mit den Widerwärtigkeiten des Lebens zu kämpfen habe, kann sich um solche Dinge wenig kümmern. Ach, und Adelheid ließ sich nur zu leicht beruhigen! Ihr war die Religion ein Lebensbedürfnis; aber mehr aus einem natürlichen Hang zur Frömmigkeit als aus wirklicher Ueberzeugung. Sie war ihr noch nicht jene einzige, kostbare Perle geworden, um derentwillen ein Mann alles verkaufte, was er hatte, nur um jenen einen, herrlichen Preis zu erlangen. Ihre Menschenkenntnis war gering, und es war ihr noch nicht zum Bewußtsein gekommen, wie namenlos elend ein Leben ist ohne den Glauben an einen lebendigen Gott. Sie hätte nie wissentlich Gott oder Menschen betrüben mögen, und hatte sie es gethan, so ruhte sie nicht eher, als bis sie Friede gemacht und Vergebung erlangt hatte.

Aber eine wirkliche Herzensveränderung war kaum mit ihr vorgegangen. Von Kämpfen und Zweifeln, inneren Dunkelheiten, von dem Zwiespalt der Seele, dem Ringen nach Licht und Klarheit wußte sie nichts, wie sie wohl auch kaum je eine Thräne geweint über das eigene Ich. Ebensowenig wußte sie natürlich auch von jenem Frieden, der da höher ist, als alle Vernunft und der nur das Ergebnis des steten unentwegten Wandelns in Gottes Willen ist. Sie freute sich ihres Lebens, wie eine Blume, wie ein Schmetterling, suchte unbewußt andere glücklich zu machen, durch ihre Anmut und ihre Fähigkeiten, liebte die Menschen und liebte auch herzlich ihren Heiland, um Seines für die Menschen gebrachten Opfers, Seines rührenden Lebens, Leidens und Sterbens willen – ihr persönlicher Heiland war er noch nicht geworden, und sie hatte nach einem solchen noch kein Verlangen gespürt. Sie nahm es als selbstverständlich an, daß auch sie eingeschlossen sei in die Zahl derer, die Christus erlöst hatte vom Fluche der Sünde und für die ER die ewige Seligkeit erworben. Das Wort Gottes, so sehr es sie zu rühmen vermochte, und so sehr auch vielleicht gewisse Stellen sich ihrem Gedächtnisse eingeprägt hatten, war ihr dennoch ein Buch mit sieben Siegeln und weit davon entfernt, ihr die einzige Richtschnur ihres Lebens zu sein. So kam es denn, daß der Mangel, den sie bei Bernhard Heinken wohl fühlte, ihr dennoch nicht viel Kopfzerbrechen machte. Wie sie bisher das Licht in dem Leben ihrer verwitweten Mutter und ihrer älteren Schwester gewesen, so wollte, so mußte sie auch den Erwählten ihres Herzens beglücken, und sie würde ihn gewiß dahin bringen, Teil zu nehmen an allem, was sie beglückte und ihr Freude machte.

Solchen Träumen gab sie sich auch heute hin an dem herrlichen Sommermorgen, als sich plötzlich Jemand über das Gartengitter schwang und der, an den sie gedacht mit Sehnsucht und Liebe, wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand.

*

III.
Die Entscheidung.

Bei der plötzlichen Erscheinung Bernhard's war Adelheid so erschrocken aufgesprungen, daß ihr die ausgebrockten Erbsen aus der Schüssel auf den Boden rollten, und sie nun niederkniete, um dieselben von dem reinlichen Kieswege aufzulesen.

»Komm, laß das Adelheid; ich habe mit Dir zu reden.«

»Aber Bernhard! ich kann doch die schönen Erbsen nicht verderben lassen.«

Statt aller Antwort trat der junge Mann mit dem Fuß auf die zarten, grünen Bällchen und verstreute dieselben nach allen Seiten.

»Bernhard!« rief Adelheid, so entrüstet, wie sie dazu überhaupt im Stande war, und nun erst sah sie dem Missethäter recht eigentlich ins Gesicht. Natürlich fiel ihr sein verstörtes, ungewöhnlich bleiches Aussehen auf. Sofort war aller Groll verflogen. Sie legte ihre Hände auf seinen Arm und fragte ängstlich: »Bernhard, was ist Dir widerfahren? Was hast Du?«

»Komm mit mir den Waldweg entlang; ich mag keinem Menschen begegnen.«

Sie gehorchte ohne Zögern und rief nur noch der Schwester durch das offene Küchenfenster zu, sie möge doch schnell frische Erbsen pflücken, da sie mit den ihrigen Unglück gehabt. Mit bekümmerter Miene schaute diese Schwester dem langsam hinwegschreitenden jungen Paare nach, bis dasselbe im Walde verschwand.

Bernhard schilderte nun seiner Begleiterin die Scene im »schwarzen Adler«, nur daß er es vergaß, sich selbst als den schuldigen Teil hinzustellen. Er sprach von Kleinstädterei, von Beschränktheit und dem elenden Polizeiwesen und erklärte, daß er noch am selben Abend zu seiner Schwester nach Hamburg abreisen und sobald wie möglich nach Amerika zurückkehren werde. Dann drang er in das junge Mädchen, die Zurüstungen zur Hochzeit zu beschleunigen und mit Mutter und Schwester nach Hamburg zu kommen, wo sie sich in aller Stille trauen lassen könnten. Dem jungen Mädchen zu sagen, daß er am liebsten überhaupt auf eine kirchliche Trauung verzichten und sich mit dem Civilakt begnügen würde, wagte er doch nicht. Es schien ihm geraten, den Bogen nicht zu straff zu spannen. Bernhard Heinken verfügte über eine wunderbare Gabe des Redens, und wo es ihm auf die Erreichung eines bestimmten Zweckes ankam, verstand er es vortrefflich, von dieser Gabe Gebrauch zu machen. So gelang es ihm denn jetzt auch überraschend schnell, sich in Adelheids Augen zu einem Helden zu stempeln, der hier verkannt und mißverstanden werde, und sie zu dem Versprechen zu bewegen, Mutter und Schwester für seinen Plan geneigt zu machen.

Als sie nach einem flüchtigen Abschied dann nachher allein auf demselben stillen Waldweg zurückschritt, da durchfuhr es sie doch wie ein Schrecken, über ihr gegebenes Wort. Alles hier verlassen um seinetwillen? Dieses friedliche Heim, diese herrlichen, lauschigen Plätze im Walde, und vor allen Dingen Mutter und Schwester? Fast überkam es sie – und sie dachte oft später in ihrem Leben daran mit bitteren Thränen – wie eine Ahnung, als ob sie dieser wilden, stürmischen Natur nicht gewachsen sei, als ob er auch sie einmal zertreten könne, wie die Erbsen im Garten, wie die zarten Waldblumen, die sein Fuß so achtlos geknickt. Aber hatte er nicht noch heute gesagt: »Ich weiß, daß ich ungestüm bin; aber Niemand hat Einfluß auf mich als Du, und nur um Deinetwillen habe ich drüben so gearbeitet und gespart.«

Wie gut war er doch! Nein, sie durfte ihn nicht verlassen, wenn auch alle auf ihn zürnten.

Zu Hause angekommen, suchte sie sogleich ihr Stübchen auf und kniete, einem innern Drange folgend, an ihrem Bette nieder, um ihr von Glück und Schmerz zugleich erfülltes Herz vor Gott auszuschütten. Dann wurde sie wieder froh und heiter, gerade wie es uns so oft ergeht, wenn wir irgend einen Kummer, eine Sorge oder eine Schuld einem verwandten Herzen mitgeteilt haben. Ganz anders aber und erst nachhaltig segensreich wirkt solche ein Ausleeren des Herzens, wenn wir nun auch den, Freunde Gelegenheit geben, zu uns zu reden, uns nicht zu trösten, sondern auch zu warnen, zu strafen und uns unser Herz aufzudecken mit allen seinen Flecken, Mängeln und Gebrechen, die wir vor lauter Blumen und Flittergold auf der Oberfläche noch gar nicht bemerkten. Als Adelheid kaum die letzten Spuren der vergossenen Thränen hinweggewaschen, wurde sie von der Mutter hinuntergerufen und fand im Wohnzimmer auch den alten Onkel Mertens anwesend. Aber Onkel und Mutter schienen bekümmert, und die liebe Mutter hatte gar rotgeweinte Augen. Adelheids Herz stockte; sie ahnte den Zusammenhang.

Sie hatte sich auch nicht getäuscht. Klar und bündig berichtete ihr der Onkel die Vorgänge des Vormittags, und die Schilderung, die er ihr von dem Charakter Heinkens entwarf, hätte wohl geeignet sein dürfen, sie zum Nachdenken und zur ernstlichen Prüfung anzuregen. Aber in diesem Falle erging es dem jungen Mädchen, wie es uns so oft ergeht, wenn unser Liebstes angegriffen wird. Wir fühlen uns unwillkürlich zur Verteidigung gedrungen und erwärmen uns selbst bei unserer eigenen Rede, bis wir felsenfest glauben, was wir sagen. Adelheid kannte ja diese Angriffe schon aus ihrer Kinderzeit und jetzt trat noch ein wichtiger Moment hinzu, das sie mehr als gewöhnlich zum Widerspruch reizte – tief im innersten Winkel ihres Herzens hatte sich bereits eine warnende, mahnende Stimme erhoben, und diese wollte sie betäuben, nicht aufkommen lassen, da sie dieselbe für eine böse Einflüsterung und nicht für Gottes Stimme hielt.

»So, mein Kind,« sagte endlich der Onkel, nachdem er lange geduldig ihren entschuldigenden Darstellungen Gehör geschenkt, »Du willst, so viel ich weiß, eine ernste Christin sein, weißt Du denn aber auch, was Gottes Wort sagt:

»Ziehet nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen. Denn was hat die Gerechtigkeit für Genieß mit der Ungerechtigkeit? Was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis?«

»Und was lesen wir im Jesaias?« rief die Nichte mit blitzenden Augen und geröteten Wangen, »daß Gott das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen will! Und wir sollen unserem Bruder nicht sieben Mal, sondern siebenzig mal sieben Mal vergeben!«

»Thörichtes Kind,« erwiderte der Onkel ernst, »wie falsch verstehst Du diese Worte. Sie finden wohl Anwendung auf solche, die Gottes Kinder sein wollen; aber noch schwach und irrend sind – nicht aber auf Sünden, wie offenbarer Unglaube und Gottesfeindschaft.«

»Onkel, Onkel, das ist nicht wahr! Bernhard ist kein Gottesleugner! Du hättest hören sollen, wie schön er erst heute zu mir von einem höheren Wesen gesprochen!«

»A bah, hohles Geschwätz! Wer an ein höheres Wesen glaubt, dem er Verantwortung seiner Handlungen schuldet, der spielt mit keinem Menschenleben!«

»So wißt Ihr denn, wie man ihn gereizt hat? O, Ihr solltet doch auch an das Wort denken: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!«

»Nun, ich sehe schon, mein Kind, wo es hinaus will. Unglücklicherweise ist Heinkens Onkel Dein Vormund, und der wird Dir natürlich die Einwilligung zur Verbindung mit ihm nicht versagen. Wenn Du den Warnungen Deiner Mutter und Deines alten Onkels jetzt ein taubes Ohr entgegensetzest, so wirst Du es einmal bitter bereuen. Ich hätte Dich für tiefer gegründet in Gottes Wort gehalten. Mache mir einmal keine Vorwürfe, wenn es Dir schlecht ergeht, und nun lebt wohl! Der alte Onkel hat seine Schuldigkeit gethan und kann gehen.«

»Ach Onkel, sei doch nicht böse!« schluchzte Adelheid und umschlang den alten Mann mit ihren Armen, ich kann ja nicht anders – ich habe ihn so lieb.«

»Lieber als Gott? – o Adelheid, prüfe Dich!« Mit diesen Worten befreite sich der Onkel von der Umarmung und eilte rasch hinaus, da er seine tiefe Bewegung nicht mehr bemeistern konnte. Leider hatte das Kind mit der Mutter leichteres Spiel. Frau Harmshen war eine herzensgute Frau, aber ohne jene ernsten religiösen Grundsätze ihres Bruders, des alten Onkel Mertens.

Ernstere Einwendungen machte die ältere Schwester. Sie ließ es sich sogar nicht verdrießen, nach Hamburg zu reisen und genaue Erkundigungen bei den Verwandten über Bernhard einzuziehen. Aber das Urteil der Weltmenschen ist eben für Christen ein unzuverlässiges, da dieselben von einem ganz anderen Standpunkt aus die Dinge betrachten. Bernhard selbst versuchte sein Bestes und machte auch dieses Mal einen entschieden günstigeren Eindruck auf Hannah Harmshen als früher.

So endete denn diese Angelegenheit, wie schon so manche ähnliche vorher geendet – mit einer Hochzeit. Bernhard und Adelheid reisten zwei Monate später als junges Ehepaar nach New-York.

*

IV.
Fünf Jahre später.

Wir betreten die Wohnung der jungen Heinkens. Das Haus und die Straße, in welcher dasselbe gelegen, lassen auf einen gewissen Wohlstand schließen. Die innere Einrichtung ist sogar im Verhältnis zu den früheren Gewohnheiten der jungen Frau luxuriös zu nennen. Aber werfen wir einen Blick auf diese selbst. Ist jene in Trauerkleidung am Schreibtisch sitzende Dame wirklich unsere frühere Adelheid? So zart und schlank ist die Gestalt geworden, so blaß und eingefallen die runden Wangen – so wunderbar groß die schönen blauen Augen, daß wir das frühere rosige, lebensfrische Geschöpf kaum wieder erkennen. In den Augen liegt ein ernster, gedankenvoller Ausdruck, und die tiefen blauen Ringe unter denselben Augen zeugen von Weh und Leid. Werfen wir über ihre Schulter hinweg einen Blick auf das vor ihr liegende Papier.

Sie schreibt:

New-York, – August 1875.

Meine inniggeliebte Hannah!

»Mit Recht beklagst Du Dich in Deinem letzten Briefe, daß meine Nachrichten über uns immer spärlicher werden. Aber die Postkarte, die Dir die Mitteilung von der Erkrankung meines kleinen Bernhard gebracht, wird mein letztes, langes Schweigen wohl bei Dir entschuldigt haben. Inzwischen habt Ihr nun wohl auch die zweite Postkarte erhalten, die Euch mitteilte, daß mein Herzblatt entschlummert ist zu einem besseren Leben.

Wie ich das nur so ruhig schreiben kann! Hannah! Hannah! Könnte ich nur so eben, auf einige Augenblicke nur, mein müdes Haupt an Deine treue Brust legen! Weißt Du, Hannah, wie es einem zu Mute ist, wenn Glück und Sonnenschein für immer aus dem Leben verschwunden sind? – Doch vergieb! Rechne nicht mit mir, ich weiß nicht, was ich sage.

Nein, nein, ich bin nicht mehr ganz das thörichte Wesen von einst, das alles Glück nur in der Kreatur sucht. Ich kenne ein Herz, das stets offen ist für das meine, das Verständnis hat und Trost für meinen namenlosen Schmerz, ein Herz, an das ich mich flüchten lernte, als meine Kraft zu erlahmen drohte, und zu dem ich schrie: »Verlaß mich nicht! Verlaß mich nicht!« O, Hannah, wie oft hatte ich früher gebetet – aber nie so – nie so! Und zum ersten Male erfuhr ich, was es heißt und bedeutet, wenn Jesus zu der Seele spricht, Worte, so voll Trostes, so voll köstlicher Verheißung. Auf einmal konnte ich meinen kleinen Liebling Ihm übergeben, mein Wille, ihn für mich zu behalten, hörte auf – ich lag zu Jesu Füßen, wie ein gebrochenes Rohr. Es war mir, als fühle ich leibhaftig die Hand, die mich aufrichtete und die zu mir sprach: »Fürchte dich nicht; Ich bin bei dir. Ich helfe dir auch.« An jenem Abend konnte ich zum ersten Male Bernhardts Wunsch erfüllen und ihm das Lied singen, das er so gerne betete:

»Nimm' Jesu, meine Hände und führe mich
Bis an mein selig Ende und ewiglich.
Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt,
Wo Du wirst geh'n und stehen, da nimm mich mit.«

Wie dankbar er mich anschaute! Wie seine kleinen Arme mich an sich zogen und er mich mit der erlöschenden Kraft an seine Brust zu drücken suchte.« – –

»Ich mußte aufhören, geliebte Schwester, als ich gestern an Dich schrieb. Meine Gefühle überwältigten mich, und ich ließ mich hinausfahren auf den Kirchhof – das Heimweh war zu stark.

Heute vor zwei Monaten stand er noch hier neben mir, lachend und plaudernd, und nun ist der süße Mund auf immer verstummt. Er klagte schon am andern Morgen über Müdigkeit, Kopf- und Halsweh, und er schlief an meiner Brust gebettet ein. Als ich ihn dann behutsam entkleidete, da ahnte ich wenig, daß er jene kleinen, von mir selbst verfertigten Sachen niemals wieder anlegen würde.

Vierzehn Tage lang rang mein Liebling mit dem Tode – dann trat anscheinende Besserung ein. Aber der Arzt entriß mich bald der Täuschung, der ich mich hingab. Das furchtbare Gift der Diphteritis war zu sehr in das ganze System übergegangen, und die Kräfte wollten trotz aller Pflege nicht wiederkehren. Er spielte dann und wann mit den Sachen, die Bernhard ihm brachte; aber das Liebste war ihm, wenn ich ihm Geschichten erzählte von Jesu und den Engeln und ihm Lieder sang. Wie ich dazu die Kraft erhielt, habe ich Dir schon gesagt. Noch während der letzten Stunde mußte ich ihm die Bilder aus dem biblischen Geschichtenbuche zeigen; dann aber schob er dasselbe plötzlich bei Seite mit den Worten: »Fertig, Mama – bitte – singen.«

Seine kleinen Hände in den meinigen, sein lockiges Haupt an meiner Brust, sang ich ihm:

»Jesus, Heiland meiner Seele,
Laß an deine Brust mich flieh'n.«

Auf einmal fühlte ich, wie die Händchen sich lösten, der kleine Kopf erschlaffte – mein Liebling hatte ausgelitten.«

Wir wollen den Brief, der reich an Spuren vergossener Thränen war, nicht weiter verfolgen. Als Hannah ihn der leidenden Mutter vorgelesen, da sagte sie: »Und wieder kein Wort von ihrem Manne, nichts davon, wie er den Schlag ertragen – nichts, in welcher Weise er sein Weib stützt in dieser schweren Zeit. Aber laß uns Gott danken, daß sie den einen Grund gefunden, der unsern Anker ewig hält.«

Hätten beide, Mutter und Schwester, die Schreiberin der Zeilen sehen können, ihr Herz würde ihnen gebrochen sein vor Jammer und Weh.

* * *

Bernhard Heinken hatte nicht zuviel gesagt, als er seiner Braut versicherte, er habe in New-York ein einträgliches Geschäft und habe für sie ein hübsches Heim gegründet.

Die erste Zeit ihrer Ehe verlief auch verhältnismäßig glücklich. Bernhard war darauf bedacht, seinem jungen hübschen Weibe die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen; kleinere und größere Ausflüge wurden gemacht, Konzerte und Theater besucht und wenn auch die junge Frau das Letztere nicht liebte, so glaubte sie doch, im Anfange den Wünschen ihres Mannes nachgeben zu müssen. Man empfing und besuchte kleine Gesellschaften, und es schmeichelte dem jungen Mann, sein hübsches, liebenswürdiges Weib geachtet und bewundert zu sehen. Aber allmälig machte sich doch bei der jungen Frau eine Uebersättigung geltend, und sie fing an, sich nach ernsterer Kost zu sehnen. Und je mehr Schwierigkeiten sie hatte, dieselbe zu erlangen, desto mehr wuchs der Hunger und der Durst darnach. Sie bat ihren Mann um seine Begleitung in die Gottesdienste, und stellte es ihm vor, wie schön es sein würde, nur einmal täglich, wie sie es gewohnt gewesen, gemeinschaftlich einen Haussegen zusammen zu lesen. Der junge Ehemann aber lachte und hielt das für Schrullen, die wieder verfliegen würden. Als er aber sah, daß es seiner jungen Frau ernst mit ihren Wünschen war, da wurde er unwillig und Adelheid merkte gar bald, daß sie nach dieser Richtung nichts würde erlangen können, wenn sie den Hausfrieden bewahren wollte.

Als ihr im zweiten Jahre ihrer Ehe ein Söhnchen geboren wurde, da schien allerdings für eine Zeitlang die Leere des Herzens ausgefüllt, und die tausenderlei Arbeiten für den kleinen Erdenbürger nahmen die Zeit und die Gedanken der jungen Mutter hinreichend in Anspruch. Auch das Verhältnis zwischen den beiden Ehegatten schien sich in der gemeinsamen Freude wieder inniger zu gestalten, obwohl die junge Mutter mit geheimem Kummer bemerkte, daß ihr Mann oft erst gegen Morgen von seinen Ausgängen zurückkehrte und dann den Tag über launisch oder im höchsten Grade aufgeregt war.

Und leider sollte das eine von Gott gesandte Band, anstatt dauernd zu vereinen, bald nur desto deutlicher zeigen, wie tief die Kluft war, die Mann und Weib innerlich von einander schied. Schon den Taufakt des kleinen Erdenbürgers hatte Adelheid mit viel Bitten und Thränen erzwingen müssen, und bald sah sie ein, daß sie nur heimlich mit dem Kinde beten und singen durfte, wenn sie ihren Mann nicht zum Jähzorn reizen wollte, der leider immer öfter zum Ausbruch kam. Ach wohl verlangte oft ihre Seele nach Gott und göttlichem Troste; aber sie hatte ja keinen Umgang, der ihr auf den rechten Weg geholfen und der es versucht hätte, sie zu den frischen Wasserbrunnen und auf grüne Auen zu führen. Was war aus ihrer freudigen Zuversicht geworden, daß sie es gewiß verstehen müsse, ihren Mann für ihre Ansichten zu gewinnen und ihn glücklich zu machen? Furchtsam und scheu wurde sie allmälig, so daß nur das bloße Nahen ihres Mannes sie mit Schrecken, anstatt mit Freude und Glück erfüllte.

Da kam dann die Krankheit und der Tod ihres geliebten Kindes, und in diesem Schmelztiegel der Trübsal hatte sie ihr Herz prüfen und einsehen gelernt, wie unendlich sie ihre eigene Kraft überschätzt hatte und was für einen Irrtum sie begangen, als sie geglaubt, daß der Einfluß ihres Wesens, ihres schwachen Glaubens einen Charakter, wie den ihres Mannes beeinflussen könne. O, wie wurde ihr nun plötzlich der Sinn jenes Textes verständlich, den ihr damals der Onkel Mertens als Warnung zugerufen: »Denn was hat die Gerechtigkeit für Genieß mit der Ungerechtigkeit? Was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis?« Zu spät. Der Irrtum war gemacht und sie hatte ihn zu büßen. Aber hatte ihn nicht auch ihr Kind, das kleine unschuldige Wesen mitzutragen? War es nicht auch ihre Schuld, daß sein Geist, seine Seele keine harmonische, von Mutter und Vater zugleich ausgeführte Pflege haben würde? Und nun noch diese schreckliche Krankheit ihres Lieblings, dieses furchtbare Ringen mit dem Tode, und dann der wilde, ungeheiligte Schmerz des Vaters, der anstatt sein Weib zu stützen und zu trösten, selbst gänzlich den Halt verlor und im Taumel der Vergnügungen dieser Welt die innere Qual zu übertäuben suchte. Das war ein Trübsalswasser, das der armen jungen Mutter bis an die Kehle ging, das sie hintrieb zu dem Felsen Jesus Christus. Da legten sich auch bei ihr die Wogen des wilden Schmerzes, und sie empfand zum erstenmale den wahren Seelenfrieden, der da höher ist als alle Vernunft.

Nachdem ihr Kind zur Ruhe gebettet worden war, da war freilich ihr äußerer Lebensweg einsamer, als je zuvor. Ihr Liebling fort, kein fröhliches Lachen, kein unschuldiges Geplauder mehr, ihr Mann selten daheim und dann unstät, oft scheu in seinem Wesen; – aber ihr inneres Leben war erwacht und entfaltete sich täglich köstlicher unter dem Einflusse himmlischen Lichtes und göttlicher Liebe.

*

V.
Im Elend.

Wieder sind einige Jahre vergangen. Im Vorderzimmer eines kleinen Häuschens, das in einem obskuren Stadtteile New-Yorks gelegen, sitzt am Fenster im Lehnstuhle eine Kranke und läßt langsam, aber unablässig die Stricknadeln durch ihre abgezehrten Finger gleiten.

Was würde die einst so blühende lebensfrische Adelheid Harmshen gesagt haben, wenn Jemand ihr prophezeit hätte, daß sie noch einmal ihr Leben mit den Almosen fremder Leute fristen müsse? Und doch, wollte und könnte man das einst so anziehende Geschöpf mit den rosigen Wangen und dem sprudelnden Lebensmut vergleichen mit der bleichen Dulderin dort am Fenster – die Krone würde wohl der Letzteren gehören. Ein Ausdruck des Friedens und der Ergebung lag auf diesen marmorblassen Zügen, wie ein Künstler ihn wohl gerne festgehalten haben würde, um ihn für eine Märtyrerin auf ihrem letzten Gange zu verwerten.

»Denn die Leiden dieser Zeit sind nicht wert der Herrlichkeit, die an uns soll geoffenbaret werden.« Wohl uns allen, wohl jenem jungen Weibe, daß es in der heiligen Schrift diese Worte giebt. Sie hatte wahrlich genug gelitten und genug gebüßt.

Als wir zum letzten Male ihr begegneten, da ahnte sie noch nicht, daß von dem verhältnismäßigen Luxus, der sie umgab, ihr nichts, nicht ein einziges Stück gehöre. Sie wußte noch nicht, daß der Compagnon ihres Mannes seinen Anteil aus dem Geschäft herausgezogen, weil er mit einem notorischen Spieler und Wüstling keine längere Gemeinschaft haben wollte; sie wußte auch nicht, daß ihres Mannes Anteil, nach dieser Trennung, nicht einmal groß genug war, um seine Gläubiger zu befriedigen, und daß er längst jedes Stück seiner hübschen Einrichtung verpfändet hatte.

Aber es konnte ihr dieser Umschwung der Verhältnisse ja nicht lange verborgen bleiben, und der fast gefühllos gewordene Mann mußte doch staunen, wie seine Frau den Umzug in ein paar einfach möblierte, gemietete Zimmer ertrug. Was bedeutete ihr dieser Verlust im Vergleich zum Verluste ihres geliebten Kindes! Und auf der andern Seite hatte sie ja gelernt, zu wem sie sich flüchten konnte in aller Not und Trübsal. Wenn allein – und ach – wann wäre sie einmal nicht allein gewesen – dann sang sie gerne mit ihrer süßen Stimme jenes einfache Lied, das sie zuletzt mit ihrem kleinen Bernhard gesungen: »Jesus, Heiland meiner Seele, laß an Deine Brust mich flieh'n.«

Sie sah die Wasser näher rauschen, die Wasser der Trübsal, sah die Wetter höher zieh'n, und sie war entschlossen, dagegen zu kämpfen, so lange sie vermochte. Sie überwand ihre Schüchternheit, und die Liebe zu ihrem Mann gab ihr Kraft, ernst mit ihm zu reden, ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen, in der er schwebte und ihn dringend zur Einkehr und zur Umkehr zu ermahnen. Aber sie hätte fast ebenso gut zu einem Felsen reden können, daß er Wasser geben solle – alle ihre Worte prallten ab an einem in der Sünde verstockten Herzen. Sie bot ihm ihre Hilfe an im Erwerb; aber er verlachte sie. Sie arbeitete dennoch, was sie vermochte und wo sie Gelegenheit fand, und es war gut, denn öfter und öfter geschah es, daß er ihr kein Geld für die nötigen Lebensmittel zu geben vermochte, oder daß man sich an sie um den Mietzins wandte. Zu wiederholten Malen mußte sie ihr Quartier wechseln, billiger und billiger wohnen, bis sie endlich dieses jetzige Stübchen von einer Witwe gemietet. Und es war der HErr gewesen, der sie dorthin geführt; daran zweifelte Adelheid keinen Augenblick. Diese Witwe war für sie die echte Witwe von Sarepta geworden; ihr verdankte sie es, daß sie noch lebte, noch nicht untergegangen war in dem Elend des Lebens.

Zwei Monate hatte sie das Stübchen inne gehabt, da schenkte ihr Gott noch einmal ein Kind, ein kleines, schwaches Mädchen; dennoch nannte sie es Theodora, Gottesgabe. Aber sie wartete vergebens von Stunde zu Stunde, daß der Vater heimkehren werde und sie ihm sein kleines Mädchen in die Arme legen dürfe. Sie hatte schon vorher so viel gehofft und hoffte noch so viel von diesem Augenblick. Der Trübsalskelch war für sie noch nicht voll genug; – dieser Moment sollte niemals kommen. Aber sie erfuhr etwas, das sie, als sie sich kaum erholt, wieder auf das Krankenbett warf, daß man nämlich ihren Mann bei'm falschen Spiel ertappt habe, und daß er sich durch die Flucht der Gefangennahme entzogen. Bange Wochen und Monate durchlebte sie, immer hoffend auf Nachricht, auf ein einziges Wort der Liebe und der Reue. Für sie kam keines mehr. Erst etliche Jahre später erzählte ein aus Amerika zurückgekehrter Jugendfreund Heinkens, daß er mit diesem im Westen Amerikas zusammengetroffen sei, wo er als Arbeiter auf einer neu angelegten Bahnlinie gearbeitet. Kurze Zeit darauf traf aus einem Hospital in L... ein an Hannah Harmshen gerichtetes Schreiben ein, welches meldete, daß der Arbeiter Bernhard Heinken dort an einem Schädelbruch, den er in einer Schlägerei erhalten, gestorben sei. Die Nachricht vom Tode seiner Frau habe er durch Zufall erhalten und vor seinem Ende den Wunsch ausgedrückt, man möge an die bezeichnete Adresse die Nachricht seines Todes senden.

Und kehren wir nun zu der verlassenen Frau zurück. Sie war eins jener vielen Beispiele, die da beweisen, wie viel ein Menschenherz zu tragen vermag, ehe es bricht. Aber der treue Gott bewies auch an ihr die Wahrheit Seiner Worte, daß ER Niemanden mehr auferlegen will, als er zu tragen vermag. Als Adelheid sich langsam zu erholen begann, da war ihr ihr kleines Mädchen der Trost und die Wonne ihres Daseins. Wohl drängte sich ihr nun die bange Frage auf: »Womit soll ich mich und mein Kind erhalten? Wie soll ich die gütige Frau bezahlen, die so lange mich und mein Kind versorgt und gepflegt?« Aber auch da hatte Mrs. Young, eine geborene Irländerin, schon Rat geschafft. Sie war schon viele Jahre lang Mitglied einer zwar armen, aber wirklich lebendigen, kleinen Gemeinde, und es war ihr gelungen, bei den Gliedern derselben ein lebhaftes Interesse für die arme, verlassene, junge Frau zu erwecken. Man brachte ihr von allen Seiten stärkende Lebensmittel, versah die kleine Theodora mit Kleidern, und Mr. Crane, der Prediger der Gemeinde, machte der langsam Genesenden manchen Besuch und brach ihr reichlich das Brod des Lebens. Er war ein alter Mann, der schon viele Erfahrungen gemacht, und so verstand er es vortrefflich, die Gebeugten aufzurichten und den Verzagten neuen Mut einzuflößen. Auch heute war er bei Frau Heinken gewesen, und seine Unterredung mit ihr mußte wohl tröstlicher Art gewesen sein; denn es lag auf ihrem Antlitz ein so tiefer Frieden ausgeprägt, daß Mrs. Young, die jetzt in's Zimmer trat, unwillkürlich in die Worte ausbrach: » Dear soul, dear, dear Mrs. Heinken!« »(Liebe Seele, liebe, liebe Frau Heinken!)« Die also Angeredete aber ließ jetzt die Stricknadeln sinken und drückte mit einem Freudenruf ihre kleine Theodora an's Herz, die ihr aufjauchzend beide Aermchen entgegenstreckte. Noch immer war das halbjährige Kind klein und zart; aber es blühten doch Rosen der Gesundheit auf seinen Wangen, und es war beinahe, als ob dieselben einen Wiederschein aus dem blaßen Antlitz der jungen Mutter hervorriefen. Mit inniger Genugthuung betrachtete die gutmütige Irländerin dieses Bild reinsten Mutterglücks; aber sie wischte sich doch verstohlen eine Thräne aus dem Auge, als sie daran dachte, wie bald das liebliche kleine Geschöpf, das jetzt den blonden Kopf an die Brust der Mutter schmiegte, vater- und mutterlos dastehen würde. »Die Luft der Heimat kann zwar vielleicht noch Wunder thun,« hatte der Arzt gemeint, und die gute Frau Young hatte dann nichts Eiligeres zu thun gewußt, als diesen ärztlichen Ausspruch direkt in die Heimat der jungen Frau zu befördern. Jetzt konnte sie nur nicht begreifen, warum noch immer keine Antwort angekommen war.

Als die Kleine eingeschlafen war, wollte Mrs. Young sie behutsam der Mutter vom Schoße nehmen; aber diese bat, ihr die süße Last noch ein wenig zu lassen, da sie sich heute doch viel kräftiger fühle. Da hörte man unten einen Wagen vorfahren, und gleich darauf wurde an die Hausthüre geklopft. Mrs. Young mußte der Mutter den Willen lassen und hinuntereilen; um aber schon nach kurzer Zeit wieder zurückzukehren.

»Liebe Frau Heinken,« sagte sie in ihrer Muttersprache, »sind Sie wohl genug, um heute noch Besuch zu empfangen? Eine Dame wünscht Sie zu sprechen.«

»Wer ist es, Mrs. Young? Eine meiner Wohlthäterinnen? Bitte, lassen Sie die Dame nicht warten. Sie wissen doch, daß ich keinen Anspruch darauf machen darf, mir meine Besuche erst anmelden zu lassen.«

»Aber die Dame meint, es könne Sie erschrecken, wenn sie unvorbereitet eintreten würde.«

»Erschrecken?! Wer kann es sein? Bitte, Mrs. Young, sprechen Sie! Ist es Gutes oder Schlimmes, was ich zu erwarten habe?«

Bei den letzten Worten hatte sich Adelheid erhoben und unwillkürlich das schlafende Kind selbst in Mrs. Youngs Arme gelegt. Da öffnete sich leise die nur angelehnte Thüre und eine schlanke Frauengestalt wurde sichtbar.

Einen Moment der Stille und des gegenseitigen Anschauens; dann rang es sich: »Hannah, Hannah!« von den Lippen der jungen Frau und sie sank halb bewußtlos in die Arme der älteren Schwester. Wie ein Kind legte dieselbe die leichte Last auf ein Ruhebett, indem sie einmal um's andere, unter immer neu wieder hervorbrechenden Thränen, die Worte wiederholte: »Adelheid, meine arme, kleine Adelheid!«

Die Freude tötet selten. Bald hatte sich die Ohnmächtige wieder erholt, und nun feierten die beiden lange getrennten Schwestern ein Wiedersehen, wie es richtig zu schildern unsere Feder viel zu schwach ist.

*

VI.
Daheim.

An den Ausgangspunkt unserer Erzählung führt uns auch das Ende derselben zurück. Wieder sitzt »Adelheid« in demselben Blumengärtchen, in dem wir ihr zuerst begegneten. Damals spann sie Zukunftsträume für dieses Erdenleben, heute ist sie erfüllt von Gedanken für die Ewigkeit. Was dazwischen liegt, zwischen damals und heute, könnte ihr fast erscheinen, wie ein langer, schwerer Traum, wenn nicht ihr körperlicher Zustand ihr sagte, daß sie wirklich alles erlebt, daß nicht ein blasser Traum es war, der ihre Gesundheit untergraben und jene tückische Krankheit in ihr gereift, an der auch ihr Vater gestorben. Und dann, das kleine, elfenartige Mädchen, das ihr zur Seite mit der Puppe spielt, die einst der Mutter gehört, ist auch ein Beweis der Wirklichkeit des Durchlebten. Schwer, sehr schwer war es ihr geworden, damals der Schwester wieder in die Heimat zu folgen. Der Abschied von dem kleinen Grabe ihres Erstgeborenen, das Sichlosreißen von der Hoffnung einer Wiedervereinigung mit ihrem Manne, und das Ueberwinden der Scheu, als kranke, verlassene Frau zu denen zurück zu kehren, die sie einst vor der Verbindung mit Bernhard Heinken gewarnt, – das Alles mußte erst überwunden und bei Seite gelegt werden.

Aber sie nahm auch dieses letzte Kreuz geduldig auf ihre Schultern und beugte sich still unter den Willen des HErrn. Und sie war fortan nicht mehr allein, nicht mehr verlassen. Die Liebe und Sorge der Schwester umgab sie täglich, stündlich, und las die Wünsche ihr aus den Augen. Die Seereise übte eine belebende Wirkung aus auf ihren geschwächten Körper, und eine Zeitlang gab die alte Mutter und die Schwester sich der Hoffnung hin, daß das geliebte Leben ihnen möge erhalten bleiben; aber die Krankheit hatte wohl nur scheinbar eine Zeitlang stille gestanden, um dann desto raschere Fortschritte zu machen. Als Onkel Mertens seinen Liebling zum ersten Male wiedersah, kam kein Wort der Anspielung auf das Vergangene über seine Lippen und als er nach einer längeren Unterredung mit ihr von ihr ging, da nahm er die Ueberzeugung mit hinweg, daß Adelheid ihnen allen voran gereift sei, daß sie wohl schwer den Irrtum ihres Lebens gebüßt, aber gerade in dieser Buße auch reich gesegnet worden war. »Sie steht«, sagte er beim Scheiden zu der weinenden Mutter, »an den Pforten der Ewigkeit, und sie freut sich, bis diese sich ihr aufthun werden. Stört ihr ihre Freude nicht durch euern Schmerz. Ich habe ihr gesagt, daß ich Theodora anstatt ihrer zu meiner Erbin eingesetzt, und habe damit die letzte irdische Sorge von ihr genommen.«

In der That, Adelheid hatte mit dem Leben abgeschlossen, und doch genoß sie, was ihr davon noch geblieben, jeden Tag mit einer rührenden Freude und Dankbarkeit. Dem Arzt war es oft ein Rätsel, daß die schwache Lampe noch immer fortglomm, und doch gab ihr wohl die völlige Ruhe des Gemütes, die Freude, die ihr Herz erfüllte im Gedanken an die ewige Heimat und die Wiedervereinigung mit ihrem kleinen Bernhard, die Kraft, die immer noch das Leben erhielt, so oft es auch am Verlöschen schien. »Wenn die Rosen wieder blühen, werde ich heimgehen,« pflegte sie manchmal zu sagen, und der Arzt lächelte dazu. Hätte er seine Meinung äußern dürfen, so würde er gesagt haben: »Wenn die Rosen blühen, wird sie längst auf dem Friedhof schlummern.

Und nun blühten die Rosen schon seit Wochen in voller Pracht; jeden Tag waren sie auf's Neue das Entzücken der Kranken, und mit Wohlbehagen schlürfte sie, im Krankenstuhle liegend oder sitzend, den süßen Duft. Keine merkliche Abnahme der Kräfte machte sich geltend; nicht mehr als gewöhnlich schien sie zu leiden.

Von ihrem Manne sprach sie selten mehr, wie überhaupt von der Vergangenheit, – ihre Gedanken schienen sich völlig auf die ihr bevorstehende Erlösung nach Leib und Seele zu konzentrieren.

Wie fast alle Tage im Juli, klar und warm, war auch der siebenzehnte angebrochen, und wie gewöhnlich hatte sich Adelheid schon in der Frühe hinaustragen lassen. Nach den schlaflosen Stunden der Nacht übte die frische Morgenluft immer eine belebende Wirkung auf sie aus, und die liebste Unterhaltung war es ihr, dem anmutigen Geplauder ihres Töchterchens zu lauschen. So verging auch heute Stunde auf Stunde, ganz wie sonst, und mit demselben dankbaren Lächeln nahm die Kranke die kleinen Hilfeleistungen und Aufmerksamkeiten von Mutter und Schwester entgegen.

»Soll ich Dich jetzt hineintragen, Adelheid? Die Sonne rüstet sich schon zur Neige.« Mit diesen Worten trat Hannah in die kleine grüne Laube, in der die Schwester ruhte, nachdem sie soeben verschiedene Lieblingslieder derselben gespielt und mit ihrer schönen Altstimme begleitet hatte.

»Noch nicht, Hannah,« und das Antlitz, das sich der Schwester zuwandte, zeigte Spuren von Thränen. »Mir ist bei Deinem Gesang so besonders wohl geworden, und es war mir fast, als hörte ich neben deiner Stimme auch die meines kleinen Bernhard. Singe mir noch einmal das schöne:

» Rock of ages, cleft for me,
Let me hide myself in thee

(Fels des Heils geöffnet mir,
Birg mich ew'ger Hort in Dir.)

Ich habe mit jenen Worten meinen Kleinen so oft in Schlaf gesungen, und ich bin so müde. Vielleicht finde ich hier draußen Ruhe, wenn Du mir singst.

Hannah kehrte, nachdem sie einen innigen Kuß auf den Mund der Leidenden gedrückt, noch einmal an's Harmonium zurück, bat aber zuvor ihre Mutter, sich doch zu Adelheid zu setzen, da dieselbe ihr etwas verändert erscheine.

Die Mutter fand schon ihr krankes Kind mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen und sie setzte sich leise neben sie. Einmal war es ihr, als ob die Kranke während des Singens aufseufze; aber als sie hinblickte, merkte sie keine Veränderung. Nachdem Hannah das Lied zu Ende gesungen, kehrte sie in die Laube zurück.

»Ob ich sie aufnehmen soll und auf ihr Bett tragen?« fragte sie leise die Mutter. »Sie schläft so gut.« Ja, Adelheid schlief – schlief, um hienieden nicht mehr zu erwachen. Jemand anders hatte schon die Seele aufgenommen, um sie zu lichten Höhen zu tragen. Die noch so junge Erdenpilgerin war nun »Daheim«.


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