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Die Geschichte einer Quelle.

(Von ihr selbst erzählt) von Marie Liebrecht.

Wohin, du rauschendes Bächlein, wohin? –
»Hinunter, hinab die Bahn!
Einst rast' ich, wenn ich müde bin
Im stillen Ocean.« (I. Sturm.)

Auf halber Höhe eines Berges, von herrlichen Waldbäumen umgeben, erblickte ich, zwischen Moos und Steinen hervorbrechend, das Licht der Welt. Wann das gewesen ist, kann ich genau nicht sagen. Das Rechnungswesen habe ich nie gelernt und mit Zahlen, wie überhaupt mit allem, was die Wissenschaften anbelangt, stehe ich auf gespanntem Fuße; jedenfalls ist es schon sehr, sehr lange her. Diese Erkenntnis ergibt sich für mich daraus, weil ich fühle, daß ich alt bin und in Freud und Leid mancherlei über mich ergangen ist. Ich will es nun trotz meiner Unwissenheit versuchen, meine Erlebnisse in Worten wieder zu geben, und was ich erzähle, soll der lieben Jugend, welche heutzutage in allen Künsten und Wissenschaften fein gelehrt und gebildet wird, gewidmet sein. Weil ich die Erfahrung vor ihr voraus habe und durch Jahrhunderte gegangen bin, wo sie erst am Anfang ihres Lebens steht, habe ich mich unterfangen, ein solches Wagnis aufzunehmen.

Ja, der Wald, meine Geburtsstätte! Nimmer vergesse ich die Zeit, wo ich sorglos im schattigen Grunde dahinhüpfte, nichts wissend von Arbeit oder Mühe. Welch köstlich frische Luft umwehte mich, welch schöne bunte Blümchen grüßten mich, wenn ich eilig an ihnen vorüberrieselte und sie hereinnickten in mein klares Wasser!

In der Frühe des Morgens hörte ich leises Geflüster der Bäume, welche im Winde rauschten, und Vogelgesang. Eine lustige Schar von Sängern kam an den Rand meines Bettes geflogen: große und kleine, schwarze und gelbe, mit roten Brüstlein, schwarzen Aeuglein und spitzen Schnäbelein. Sie grüßten alle freundlich, verneigten sich gegen mich, badeten und wuschen sich. Zuletzt spritzten sie ihre Federlein aus – es war ein munteres Treiben. »Ihr herzigen Dinger, trinkt doch auch!« mahnte ich sie manchmal. Doch, sie thaten das schon, noch ehe ich sie dazu aufforderte. Dann schwangen sie sich in die Lüfte und sangen ein fröhliches Lied. Auch muntere Kinder kamen, Knäblein und Mägdlein, die pflückten Blumen, welche in meiner Nähe wuchsen, netzten ihre Füße mit meinem Wasser, schwatzten und lachten. Es war eine rechte Lust, ihnen zuzusehen und zuzuhören.

Welch goldener Schimmer am Waldessaum, immer schöner, immer heller? Das war die liebe Sonne, welche bald lachend über Berg und Thal schien und mir meine ganze Umgebung in herrlichem Glanze zeigte. Am Mittag wurde es oft sehr heiß. Da kamen die Sonnenstrahlen über die höchsten Bäume herein und machten sogar mich in meinem Versteck ausfindig. Durchwärmen aber konnten sie mich nicht, auch wenn sie mich trafen und mit mir liebäugelten, denn ich sprudelte ja immer gleich frisch und kalt aus dem Berg hervor. Deshalb kamen auch immer viele Durstige zu mir, Hirsche und Rehe, welche in der Mittagshitze nach einem kühlen Trunke lechzten. Von weitem hörte ich sie oft schreien. Dann kamen sie in Rudeln heran, und wenn sie getrunken hatten, umspielten sie mich oder ruhten im grünen Gras an meiner Seite.

Eines Tages wurde meine friedliche Einsamkeit sehr unliebsam unterbrochen. Ich hörte Hundegebell und Hörnerklang und wie mit einem Schlag waren alle meine Gespielen, die Tiere des Waldes, verschwunden. Dagegen tauchten Menschen auf, wilde Jägersmänner, deren Hunde eilig auf mich zu, ja in meine Wellen hineinstürzten, und mit ihrem bestaubten Fell mein Wässerlein trübten. Wie unwirsch war ich damals, in meiner ersten Jugend stehend, über diese kleine Schädigung. Ich ahnte nicht, wie viel Widerwärtiges einem im Leben begegnen kann.

Die Jäger stellten unterdessen ihre Flinten ab und lagerten sich unter den prächtigen Rotbuchen, welche meinen Ursprung beschatteten. Aber hatten mich vorhin die Hunde, als sie mich berücksichtigten, geärgert, so war ich jetzt nicht weniger ungehalten, darüber zu sehen, daß die stolzen Männer mein Wasser verachteten und lieber Wein tranken, welchen sie in ihren großen Feldflaschen mit sich führten. Auch allerlei Fleischwerk kam aus den Tiefen ihrer Taschen zum Vorschein, welches sie mit vielem Appetit verspeisten. Mich konnte der Anblick nur betrüben; gemahnte er mich doch nur allzusehr an meine Spielkameraden, unschuldige Hirsche, Rehe und Häslein, und ich vermutete nicht unrichtig, daß deren manche in ihrer Harmlosigkeit den Beutemachern zum Opfer gefallen waren.

Unter diesem Menschentroß, welcher von jetzt an häufiger sich bei mir einfand, war, als der Edelste von allen, ein schmucker junger Mann. Er erlangte mein Wohlgefallen vor allem deshalb, weil er allein unter den Vielen mir Beachtung schenkte. Oft während die andern unter Lachen und Scherzen die Zeit verbrachten, wandelte er langsam an meinem Ufer hin, sann und träumte. Mein Murmeln mochte ihm lieber sein, als die Reden seiner Genossen, welche ihm übrigens mit vorzüglicher Hochachtung begegneten. Sein Aeußeres war sehr anziehend. Ein grünes Hütchen, auf dem eine Reiherfeder kühn emporstrebte, saß auf seinen blonden Locken; sein Rock war vom feinsten Tuch und das Hüfthorn an seiner Seite, sowie ein Becherlein, aus welchem er gerne mein Wasser kostete, von Silber. Es war mir lieb, daß ich ihn bald öfter sah und er auch allein, ohne die wilden Gesellen, die Jäger, zu mir kam. Dafür brachte er eines Tages eine feine, liebliche Jungfrau mit, welche, wie ich später erfuhr, ihm sehr lieb und wert war. Mir war zunächst nur so viel klar, daß dieser gemeinsame Besuch mir galt. Lange saßen die beiden Hand in Hand dicht bei mir und hatten einander vieles zu erzählen, was ich aber nicht verstand, weil sie nur flüsternd redeten. Als dann mein junger Freund sein Becherlein füllte und es dem Mädchen hinreichte, sagte er laut und fröhlich: »Glück auf! In diesem Thale wird unsre Heimat sein! Die Quelle soll dich dann im Schloßhofe grüßen!« –

Verwundert schaute ich den beiden nach, als sie wieder davon gingen. Von mir hatten sie gesprochen! – das wollte mich ganz stolz machen, obwohl ich nicht näher wußte, was mit den Worten gemeint war. Ich dummes, unerfahrenes Ding! Hätte ich auch nur ahnen können, was man mit mir im Sinn habe, ich würde schon von heute an keinen einzigen frohen Tag mehr gehabt haben.

Bald sah ich zu meiner Verwunderung am Fuß des Berges, an welchem meine Wasser seitwärts hinabflossen, um über Wiesen und Felder zu dem Flusse zu gelangen, der sie aufnahm, ein Bauwerk sich erheben. Stolze Zinnen ragten in die Höhe, blanke, in Blei gefaßte Fensterscheiben glänzten im Sonnenlicht. Und vielerlei Gutes und Schönes sah ich herzuführen und in dem hübschen Schlößchen, das auch schon vollendet war, unterbringen. Es war ein rühriges Treiben in dem stillen Thale damals, und mancher Hammerschlag tönte zu mir heraus.

Doch wehe! Jetzt kamen sie auch zu mir, Leute, welche Brech- und Grabwerkzeuge mit sich führten – eine unheimliche Schar. Binnen weniger Stunden gruben sie mir mit ihren gewandten Händen ein anderes Bett; das alte wurde zugeschüttet und ich mußte mich wohl oder übel dazu hergeben, meinen Lauf, welcher bisher so fröhlich und ungebunden gewesen war, zu verändern. Kein Mensch sagte mir, wozu das dienen sollte, und ich selber mit meinem kurzen Verstande begriff es nicht. Aengstlich floß ich dahin in unbekannten Bahnen. Als ich aber an einem Felsen anlangte, unter welchem eine unendliche Tiefe gähnte, konnte ich nicht anders, ich stürzte kopfüber hinab, daß ich vor Zorn schäumend aufschlug und dann hastig weiterrieselte.

Doch mit meiner Freiheit war es ein für allemal zu Ende. »Hieher die hölzernen Deichel«, hörte ich wieder jene Leute rufen; und wenn, was bisher an mir geschah, mir nicht recht war, so konnte ich jetzt lernen, mich zu üben in Folgsamkeit und gelassenem Sinn. Bald war das beabsichtigte Werk geschehen, und was erwartete mich nun? Alle meine edlen Tröpflein, welche sich nach dem Sturz wieder gesammelt hatten, wurden, so viel ihrer waren, in den engen Raum der Deichel gezwängt, wo sie unter der Erde fortflossen in Nacht und Dunkelheit. »Ade, Wiese und Waldesschatten, Windesrauschen und Sonnenlicht!« so rief ich voll Wehmut. »Ade, ihr Vöglein und alle Tiere des Waldes – mit mir kommt es gewiß zu einem schlimmen Ende!«

Eine Zeit lang ging es so weiter. Als ich wieder ruhiger war und mich in mein Schicksal ergeben hatte, kam es doch besser, als ich dachte. Es fiel ein matter Schimmer in meine Dunkelheit, der sich mehr und mehr verstärkte, und ich stieg empor, von unsichtbarer Macht getrieben, bis mich das Sonnenlicht wieder grüßte. Was sah ich? Dicht beim Schlößchen, welches von Gärten umgeben auf einem kleinen Hügel stand, war mir eine Stätte bereitet, wo ich aus einer eisernen Röhre hervorsprudelte und in einem weiten Becken mich ausbreiten konnte. Vor mir stand die Herrin des Schlosses. Sie füllte das mir wohlbekannte silberne Becherlein und reichte es lächelnd ihrem Gemahl; beide sahen sehr glücklich aus. Mich tröstete es nach ausgestandenem Leid, daß ich doch wieder bekannte Gesichter sah, und zu meiner noch größeren Freude erblickte ich auch meinen lieben Genossen, den Wald, welcher aus geringer Entfernung freundlich auf mich niederblickte. Und: »Kuckuck, Kuckuck!« tönte es plötzlich zu mir herab, als wollte der versteckte Schelm mich grüßen und auch gleich Grüße von allen Vögeln bestellen und auf diese Weise etwas zu meiner Erheiterung beitragen. »O ihr guten Freunde,« rief ich unter Thränen: »seid ihr auch wieder da? Nun bin ich's zufrieden und will nicht mehr klagen, sondern den Menschen nützlich werden, denn das ist ja meine Bestimmung!« –

Ich glaube, das Rad der Zeit läuft sehr schnell; eine Reihe von Jahren vergingen. Wie kurz muß das Leben der Menschen sein! Ich habe in meiner Umgebung Glück und Freude die Fülle gesehen, und mein lieber Herr und seine Gattin, welchen ich mit meinen besten Kräften diente, wurden darüber alt und grau. Ihre Kinder, denen es, als sie groß waren, in dem stillen Thale nicht mehr gefiel, zogen in die Welt hinaus und als sie nicht wieder kamen, hat ihre Mutter manche Thräne um sie geweint. Zuletzt sind die beiden Herzen, welche einst so warm schlugen, stille gestanden. Was soll ich noch hier an verödeter Stelle, dachte ich manchmal, als meine liebe Herrschaft begraben war, und beinahe wäre ich lebensüberdrüssig geworden ob mancherlei Schwerem, das ich mit erlebt hatte.

Damals wußte ich noch nicht, daß sich in den folgenden Jahren andere an dieser Stelle festsetzten, und daß ich bald Gelegenheit bekommen werde, mich wieder nützlich zu machen. Während das Schlößchen allmählich zerfiel, bauten die Leute Häuser und richteten sich ein, und als es ihrer immer mehrere wurden, gab es zuletzt eine ganze Stadt. Wie freute ich mich, als in der Mitte des Marktplatzes ein Brunnen aufgerichtet wurde, wo mein Wasser, das wieder unterirdisch dahingelenkt wurde, in siebenfachem Strahl aus zierlichen Röhren sprang! Ein Festtag war's für alt und jung und zumal für mich selber, als das schöne Gehäuse mit dem weiten Steinbecken und dem spitzen gehauenen Türmchen, welches über meinem Haupte thronte, fertig war und ich nun von allen Seiten bewundert und belobt wurde.

Damals trat ich in ernste Ausgaben ein, wie sie nur einem reifen Manne anvertraut werden können. Ich hatte sehr viel Arbeit. Tag für Tag, Stunde für Stunde mußte ich Krüge, Kübel, Eimer füllen, welche die Frauen und Mägdlein der Stadt herzubrachten. Daneben fehlte es mir auch an Unterhaltung nicht. Denn, alles was in der Stadt sich ereignete, erfuhr ich zuerst, und nirgends wurde so viel gelacht und geschwatzt, als am Brunnen. Wie konnte ich da die Menschen nach ihren guten und schlimmen Seiten kennen lernen! Bei manchem flüsternden Geheimnis that ich, als hörte ich es nicht; wenn aber die Leute einander ausrichteten und verunglimpften, rauschte ich mächtig dazwischen, um Unheil möglichst zu verhüten.

Ich war mit meiner Lage sehr zufrieden. Wenn am Mittag die Sonnenstrahlen so heiß zwischen den Häusern brannten und ich mitten in der Gluthitze stand, mochte ich meines Amtes am liebsten walten. Denn von der Wiese, meinem Geburts- und Jugendland her, strömte mein Wasser rein und frisch, und manchem Durstigen labte ich die lechzende Kehle, daß er befriedigt davon ging. Daneben empfand ich freilich, daß auch ich in der Mittags- und Sommerszeit meines Lebens stand, und daß es galt, seine Pflicht treulich auszurichten.

Lange, lange Zeit ist es so fortgegangen – es mögen Jahrhunderte gewesen sein. Das Städtchen vergrößerte sich immerzu, wurde volks- und gewerbereich. Die Menschen, welche unter meinen Augen aufwuchsen, wurden alt und lebenssatt, und wenn sie starben, so traten andere an ihre Stelle. Auch mich in meinem Brunnengehäuse wollte manchmal etwas überkommen, als habe ich bald genug gethan. War es eine Ahnung dessen, was bald über mich kommen sollte? Hört noch zum Schlusse von einer weiteren Wendung in meinem Leben, welche schmerzlich und folgereich zugleich, mich in eine Art von Ruhestand versetzte, wie ich es mir damals nicht wünschte.

Oft schon hatte ich die weisen Herren der Stadt auf das Rathaus gehen sehen, dessen breite Front mir zugekehrt war. Eines Tages nun gingen sie besonders ernst und bedächtig, und jeder hatte im Vorübergehen einen Blick für mich. Was soll das bedeuten? dachte ich. Es wollte mir fast vorkommen, als ob ich den Herren Mitleid erweckte, welchem sie in ihren Mienen Ausdruck gaben. Doch ich konnte daraus allein nicht klug werden, und ein erklärendes Wort vernahm ich auch nicht. Als die folgenden Tage verflossen, ohne daß sich etwas besonderes zutrug, so hatte ich auch bald wieder vergessen, was mir damals Gedanken machte.

Da – an den ersten schönen Frühlingstagen, welche den Menschen und mir nach einem langen Winter gleich wohl thaten, gab es in meiner Umgebung eine ungemeine Bewegung. In den sieben Straßen, welche wie die Strahlen eines Sternes vom Marktplatz ausgingen, und deren Kern und Mittelpunkt ich bildete, wurden tiefe Gräben gezogen. Tagelang waren die Leute beschäftigt, mit Hacken und Schaufeln die Erde aufzuwühlen. Als die Gräben der Länge nach gezogen waren, wurden noch andere quer gegen die Häuser gemacht; und zuletzt nahm es sich von meinem Standort betrachtet aus, wie liegende Bäume mit Aesten nach allen Seiten. Bald kamen Männer, sachverständige Leute mit blauen Blusen und ernsten, strengen Gesichtern welche in die umgewühlte Erde hinabstiegen und große, eiserne Röhren hineinlegten. Sie prüften und hämmerten, bohrten in die Keller der Häuser, stießen Löcher durch die Wände, oft bis zum obersten Stockwerk hinauf; und längs dieses Weges zogen sie wieder Röhren. Es war ein fast unheimliches Treiben, welchem ich mit steigender Verwunderung und ohne alles Verständnis zusah.

Weil ich schon länger her den Stadtklatsch nicht mehr ertragen konnte, so hatte ich lange nicht zugehört, was in meiner Umgebung gesprochen wurde. Wollte ich aber endlich einmal wissen, was es mit diesen neuesten Ereignissen auf sich habe, so mußte ich mich wohl oder übel aus die Lauer legen. »Freue dich, Liese,« hörte ich eine wohlunterrichtete Stadtbase, deren Gefäß ich eben füllte, zu einem jungen Mädchen sagen. »Bald ist die neue Wasserleitung fertig. Dann brauchst du nimmer zum Brunnen zu laufen und dich mit Kübeln zu schleppen, wenn dir das Wasser in die Küche läuft.« Mich durchschauerte es kalt, kälter als gewöhnlich, bei dieser Rede. »O schade!« erwiderte das Mädchen und warf mir einen wehmütigen Blick zu; »wo soll ich noch plaudern und Gesellschaft finden, wenn's nicht am Brunnen ist? Nein, was mich betrifft, diese Einrichtung könnte ich ganz sicher entbehren!« – »Das ist die neue Zeit, Liese! sieh, das verstehst du nur nicht. Man macht jetzt große Erfindungen in der Welt und damit wird alles bequemer. Dazu, wenn es etwas Gefährliches gibt, so hat man in Feuersnot Wasser zur Hand.

Stumm und still hörte ich dieser Rede zu; ich glaubte jetzt alles zu begreifen. Was? dachte ich, solche Grundveränderungen soll ich noch erleiden! Man will mich durch alle diese Röhren und Röhrlein zwängen und ich soll in meinem Alter den Leuten nachlaufen, anstatt daß sie zu mir kommen, wie es sich gebührt? Ich gestehe, daß ich so unwillig war, wie noch selten in meinem Leben. Allein den wahren Sachverhalt hatte ich damit noch nicht ergründet.

Es war an einem Abend. Die Leute standen noch auf der Straße umher und besprachen die »neue Zeit,« als sich plötzlich in geringer Entfernung von mir, wo die neugefertigten Gräben zusammenliefen, welche jetzt alle zugeworfen waren, die Erde aufthat. Ein dicker Wasserstrahl, der kerzengerade und so hoch wie die umliegenden Häuser in die Höhe ging, schoß hervor und fiel, einen feinen Sprühregen spendend, welchen der letzte Sonnenstrahl vergoldete, wieder plätschernd zur Erde hernieder. Bei diesem Anblick brach ein unendlicher Jubel los. Aus allen Straßen kamen die Leute gerannt, die Fenster öffneten sich, und eine heitere Musik, welche der »Wasserprobe« zu Ehren ihre Weisen ertönen ließ, lockte immer neue Zuschauer heran. Staunend umstand die Menge das Wunderwerk, prüfend und wohlgefällig nickten die Ratsherren, Kinder umschlangen sich und tanzten lustig im Reigen.

Und ich? Wie ein abgedankter Soldat stand ich bei Seite, und obgleich mein Wasser sprudelte und quoll, hatte niemand Zeit, nach mir umzublicken. Nachträglich habe ich's erfahren, daß sie zu ihrem Vornehmen meine Schwester, welche aus höheren Regionen stammt, erwählt und abgefaßt hatten. So sehr mir vor neuer Arbeit gebangt haben würde, so wenig erfreulich ist für mich die Thatsache, daß eine andere meines Geschlechts neben mir aufkommt, die, wie es bei ihrer ausgedehnten Wirksamkeit nicht anders sein kann, mich in den Hintergrund verdrängt.

So schlimm, als ich zuerst befürchtete, ist indessen meine Veränderung nicht ausgefallen. Vielmehr bin ich jetzt mit meinem Lose ausgesöhnt und vollkommen zufrieden. Man ließ mich wider mein Erwarten ruhig aus meinem Posten stehen. Ja, als ehrendes Denkzeichen wurde der Herr Graf, welcher mich einst ins Thal geleitet und damit den ersten Anstoß zur Gründung der Stadt gegeben hatte, in Stein gehauen und über mir aufgerichtet. Vom Türmchen, welches sein Schutzdach bildet, vor Schnee und Regen gesichert, steht er da, der liebe Herr! ich bin noch immer anhänglich an ihn.

Von den Stadtneuigkeiten erfahre ich wenig mehr. Es ist mir das nicht leid; denn im Alter zieht man die Grenzen enger und mag unnützes Gerede nicht mehr hören. Zu hoher Befriedigung aber gereicht es mir, daß ich trotz allen Fortschritten der Zeit für gewisse Leute unentbehrlich bin und zur Minderung menschlicher Not mein Teil beitragen darf. Wo ein Kranker schmachtet, sendet er zu mir; denn daß mein Wasser das frischeste und gesündeste sei, weit und breit, diesen Ruhm hat man mir lassen müssen. Und die Armen, welche kein Geld haben, um sich die neue Einrichtung zu verschaffen und den damit verbundenen Wasserzins zu entrichten, kehren vor wie nach bei mir ein. Ich gebe ja mein Wasser umsonst und will, ohne mein Alter zu achten, im Dienste der Armen und Kranken nicht müde werden, bis alle Bäche und Bächlein auf Erden verrinnen und sammt mir ins Meer der Ewigkeit einmünden.


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