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Die Mutter

Von Alfred Wolfenstein

Über der den besonnten Friedhof kroch der Leichenzug behaart von dicken schwarzstrahlenden Hüten dem Schatten der Gräber zu. Der Sohn der Toten folgte mit raschem Schritt dem Sarge. Wenn sein heftiger regelloser Gang aus den Reihen fiel, zuckte die gesenkte Stirn von der Nähe des Sarges und die Schultern schoben sich gebannt unter das dunkle Holz. Die Träger streckten schnell ihre Arme aus, eine Hand klopfte ihm auf die Schulter und drückte ihn wieder in den Zug, der mit ruhigen Hebungen und Senkungen seiner Glieder über den Sand knirschte.

Das nachnäselnde Harmonium verstummte, die Wege wurden enger. Die Leute nickten und sahen hinab auf steife Marmorschriften, Gitterspitzen, hängende Bäume, niedrige Stadt der Toten. Wären wir allein, dachte er und starrte nach dem kantigen Haupt des Zuges, das auf vier Nacken voranschwankte, sprühend blickte die Sonne aus den vier metallenen Ecken. – Mutter, höllische Krallen scharren an meinem Herzen – Engel pochen warnend von der anderen Seite – sie alle wollen Untreue. Doch fürchte du nichts, ich öffne nur dem, der mir mehr Schmerzen, mehr Schmerzen bringt! Ich höre, was du mir drei bleiche Tage und Nächte lang zugeflüstert hast, als du noch unverschlossen lagst, in unserem kalt hallenden Hause –: Ich höre, wie du es immer noch aus deinem Kasten mild und verzweifelt schreist, daß der blaue Himmel in meinen Ohren zerbirst – Denn es bleibt wenig Zeit, bis sie deinen Mund verstopfen. Oh, ich verstehe dich gut, wenn ich auch jung und verwirrt bin. Du verlangst nach mir – Oder verlange ich nach dir –? Es ist nicht genug, dies kindliche Brennen in meiner Brust, nicht genug. Ist großer Schmerz so erträglich groß? So hat mich mancher Stein eines Jungen geschmerzt, der mich an den Kopf traf. Wie groß ist der Tod? Abenteuerlicher Riese – dulde ich, daß ein bequemer Hügel aus dir wird? Und bist doch Tod des einen Leibes, der mich geboren hat. Mutter, ich wandle und rage, kreuze frech deinen nun hölzernen Leib. Ich löste mich einst aus dir, damit du allein stürbest! So ist es in der Ordnung, murmeln hinter mir die Mundwinkel der falschen Trauer –

Er drehte sich um. Gedämpfter Wortschwall, Nebel kleiner Unterhaltung zog in langen Schwaden heran. Aber wie mit doppeltem Antlitz vorwärts gewandt, fing er aus der Spur des Sarges eine getragene Stimme auf: ... Mein Kind, du gehst mit ihnen, nicht mit mir ... Nein, Mutter, ich bin kein Verräter ... Unterscheidest du dich von ihnen, wie du's wünschtest? ... Mehr, wünschte ich, mehr, doch sieh meine bedrückte Brust ... Ich sehe deine Brust wie eine blühende Wiese unter eiligen Wolken sich ausbreiten – lebendig – und hier ein Schneefeld, dir schon unähnlich, deine Mutter ... Sieh, Mutter, ich gehe rasch dir nach ... Um deine Trauer rascher ins Grab zu versenken, mit Bewegungen unbefangen und frisch ... Du bist hart, Mutter, ich fühle sie ja selbst mit Widerwillen, diese Glieder, die dir gehören und sich ruchlos bewegen: So komm, lass dich von ihnen nicht mehr verhöhnen, steig auf in meinem Blute mit gespenstischem Recht! Ich soll sterben wie du! Wenn auf der östlichen Erde der Liebende nach dem Hingegangenen sich verbrennt und die Zufallsordnung des Todes nicht duldet: Ich will noch mehr tun, geliebte Mutter, brechen auch diese Ordnung zwischen der Jugend und dem Alter ...

Er blieb stehen. Aber höre, flüsterte er, auch grausam wie der Tyrann auf dem Scheiterhaufen – wünschte ich zugleich mit mir alle diese zu verbrennen! Zischend, brummend, kreischend sammelte sich das friedliche Getöse der schwatzenden Reihen unter den Ahornen und Akazien, und machte hinter ihm halt. In tierisch unbefangener Unterhaltung, dass die Vögel darüber lautlos hinzufliegen schienen, sah er ein Heer von fremden Gesichtern anrücken: Aus aufgerissenen Augen, geneigten Ohren, zappelnden Mündern, stirnrunzelnd oder lächelnd Nachbar an Nachbar angeknüpft, schwoll ihre Sprache durch die gewundenen Wege und wirbelte fern mit dem gefühllosen Schwanze des Zuges den Staub auf.

Hier hatte er sie alle beisammen, eine endlose unbeteiligte Menge schloß sich durch die Mauer hindurch dem Friedhof an. Sie reichte bis in die geschäftige Stadt zurück, sie drängte sich ohne Sinn bis zu diesen dunklen Wegen vor und türmte die Sinnlosigkeit des Lebens rings um ihn und um diesen Tod auf. Was tat ihr Geschrei verwandt und vertraut mit ihm? Ein größeres Glück war es, der Toten ähnlich zu sehn als den lauen Sümpfen dieser Gesichter. Und gurgelte es nicht selbst unter ihren gründumpfen Oberflächen, daß die Welt nun zu Ende sei?

Da packte er sie, wie sie aus Wohnungen, Läden, Schenken ahnungslos, aus Arbeit, Musik und Liebe unerschöpflich heranwimmelten und vor dem aufgähnenden Grabe zurücksanken in entsetzter Wellenbewegung: Und voller Lust, dem Tode der geliebten Mutter noch einen Sinn zu geben, indem er auch dem ungeliebten Schwall ein Ende machte – ja, Tod zu sein –, schleuderte er sie hinab, Masse nach Masse der fremden Gesichter – die wohl aus Todesangst noch so menschlich verbunden ihn ansahen, doch in Wahrheit häßlich, öde, überflüssig, vergänglich gegen die Tote. Die Erde aber schluckte lachend alles, als sei es nichts, sie ergab noch keinen Hügel: Bis er zuletzt sich selbst und was nun schon vergangen war, Spiele, Bücher, Tänze und Wanderungen, suchende Dämmerungen, Tage und Nächte mit Freunden und Führern, alle erste Herrlichkeit hinabschüttete – die Arme ganz voll genommen schüttete er das Haus der Kindheit hinab, das mit ihr zerfiel: auf bunten Stühlen Gespenster aller innigen Gespräche, hohl der singende und donnernde Flügel an der leeren Wand, der Garten trocken, die Treppen stiegen nicht mehr, die Wege brachen ab – die verstümmelte Welt opfere ich dir nun ganz –

Er fuhr auf. Wie ein lebloser Vogel sank ein schwarzer Leib langsam von den Achseln und roten Backen der Leute hernieder zur Erde. Sie öffnete sich dafür, es sank weiter und schwand unter den Fristen hinweg. Aber die Menschen blieben oben, sie ordnete sich in dickem Kranz um das eckige Loch. Worte begannen zu rascheln, mit trockenen und metallenen Blumen. Dann schwebten von allen Seiten Arme und Stiele der Spaten auf ihn zu und boten ihm Erde. Ein Fuß trat ungeduldig gegen seinen, ein Mund zischte: Es ist das Letzte! ... bis er die Erde nahm und zwischen den Fingern hinabfließen ließ. Sogleich polterten die Schollen ihre erlöste paukende Schlußmusik, die Spaten schnitten ein, sie scharrten und wölbten die Erde, klatschend. Getrappel zog um den Ort herum, über Bretter und Sand klang es ab, und bald war kein Schritt mehr zu hören. Leises Heulen von einer Herde geretteter Opfertiere lief hinter der tiefen roten Sonne um den Horizont, Weiterheulen des Lebens. – Eine große Ebene lag hier wohl bis zum Horizont hin – nur dicht vor ihm machte der Boden einen harten Buckel. Der kalte Geruch von Tulpen kam daher – er sah einen Schatten neben sich liegen und drehte sich um: Ein Baum, niemand ging mehr zwischen den Gräbern.

Er stand hinabgebückt, lange, da näherten sich noch Schritte. Ein alter behaglich schleichender Mann kam, neben dem eine Schlange Wasser auf die Blumen spie. Aus seiner Pfeife quollen dicke Wolken in die Luft, wo noch Bienen und Schmetterlinge lautlos flogen. Schlurfend und rauschend dämmerte es vorüber, und eine vollkommene Stille folgte.

Aber eingezwängt zwischen zwei breiten Rüstern, das Gesicht an die Borke gepreßt, in ahnungsvoller Freude über seinen raschen Sprung in dies Versteck: wie ein Kind hätte er noch einen andern befragen mögen, warum er sich verborgen hatte –! Doch er wußte es schon, die Entscheidung hatte schon in ihm gelegen, jetzt war sie hell wie ein Fisch aus dem lange verdeckenden Schlamm heraufgestiegen. Sein Blut und seine Seele sprudelten ganz in diesem Sprung. Er allein war hier auf dem dämmernden Friedhof, und er allein blieb hier, was sollten ihr andere Opfer –

Er winkte hinüber, bald würde das Tor geschlossen werden, dann kam er. Aus der träge fortschreitenden Dämmerung zog er sich in den alten tieferen Friedhof zurück. Nebelhafte blinde Flügel streiften dort schon umher, die Gräber wurden niedriger, zerfressener Efeu und harte Spinnweben in Dornen spannten sich vor die Füße. Die Steine begannen sich zu neigen, grau und namenlos, der Friedhof sank mit schiefen Kreuzen in Gräberhaufen klein und struppig zusammen, als seien hier alte Zwerge begraben: bis alles zu leeren Beeten verwischt lag. Weiter noch sank es, durch Höhlen, Pfützen und Schächte steil hinunter, in bittere Dämpfe von Laub und vergangenem Fleisch hinein führte der Weg, ins Innere, Flüsse sickerten durch die wachsende unterirdische Nacht –

Er hielt an und wartete, an einen leise wiegenden Baum gelehnt. Fern sah er in der Richtung des Grabes ein Licht aus den Straßen hereinblinken, das er sich merkte. Ehernes Scharren klang wie eine Glocke von der Mauer her: das Tor dröhnte und fiel zu. Rings um die Mauer schlugen die Uhren, er horchte –

Es regte sich auch in den unterirdischen Gehäusen – in den Uhren der Ewigkeit – Die Dämmerung bebte, er starrte hin: Hob sich nicht das Grab dort unter dem kleinen Licht, hob sich wie ein Berg – von innen aufgestoßen – von einer erstickten Stimme – – Die Blumen schnellten ab, regneten nahe heran, geisterhafte Hände fingen sie, feierlich senkten sie sich auf sein Haupt und schmückten es – Der nackte Hügel schweifte sich und ging auf, aus seinem Schoß auferstand eine meiste unbewegte Gestalt. So fühlte er auch sich selbst eisernfest werden, um dem ziehenden Magneten gerade ans Herz zu fliegen. Im schwarzen Stuhl mit golden beschriebener steinerner Lehne streckte sie bequem die Beine aus: Schönes Lächeln sah ihn durch die geschlossenen Augen teuflisch an und bog ihren Mund auf, ihre Brauen nieder, wie einander spiegelnde Monde. Aus dem Schwung der Nase sich entfaltend wie ein Fächer schwebte die Stirn mit tanzenden Flecken bemalt, aus zauberhaftem Hintergrunde traten Gedanken vor und breiteten sich in schillernden randlosen Farben gleich einer Überschwemmung aus. Darüber wie große Irrlichter zuckten durch das Haupt die Feuer einer anderen Welt. Zahllose Arme, göttlich gefaltet auf den Schenkeln, verschränkt über der Brust, an Knie und Wange gelehnt, leer in die Luft erhoben, kamen aus den Schultern und Hüften. Plötzlich umschlang sie ihn, mit vollem Umfassen – gleich dem ersten erstickenden Eintritt in den Weihrauch der himmelnahen Kirche, gleich der ersten Umarmung –

Doch es wurde milder, je näher sie ihn zog: Sie warf die Maske ab, sie lächelte aus hellen unbefangenen Wimpern. Die Mutter war es, so hatte sie oft seltsam verwandelt die Augen geschlossen, wenn er bei ihr saß. Ich muß vor dir sterben, flüsterte sie ... Warum sagst du das? ... Weil du mich noch allzusehr liebst: Jeder wird geboren, damit er allein lebt ... Im dämmernden Zimmer sein Kinn in ihren Schoß gedrückt, den Arm blind um ihren Hals geschlungen, so fühlte er in eine gute dunkle Höhle sich zurücksinken, wo noch Schimmer der ersten Sterne niedertropfte. Von dieser ersten tiefen Höhle prallte der Kampf ab, der tagsüber wütend schon in seine Jugend griff. Wie herrlich und seltsam, daß sie solange nach meiner Geburt noch lebt –! Sie drückte ein wenig spöttisch seine Hand, denn er hatte gesagt: Wenn du stirbst, töte ich mich ... Durch ihr in zarten Bogen aufstrebendes Gesicht zwischen den schmalen Schultern schwebte er, wie durch ein hohes Mittelschiff dem Schimmer ihrer Augen zu, sah gebannt hinein wie in die Ewigkeit. Sie schüttelte den Kopf, aber sie nickte schon zugleich ... Ich verlasse dich nicht, sagte er ... und während sie ihn abwehrte, fühlte er doch verwandelte Arme um seine Brust und Hüfte sich schlingen, Öffnungen drängten sich auf, sie sogen willig seine schwärmerischen Worte, mit Fragen schienen sie ihn zu binden: Wenn ich sterbe –? Heftig griff er in seine Tasche: Wenn du stirbst, erschieße ich mich! Schon mit ganz befriedigtem Nicken beugte sie sich auf seinen Mund, der Stuhl schaukelte ins dunkel gewordene Zimmer zurück, er beugte sich nach, auf ihren Mund, er lauschte, ob nicht doch eine andere Antwort käme – Kam nicht aus der Tiefe eine andere? Er taumelte vorgeneigt – er ging –

Er ging, die Waffe fest in der Hand, die er trunken aus der Tasche gezogen hatte. Seine Knie waren noch steif, sorgsam beobachtete er das Licht, das ihm die Richtung zeigte. Es hing wie nahe über dem Grabe, während es jenseits der Mauer hinter einem Fenster stand, dessen Kreuz grau mitschimmerte. Dort setzten sie sich jetzt um die Tische, Essen dampfte, das so gut ans Leben bindet, Türen schlugen hin und her, Flügel, die die Wände aufheben, behagliches Fleisch unterhielt sich, sang und legte sich zusammen – Der Friedhof stieg, in Geäst, er war schwellendes Geäder auf der Nacht. Die Blätter klappten einzeln auf und zu, sie zeigten ihre blinkenden Rücken, voll von dem toten Saft, den ihre Wurzel aus dieser Erde sog. Hier wie der leblose Baum zu wurzeln! den Wind zu empfangen und unschuldig nur durch ihn sich zu regen – ohne Verantwortung für die nichtigen Bewegungen des eigenen Willens – nur mit den unsichtbaren Gebärden des Wachstums an der vergangenen Erde Nahrung zu saugen –! Er machte größere Schritte, er sah vor sich die weißen winkenden Umrisse und einen Hügel darin, wie die Brust einer Frau –

Plötzlich stolperte er und fiel. Als er aufsprang, war das Licht verschwunden. Er drehte sich um, alles war dunkel, Er begann zu tasten. Überall traf er Öffnungen kleiner Wege, die Richtung kreiste um ihn, nicht mehr zu erraten. Dicke Wolken lagen auf dem Himmel. Er wartete. Sie schoben sich dichter ineinander.

Er bezwang sich und fing an, langsam durch die Dunkelheit vor sich hin zu schreiten. In seine emporgestreckte Hand und in die andere unten streichende legten sich endlos Säulen und Stämme, marmorn und rostig Stäbe, Figuren, Schalen, Ranken, gekerbte Tafeln. Ein Grab ohne Stein kam nicht. Niedergebückt, auf die Knie geworfen, endlich unten kriechend, um nichts zu übersehen, fuhr er durch Schlamm und Sand, und fühlte das Dickicht der Monumente über sich nur wachsen. Die Wege kreuzten einander in sinnloser Menge, verschwanden wie Augenblicksmücken und kehrten wimmelnd wieder. Er hätte jeden von ihnen nehmen wollen, jeder, kaum betreten, verwirrte ihn und machte ihn ungläubig. Es wurde ein zögerndes, hastendes Suchen – abwesend und doch auf dieser ganzen Erde gleichzeitig suchte er, bald tausendfach zerschnitten. Während der Friedhof sich ihm grausam entzog, prägten seine Formen sich den Händen höhnisch ein, von Kieseln wie mit Abdrücken des Gräberfelds gehügelt. Und jetzt – senkte sich nicht wieder der Friedhof – war es nicht wieder im Kreis der alte Abhang, der zur Hölle führte –? Dürr brodelte Grab an Grab mit immer älterem Moder gefüllt – Er traf in Stacheln, jetzt in teuflisch lebende Masse, feuchte Lippen, zwei Steine gruben sich in seine Hand, er schrie unter dem Biß – Fassungslos hielt er an, stemmte sich gegen den Abhang.

Aber die dumpfen Düfte mahnend aus dem Boden verwehrten jede Ruhe und trieben ihn: Suche! die Nacht geht vorbei –! Mit einem Ruck auf die Zehen gestellt schnellte er sich ab. Durch Dunst, durch Gesträuch und Zweige sauste er vorwärts, gepeitscht, fiel, stieß an Wände, warf sich zurück, warf sich kopfschüttelnd weiter. Die Geschosse der Finsternis hagelten seinem Sturmlauf entgegen, die steinerne Luft schmetterte auf ihn ein mit Marmorkugeln, Eisenkreuzen. Von Gitterspitzen blutend losgerissen, schweißtriefend hoch über Anhöhen und Löcher, auch wo es nichts zu überspringen gab, besinnungslos schossen seine Füße schon wie Flügel hin. Das Leichenfeld, ganz mit dem dichten, suchenden Netz seiner Sprünge überzogen, zitterte unter dem aufbrechenden Himmel voller Sterne.

Und schon war dieses einsame Hinrasen unter den Sternen nicht mehr sinnlos und traurig wie vorher. Verwandelnd rann die wilde Bewegung durch seine Gelenke, sie trat über verborgene Schwellen, wo hinter den Türen der Brust und der Stirn Tänzer, die Füße seiner unsichtbaren Kräfte, wartend standen: und mitgerissen in die weiten Räume stimmten sie ein in Lauf und Musik. Wie Knie, Haar und Kinn tanzte innen der Quell einer Wandlung, der bergige Friedhof ging in Wellen, ein Meer schlug über den Grund voller Leichen: Seine Bewegungen, von der Toten ihm geboren, schufen nun aufgelöst sich selbst um. Durch die Felsen der Gräber flutend, über Inschriften, Blumen und Klippen, die Funken des Himmels spiegelnd, zwischen denen Wracke schwankend versanken, stob er auf und ab, und seine Glieder turnten sich in eine neue Freiheit. Trunken schwang, schaukelte und klomm er und wußte nicht, war er noch auf diesem Felde – flog er wie vom Sprungbrett über die Mauer schon auf Wiesen – strichen aus den Wohnungen die erwachenden Träume der Menschen –, bis er noch einmal, zurückfliegend wie ein Ball, irgendwo mit singendem Atem zwischen den Gräbern lag.

Er keuchte, er streckte sich aus. Er berührte auf dem Boden ein eisernes kleines Ding –: die Waffe, hier verloren, als er gestolpert war. Dann gleich einer zerbrochenen Maschine neben einer glücklich dampfenden begann es neben seinem Atmen zu klappern und zu zischen, vor seinen schwimmenden Augen liefen Himmel und Erde in bleichen Reigen durcheinander: Die Deckel der Wolken waren geborsten, knochige Sternbilder stiegen auf, Nebel und Knorpel, rings nickten und kränzten sich mit bleichen Schleifen Skelette über den Himmel. Sie warfen nach ihm die Speere leerer Finger, heulend sanken sie im Bogen wie Raketen heran, den ersten vergangenen drängten zahllose nach, zum wuchtigen Angriff sich zu verschmelzen: Aber jämmerliche Lücken blieben überall, öde Nacht weinte durch die Löcher des gebrochnen Gewühls, mit harten Schultern und Schößen prallten sie voneinander ab und bildeten zwischen sich nur ohnmächtige Höhlen wie im Innern ihrer Körper. Da knickten sie ein, in tausendfachen armseligen Lemurengelenken, die aneinander nicht mehr heranreichten, und krochen zu ihm und hielten ihm leer schmeichelnd wie Katzen beinerne Backen hin, daß er sie mit seinem Fleisch anfülle – Er sprang auf –

Er streckte die Arme aus: Denn dort – ein Strom, der wie ein Wunder aufwärtsströmte, erschien aus dem versunkenen Herzen des Lichts: Ein flammernder Kern, andrängend gegen die Erde mit ihren Gespenstern und Menschen, stieg durch ein Blutbad der Freude und sandte riesenhaft wehenden fegenden Druck vor sich her.

Er öffnete den Mund, Bälle starker reiner Luft flogen herein, die Qual sollte enden, und er brauchte sich nicht mehr zu rühren: Es sollte etwas für ihn geschehn. Wie der Wanderer nachts sich das Licht anzünden ließ, und als es wieder erlosch, ein anderer kam und es anzündete, und als es wieder erlosch, zu sich sprach: Jetzt warte ich statt auf Menschen auf den Morgen Gottes –: so brannten nun die Schatten in den Bäumen und Steinen aus, die Erde rauschte, wie ein rascher fahrendes Schiff, Vogelstimmen darüber. Eine letzte Wolke reckte sich und zeigte mit begeistertem Finger dorthin, wo der Himmel vulkanisch aufstand. Und er, auf die Zehen sich stellend und mit der winzigen Bewegung eine unermeßliche Strecke in den Weltenraum wachsend: traf setzt am Horizont den glühenden Gipfel der Sonne.

Oberhalb der Erde war Morgen. Hier kam allein für ihn der Tag. Schon sah er die kleinen Hügel auf der Brust des abgestorbenen Reiches liegen, an denen er in dieser Nacht nur die Vergänglichkeit gefühlt hatte. Unsterblichkeit spornte nun wieder sichtbar die Schöpfung, unaufhaltsame feurige Reiterin setzte herauf aus dem Abgrund und zerriß ihm die letzten Nebel der Kindheit – mit Azur der Jugend.

Dem riesenhaft lächelnden Antlitz der Sonne entgegen nur wenige Schritte ging er: denn ganz nahe fand er das Grab. Er blickte hinunter, sein Herz schwebte über dem toten Herzen. Er küßte es noch einmal innig, doch bleich wie ein Mond aus schwarzem Gewässer schien es empor, während der Mund des Tages sich heiß auf seinen Nacken senkte. Dann aber war es, als schlösse sich ein seltsamer Ring, und als sei er noch immer nicht entronnen. Wie zwei schöne Frauen, die eine aus der Grube sich hebend, die andere aus dem blauen Gewölbe sich bückend, reichten sie einander mit schrägen Blicken die Hände. Stockend begann er weiterzugehn, die runde Kette ihrer Arme umschloß ihn bei jedem Schritt: Glich dieses Licht mit den gewölbten Brauen des Himmels, dem er zuging, nicht doch dem Dunkel, das mit der Toten aus dem Rund der Erde aufsah? Nahm der Spuk des Lebens kein Ende, da der Morgen an den Totenacker stieß und zusammen mit dem kristallenen Grab des Äthers nur der Totenacker ringsum wuchs?

Er schritt an der Mauer entlang. Ehern und dünn und leicht wie ein Vogel hing das Tor darin. Es war noch geschlossen – und doch, es war offen, wie kein Himmel sein konnte, Sturm wehte hindurch wie über freies Meer. Flügelnde Stimmen jubelten heran: Wunderst du dich, noch immer gefangen? Du ließest etwas für dich geschehen – aber du hast noch nichts getan! Atme in den anwehenden Tag erst, dich zeugend! Es brauste und klang in der Muschel seines Ohrs: Stelle dich an einen Ort außerhalb der toten Welt, und du wirst sie bewegen!

Da schienen die toten Kreise entbannt sich aufzutun. Und zwischen dem Jubel der Engel schlug über die Scherben und Zacken der Mauer auch der erwachende Arbeitssturm: eine Stadt, eine Welt von Menschen, die er im Leichenzuge einsam wütend für die tote Mutter hatte hinopfern wollen. Nun flatterte aus der Unbekanntheit ihrer Gesichter eine beglückende Ahnung der Welt ihm zu, wie eine Fahne der Befreiung, die ihn vom allzu Nahen befreite – Liebe zu den Unbekannten, zu den Vielen, von der Mutter erst jetzt entwöhnte Liebe.

Seine Arme, die wie Quellen aus den Schultern sprangen, legten sich auf die Klinke. Von anwogender Frische nur durch die dünne bebende Wand getrennt, wartete er auf Öffnung.


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