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Das Amulett

Von Jakob Wassermann

Wunderbar, daß ein Leben nicht erlischt wie eine Flamme ohne Nahrung, wenn es nichts enthält als Not und Mühe, keine Freuden darbietet, kein Ausruhen erlaubt, keine Schönheit und fast auch keine Hoffnung hat. Der Mensch ist ein geduldiges und zu leiden fähiges Geschöpf und was er trägt, geht oft über das Maß der Kraft hinaus, mit der ihn die Natur ausgestattet hat. Und viele tragen es und murren nicht einmal; wissen sie von andern Losen nicht oder sind sie voll von ihrer Bestimmung, daß ihr Herz von jedem Aufruhr frei bleibt und sie sich mit schweigender Gelassenheit in das dunkel Unabänderliche fügen? Diesen Gang zum Grabe hin, zum Tode hin, dessen Sinn sie nicht fassen, so wie ihnen der Sinn ihres armen Daseins verborgen ist?

Christine Schierling war aufgewachsen in schmutzigen Großstadtgassen, hatte Vater und Mutter nie gekannt. Erst war sie in einem Waisenhaus gewesen, dann hatte sie der Vormund zu sich genommen, dann war der Vormund gestorben, dann hatte sie Dienst tun müssen bei einem Verwalter. Wasser schleppen, Wäsche waschen, Feuer anzünden, Kinder warten, Stuben scheuern, das war ihr Geschäft vom frühen Morgen bis in die späte Nacht.

Wer könnte alle die Häuser nennen, wo sie arbeitete, alle die Familien, deren Brot sie aß, alle die Treppen zählen, die sie auf- und abgerannt, alle die Schimpfreden, mit denen sie von ihren Herrinnen bedacht wurde. Sie wechselte häufig den Platz, nicht der Drangsal wegen, der konnte sie nirgends entgehen, sondern weil ihr von Zeit zu Zeit doch der Gedanke kam, sie könnte ihre Lage verbessern.

Dies erwies sich aber als eine trügerische Hoffnung. Die Großbürgerin mißtraut einer Magd, die beim Kleinbürger war, und so mußte sie immer wieder bei den geringen Leuten Unterschlupf suchen. Bisweilen waren es gute Leute, bisweilen schlechte, je nachdem. Bisweilen blieb man ihr den Lohn schuldig, bisweilen mußte sie hungern. Dort waren Kinder, die sie quälten und boshaft verfolgten, dort Aftermieter, die unverschämt wurden, wenn sie am Abend nach Hause kamen. Da war die Frau krank, dort war sie eine Megäre, der man nichts recht machen konnte; da war der Mann ein Saufbold, da betrog er seine Ehehälfte mit andern Weibern, und es gab beständig Zank und Streit.

Ihr waren alle Arten von Menschen bekannt und alle Arten des Zusammenlebens von Menschen. Sie kannte die verschämte Armut, die träg ist, und die fleißige, die jedem Angriff des Schicksals trotzt. Sie hatte Liebe gesehen unter erbärmlichen Trümmern ehemaligen Glücks, und Haß, der jeden Lufthauch verpestet, den Haß zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Weib, zwischen Bruder und Schwester. Sie kannte die Sprache des Neids, das Gift der Verleumdung, die Raserei der Verzweiflung, die Stummheit der Melancholie und die Schauder, die das Verbrechen umgeben.

Sie war bei einem Zuckerbäcker gewesen, bei einem Schuhmacher, bei einer Kupplerin, bei einem verkrachten Fabrikanten, bei einer Hebamme, bei einer Trafikantin, bei einem Branntweinschänker. In manchen Träumen erschienen ihr die Häuser, in denen sie geweilt hatte, aber nicht eines ums andere, oder jetzt dieses, dann jenes, sondern alle auf einmal, in einer alpdruckhaften Verklammerung, Bienenzellen gleich. Da sah sie endlos viele Stiegen und endlos viele Türen. Es herrschte Geruch von Betten, von Fett und von schlechtem Kaffee. Beständig war Lärm, überall war Lärm. Singen, Pfeifen, Hämmern, Schreien und Lachen; Säuglingsgewimmer und Hundegebell, Poltern und Schaufeln, Fluchen und Stöhnen. Und alles war ohne Sonne und ohne Himmel.

In einem Bett hatte sie selten geschlafen, meist auf einem Strohsack oder einer Matratze neben dem Herd. Da kroch Ungeziefer über ihre Hände und das Gesicht, sobald es finster war. Einen Raum für sich hatte sie nur bei dem Fabrikanten gehabt, aber das war ein elender Verschlag in der Mansarde gewesen, wo der Wind hereinblies und in kalten Nächten das Herz im Leibe fror.

Zwischen ihrem zwanzigsten und einundzwanzigsten Lebensjahr hatte sie bei einem Major gedient. Er wurde Herr Major genannt, in Wirklichkeit war er ein heruntergekommener alter Mann, der sich durch kleine Agenturgeschäfte ernährte und außerdem eine kümmerliche Pension genoß. Solang er gesund war, hörte sie kein freundliches Wort von ihm; als er aber krank wurde und Christine ihn pflegen mußte, wurde er kleinlaut, und wenn sie fortging, jammerte er um sie, bis sie wiederkam. Christine hörte seine Klagen an und sah, daß es mit ihm zu Ende ging. Als er seinen Tod nahe fühlte, rief er das Mädchen an sein Bett und sagte zu ihr: »Gott lohne dir, was du an mir getan hast. Ich kann's nicht. Damit du aber nicht ganz leer von meinem Sterbebette gehst, will ich dir das Amulett schenken, das mir meine selige Mutter umgehängt hat, als ich in den Krieg gegen die Italiener zog. Vielleicht bringt es dir mehr Glück als mir.« Bei diesen Worten griff er unter sein wollenes Hemd, öffnete den Verschluß eines Stahlkettchens und brachte eine Münze zum Vorschein, die an dem Kettchen hing. Sie war so groß wie ein Guldenstück und hatte eine grünspänige Farbe. Christine bedankte sich. Gleich danach hauchte der Major seinen letzten Seufzer aus.

*

Seitdem trug sie die Münze beständig auf ihrer Brust.

Zehn Jahre später erreichte sie endlich eine höhere Staffel des sozialen Lebens; sie trat bei einem jüdischen Ehepaar in Dienst. Der Mann hieß Simon Laubeseder, war ursprünglich Hausierer gewesen, dann hatte er es zu einem Kleiderladen in der äußersten Vorstadt gebracht, wo er die Fabrikarbeiter mit billigen Anzügen versorgte, und vor kurzem hatte er in der Stiftgasse ein Geschäft errichtet, das sich Warenhaus zum Kaiser von Österreich nannte. Die Leute waren kinderlos, es gab nicht übermäßig viel Arbeit bei ihnen, auch waren es ruhige Menschen, und Christine erfuhr von ihnen eine anständige Behandlung. Aber das Wichtigste war, daß sie ihre eigene Kammer erhielt.

Sie schmückte die kahlen Wände mit Illustrationen aus Zeitschriften; da hing der Kronprinz Rudolph, der Fürst Bismarck mit dem Reichshund Tyras und eine Darstellung der Seeschlacht bei Trafalgar; die Bilder waren mit Nägeln befestigt, und zwischen Wand und Papier ragten kleine Tannenreiser und vergilbte Blumen heraus. Über dem Bett hing die Photographie des Majors; sie zeigte ihn als jungen Leutnant und war ebenfalls mit Blattwerk umkränzt. Ein hochbeiniges Tischchen war mit einem Linnen bedeckt, und darauf lagen, liebevoll geordnet, allerlei Andenken und Geschenke aus früherer Zeit, ein Pfirsich aus Wachs, ein Fingerhut in einem rotseidenen Behälter, ein Porzellanzwerg, der unter einem Pilz kauerte, ein Gebetbuch mit goldenem Kreuz und eine Kette gelber Glasperlen.

Zuweilen, wenn sie aus dem Haus ging, um Einkäufe zu machen, begegnete sie im Flur oder auf der Stiege einem Soldaten, einem Korporal von den Deutschmeistern. Er hatte einen schwarzen aufgedrehten Schnurrbart, dicke Lippen, ein gutrasiertes rundes Kinn und munter glänzende Augen. Als sie ihn das zweite Mal sah, salutierte er, beim dritten Mal lachte er sie an, beim vierten Wal begann er ein Gespräch, und sie erfuhr, daß er seine Schwester besuchte, die in dem Haus wohnte und mit dem Schwerfuhrwerksbesitzer Grieshacker verheiratet war. Er hieß Kalixtus Zoff, hatte sich bei der Truppe aktivieren lassen und hoffte, es bald zum Feldwebel zu bringen.

Nach und nach wurde Christine zutraulich, und sie verabredeten für einen Sonntag einen gemeinsamen Spaziergang. Sie fuhren nach Sievering, gingen durch den Frühlingswald nach Weidling und kehrten bei anbrechender Dunkelheit zu Fuß in die Stadt zurück. Der Korporal hatte sich mit seiner Schwester und deren Mann verabredet, sie traten in ein kleines Wirtshaus und nahmen an einem Tisch Platz, an dem schon acht oder zehn Personen saßen. Christine kannte Frau Grieshacker vom Sehen, sie setzte sich neben sie und grüßte schüchtern. Der Korporal führte bald das große Wort und geriet mit Grieshacker in einen hitzigen Streit darüber, ob der Salzburger Schnellzug in der Station Neulengbach hielt oder nicht.

Auf dem Nachhauseweg ging Kalixtus Zoff mit Christine Arm in Arm, und unter dem Schutz der Dunkelheit nahm er sich einige täppische Zärtlichkeiten heraus. Christine aber war müde, denn es war die erste stundenlange Wanderung, die sie seit vielen Jahren gemacht hatte. Die Augen fielen ihr schon unterm Tor zu, und als der Korporal zum Abschied einen Kuß verlangte, gehorchte sie, ohne sich dabei was zu denken, und küßte ihn auf die dicken Lippen, so daß der Schnurrbart sie unter der Nase kitzelte. Frau Grieshacker lachte, der Schwerfuhrwerker pfiff bedeutungsvoll.

Lange Zeit ging Christine mit dem Korporal, ohne daß sie seine Geliebte war. Er steuerte natürlich auf dieses Ziel los; sie widerstand, nicht weil sie Angst gehabt hätte oder irgendwelchen Preis auf ihre Hingabe setzte, sondern weil sie nach dem, was ihm so begehrenswert schien, nur geringes Verlangen hegte.

Kalixtus Zoff ärgerte sich; er sagte, sie halte ihn zum besten, und drohte, die Freundschaft abzubrechen. Doch kam er immer wieder, jedesmal mit neuen Angriffswaffen. Er prahlte mit seiner Männlichkeit, deutete geheime Vorzüge an, die er besaß, und sprach verächtlich von andern, die nur so aussähen, als ob sie ganze Kerle wären. Wenn dann Christine versicherte, sie glaube ihm, und trotzdem unempfindlich blieb, wurde er rabiat, legte die rechte Hand auf die Rockbrust, die linke an den Griff des Seitengewehrs und schwor, sie müsse die Seine werden, oder er werde sich und sie erschießen.

Sie zeigte viel Ruhe, wenn er tobte; das imponierte ihm. Es hatte sich in ihm die Meinung gebildet, ihre Hartnäckigkeit sei auf ihre früheren Erlebnisse im Verkehr mit Männern zurückzuführen, und er tat, was ihm möglich war, um sie zu überzeugen, daß er für seine Person eine Ausnahme von der Regel sei. Groß war daher sein Erstaunen, als er seinen Irrtum einsehen mußte und erfuhr, daß es sich mit ihrer Vergangenheit ganz anders verhielt.

Es war an einem Sommerabend, und sie gingen vom Kahlenberg durch das Hügelgelände gegen Nußdorf zu. Vor ihnen und hinter ihnen gingen Liebespaare; manche sangen, manche flüsterten, und zuweilen verschwand eines seitab vom Wege. Aus dem Wald, vom Rand der Weinberge und aus den zahlreichen Schenken tönten die Stimmen sonntäglich sorglosen Volkes. Der Mond stieg über der Stadt empor, die Luft war schwül. Da geriet Christine langsam ins Erzählen, ihre Zunge löste sich, ihre dumpfen Sinne entwanden sich einer Fessel, die seit der Kindheit nicht von ihr gewichen war, sie erzählte von ihrem Leben, und wo sie überall gewesen, und wie schwer sie es gehabt. Kalixtus Zoff hörte zuerst mit gutmütiger Herablassung zu, als aber das, worauf er wartete, immer noch nicht kommen wollte, entschloß er sich, seiner Ungeduld und ihrer Vergeßlichkeit durch eine derbe Frage zu helfen. Sie antwortete kopfschüttelnd, mit derlei habe sie sich niemals abgegeben. Er stutzte, blieb stehen und schaute sie mit offenem Mund an, denn der Gedanke an eine solche Möglichkeit war ihm nicht bloß neu, sondern im ersten Augenblick auch unbegreiflich; so unbegreiflich, daß er sich mit einer geringschätzigen Gebärde dagegen sträubte und nur die dunkle Traurigkeit ihres Wesens und ihrer Stimme ihn verhinderte, seine Zweifel energisch zu äußern.

Sie wieder begriff seine Ueberraschung nicht, da sie doch das Bewußtsein hatte, weder je gelogen noch sich verstellt zu haben. »Ach ja,« fuhr sie fort, »man sieht gar manches, mehr als einem lieb ist, und die Lust vergeht einem.«

Daran lag es bei ihr, am Zuvielsehen; und das Ach war beredt genug. Wo sie gewesen, waren die Wände dünn, die Riegel rostig, und keiner schämte sich vor dem andern; Heiliges wurde grobe Notdurft, Zartestes grausamer Zwang. Wenn sie sich umschlungen hielten, wie elend waren sie da noch, wenn eine Nacht sie über das Gemeine hob, wie freudlos waren sie schon in der nächsten. Hochzeit war wie Tod, fielen die Schleier; Geburt ein Grauen. Ums Geld haderte, am Geld klebte, am Geld verdarb alles; ohne Geld war Hunger, Entsetzen, Verzweiflung und Mord. Einmal war neben der Küche, wo sie schlief, eine Prostituierte erstochen worden, die sich hundert Kronen zusammengespart hatte. Christine hatte das Gesicht der Getöteten gesehen; so viel Liebesvorrat konnte in keinem Menschen sein, daß nach diesem Anblick Hoffnung, unschuldige Erwartung, heimlicher Glaube hätte lebendig bleiben können. Es war die aufgerissene Schwärze der Unterwelt, das unabwendbare Verhängnis selbst.

Auch dies erzählte Christine in ihrer einfachen Ausdrucksweise; und wie sie nachher vor Gericht hatte aussagen müssen und ihr die Zeugenschaft ihrer Herrin, der Kupplerin, verderblich geworden war. Da hatten sie eines Abends zwei Zuhälter auf einen Bauplatz gelockt und auf sie eingeschlagen, daß sie bis zur Mitternacht im Blut gelegen war.

Kalixtus Zoff war allmählich kleinlaut geworden. Er spürte die Wahrheit, ja noch mehr, er spürte, daß dieses Mädchen unwahr gar nicht sein konnte. Es befiel ihn eine Ahnung, daß sie so hoch über ihm stand, wie er bisher gewähnt hatte, über ihr zu stehen, und es wurde ihm ein wenig bange inmitten seiner soldatischen Größe und Gewalt.

Sein Schweigen rührte Christine, denn sie erriet den Grund. »Ich möchte noch nicht heimgehen,« bat sie plötzlich und schaute sich um. Sie waren im Eifer der Unterhaltung vom Hauptweg abgekommen, und es war nun ganz einsam um sie. Der Mond war ins Gewölke geschlüpft, tief in der Donauebene blitzten dunstumflort die Lichter der Stadt; Christine ließ sich ins Gras nieder, Kalixtus setzte sich neben sie und fing an, leise und melodisch zu pfeifen. »Du kannst's aber gut,« sagte Christine. – »Ja, das hab ich gut gelernt«, erwiderte er und lehnte den Kopf an ihre Brust.

*

Ungefähr bis gegen Weihnachten gelang es Christine, ihre Schwangerschaft zu verbergen. Als Frau Laubeseder merkte, wie es mit ihr stand, nahm sie sie ins Gebet, aber Christine blieb eigentümlich verstockt. Sie gab zu, was nicht geleugnet werden konnte, sonst aber war wenig aus ihr herauszubringen. Wohin sie gehen wollte, wenn ihre Stunde kam, wußte sie nicht, und gutgemeinten Rat wies sie ab.

Die Leute im Haus und auf der Gasse betrachteten sie neugierig; in manchen Blicken las sie Mitleid, in manchen Hohn. Kalixtus Zoff war im Anfang ziemlich bestürzt gewesen, als ihm aber Christine weder Vorwürfe machte, noch ein unglückliches Gesicht zeigte, noch Geld von ihm begehrte, verschwand seine Sorge, und er war Christine aufrichtig dankbar für ein Benehmen, das ihn sogar des Zwanges enthob, die Miene schlechten Gewissens zur Schau zu tragen.

In einer Nacht im März gebar Christine einen Knaben. Am Abend, als sie die ersten Schmerzen gespürt, war sie zu einer Hebamme in der Nachbarschaft gegangen, mit der sie sich ein paar Tage vorher schon verständigt hatte. Gleich als sie kam, mußte sie fünfzehn Kronen erlegen, dann durfte sie dableiben, und das Weib richtete ihr ein Lager her.

Vier Tage war sie bettlägrig, dann sagte die Hebamme, daß sie nun wieder gesund sei und aufstehen könne. Sie stand auf, fühlte sich aber noch recht matt. Den Säugling mußte sie einstweilen bei der Frau lassen; am Sonntag sollte sie herüberkommen, und dann würde man Rat halten, was mit dem Kind zu geschehen habe. »Wie wirds denn heißen?« fragte die Hebamme. Christine erwiderte, es solle Joseph heißen.

Durch die Vermittlung der Hebamme wurde eine Frau in Erdberg ausfindig gemacht, die bereit war, das Kind gegen ein geringes Entgelt in Kost und Pflege zu nehmen. Die Hebamme brachte es selbst hin, und am Sonntag darauf ging Christine mit dem Korporal nach Erdberg, um sich zu vergewissern, ob das Kind in guten Händen sei. Die Frau, die es hatte, war eine Wäscherin, und sie gefiel Christine ganz und gar nicht. Sie hatte selber vier kleine Kinder, und die Wohnung war schmutzig und düster.

Zwei Tage später ging Christine wieder nach Erdberg. Ohne viel zu reden, forderte sie der Wäscherin das Kind ab und nahm es mit zu Laubeseders. Es schrie aber die ganze Nacht erbärmlich, Simon Laubeseder wurde im Schlaf gestört und verbot, daß der Säugling im Haus bleibe. Da mußte sich Christine nach einer andern Unterkunft umsehen; sie erinnerte sich von einem früheren Dienstplatz her einer Gärtnerswitwe, die ihr einige Freundlichkeiten erwiesen hatte, zu der ging sie hin, und die war auch willens, an dem Kind gegen eine mäßige Vergütung Mutterstelle zu vertreten. Es wurde getauft, das Gericht bestellte ihm einen Vormund, Kalixtus Zoff hätte Alimente zahlen müssen, hatte aber kein Geld, und so mußte Christine alles aufbringen.

Da die Gärtnerswitwe nicht weit wohnte, lief sie häufig am Abend hin, um sich nach ihrem Joseph zu erkundigen. Dem Anschein und den Worten der Frau nach hatte sich das Kind über nichts zu beklagen, aber jedesmal, wenn Christine es sah, zog sich ihr Herz zusammen, denn es sah schlecht aus, hatte eine gelbe Haut und trübe Augen. Als ein Jahr verflossen war und das Kind zu kränkeln begann, gab sie es zu einer Butterhändlerin nach Hetzendorf, einer Frau Tomasek, und dort blieb es auch, denn sie war besser als ihre Vorgängerin und hatte ein wenig Liebe für das heimatlose Wesen.

*

Nach wie vor führte der Korporal Christine jeden zweiten Sonntag aus, aber aufs Land gingen sie nur noch selten, trotzdem sich dies Christine am meisten wünschte, sondern sie statteten zuerst dem Joseph einen Besuch ab, und dann strebte Zoff zu einer Kneipe am Neubaugürtel, wo er gewöhnlich seinen Freund, den Friseur Polivka, traf.

Polivka und Zoff hatten sich in einer Tanzbude im Prater kennengelernt; es war noch nicht lange her. Sie hatten sich um ein Mädel gezankt, wie Kalixtus ganz offen Christine erzählte; aber dann hatten sie gesehen, daß an dem Mädel nichts Besonderes war, da hatten sie Frieden geschlossen, waren zusammen weggegangen, und so, beim Schlendern in der Nacht, hatte jeder des andern Herz entdeckt.

Der Friseur Polivka lag dem Korporal beständig in den Ohren, er solle doch das Soldatenleben aufgeben, und das war der Grund, weshalb Christine, die den Mann anfangs nicht hatte leiden können, ihn allmählich mit günstigeren Augen betrachtete. Es wurde viel hin- und hergeredet über den Punkt; aber Kalixtus Zoff war der Stimme der Vernunft unzugänglich.

Er sagte, er sei nun einmal zum Soldaten geboren, er sei es mit Leib und Seele. Polivka, der unter seinen Bekannten für einen belesenen und gebildeten Kopf galt und sich auch demgemäß auszudrücken wußte, hielt ihm entgegen, daß, wie die Zeiten beschaffen wären, das Soldatsein bloß als eine müßige Spielerei angesehen werde, und daß ein Mann von Kalixtus Zoffs körperlichen und geistigen Gaben, hier zwinkerte Polivka der aufmerksam lauschenden Christine schlau zu, in jedem anderen Fach Erkleckliches leisten, ja sogar zur Wohlhabenheit gelangen könne.

»Das nutzt euch alles nichts,« antwortete Kalixtus Zoff, »ich trag des Kaisers Rock, und dabei bleibt's. Und wenn der Kaiser nicht Soldaten brauchen täte, so hätt' er uns schon selber abgedankt. Warum soll ich mich die ganze Woche um ein paar lausige Kronen schinden? Mein Bett und meine Montur hab ich, mein Fressen und Saufen hab ich, und außerdem stell ich auch was vor. So blitzsauber fühlt sich keins wie unsereiner, wenn man am Sonntag aus der Kaserne zu seinem Schatz spaziert.« Er faßte Christine derb um die Schultern und zwickte ihren Arm, daß sie aufschrie. »Und du, Polivka,« wandte er sich an den Friseur, »geht's dir denn gar so großartig, trotzdem du die Weisheit mit Löffeln geschluckt hast?«

»Ja, ja, schon,« gab Polivka etwas betreten zu und strich sich seine künstlerisch gelockten Haarbüschel aus der Stirne, »aber das ist meine eigene persönliche Schuld sozusagen. Wär ich nichts weiter als ein Barbier, so hätt ich schon längst meinen Laden auf der Ringstraße und ein halb Dutzend Gehilfen und eine Frau Gemahlin. Aber ich bin halt zu etwas Höherem geboren, hab meine Ambitionen, Fortuna hat mir nicht das Seifenbecken und das Rasiermesser in die Wiege gelegt.« Er stützte das Haupt in die Hand, und seine kleinen, verlebten Knopfaugen blickten melancholisch ins Leere.

Christine verstand seine Rede nicht. Es war ihr aber bestimmt, daß sie ihn besser sollte begreifen lernen. In der zweitfolgenden Woche bekam sie ein rosenrotes Briefchen, das seine Unterschrift trug, und worin er sie und Freund Kalixtus zu einer am Sonntag stattfindenden Theatervorstellung des Vereins »Schwarzamseln« einlud. Es sollten die »Räuber« gegeben werden, und Polivka hatte die Rolle des Karl darzustellen.

Zur bezeichneten Stunde fand sich Christine mit Kalixtus in der »Goldenen Birne« ein. Da sie niemals zuvor in einem Theater gewesen war, machten schon der Saal, die vielen Lichter, die geputzten Menschen, der gemalte Vorhang einen tiefen Eindruck auf sie. Als der Vorhang aufging und das Stück begann, als ein Raum sichtbar wurde, der bis jetzt verborgen gewesen, und sich in ihm fremdartig aussehende, fremdartig sprechende Menschen bewegten, da packte sie unwillkürlich Kalixtus' Arm und seufzte verwundert und erschrocken.

Es dauerte ziemlich lange, bis ihr die Handlung zu Sinn und Bild erwuchs. Allmählich faßte sie das Geschehen auf, und ihre atemlose Teilnahme wandte sich völlig dem unglücklichen und herrlichen Karl Moor zu. Als er auf das Podium trat, gewaltig, in einem Hut mit nickender Feder, mit blitzeschleudernden Augen, die Arme wie Windmühlenflügel warf und mit einer Stimme, daß die Luft erbebte, gegen die Menschheit raste, stieß Kalixtus Zoff Christine an und tuschelte ihr zu: »Das ist er. Das ist der Polivka.«

Christine konnte es kaum glauben. Doch in der Erschütterung ihres Gemüts lösten sich Zweifel und Staunen, und gegen das Ende des Stücks konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte so, daß die Leute sich nach ihr umdrehten und der Korporal in Verlegenheit geriet. Während des Ausbruchs von Schmerz wurde ihr wunderlich wohl; es kam ihr dumpf zu Bewußtsein, wie selten sie geweint hatte, ja, sie erinnerte sich eines solchen Falles gar nicht, und sie empfand etwas wie Genuß und Freude dabei.

»Also jetzt werden wir uns den Polivka holen«, sagte Kalixtus Zoff nach dem fünften Akt laut, indem er sich erhob und stolz um sich blickte, als wolle er dem ganzen Publikum zu verstehen geben, daß er der Freund des hochbewunderten Künstlers sei. »Famos hat er seine Sache gemacht, famos. Eine Lunge, da könnt ihn ein General drum beneiden.«

Christine wollte nach Hause gehn. Als Ausrede sagte sie, ihr sei schlecht, und da Kalixtus Zoff ungehalten wurde, bat sie dringlich und schaute ihn flehend an. Er zuckte die Achseln und ließ sie stehen. Mit seiner lärmenden Munterkeit wandte er sich zu einer Gruppe von Bekannten Polivkas, und alsbald trat auch dieser hinzu, wieder in seinem alltäglichen Gewand, abgeschminkt und ein wenig bleich im Gesicht. Er drückte allen die Hand und lächelte eitel.

Froh, ihn noch gesehen zu haben, eilte Christine hinweg. Auf der Straße wehte ein kalter Wind. Sie spürte ihn nicht. Ihr Inneres war warm von Verehrung, von einer neuen Kraft, einer neuen Sehnsucht.

*

Polivka merkte die Veränderung in Christines Wesen, deutete sie aber anfangs falsch. »Was ist denn mit deiner Christin, warum ist sie denn so bös auf mich?« erkundigte er sich eines Tages bei Kalixtus Zoff.

»Die Christin? Bei der hast du was Schönes angerichtet mit der Komödi«, erwiderte der Korporal; »die ist ganz weg seitdem, ganz weg, sag ich dir.«

Da ging dem Friseur ein Licht auf.

Und er schaute sich Christine genauer an. Sie war nicht übel, ungeachtet ihrer dreiunddreißig Jahre. Ihr Aufputz und ihr Gehaben freilich waren unscheinbar und allzu bescheiden, und ihr Gesicht mit den weichen Lippen und den traurig blickenden Augen war anziehender, als man es sonst bei diesem Stande findet.

Polivka verspürte Lust, eine Erwartung zu erfüllen, deren Gegenstand seine, auch von ihm selbst vergötterte Person war. Mit angenehmem Schauder malte er sich aus, daß er in dem Dasein der armen Dienstmagd die Rolle des Herrschers spielen würde, und während er die Bartstoppeln seiner Kunden einseifte, schlossen sich seine Augen poetisch träumend. Daß er, um Christine zu gewinnen, den Freund hintergehen mußte, verursachte ihm weiter keine Skrupel.

Wie groß war daher sein Verdruß, als er bei dem ersten Schritt, den er gegen Christine unternahm, eine schnöde Zurechtweisung erfuhr. Sie sah ihn erstaunt an, und er war vollkommen eingeschüchtert. Am nächsten Sonntag begrüßte ihn Kalixtus Zoff mit einem freundschaftlichen Rippenstoß und rief lachend aus: »Polivka, du bist ein falscher Hund.« Der Friseur wurde vor Verlegenheit und Ärger grün und gelb und zerbrach sich den Kopf, was er nun anfangen solle. Der Korporal schien des Mädchens verdammt sicher, andererseits war Christine plötzlich im Wert gestiegen, da er sie durchaus nicht so willig gefunden, wie er geglaubt hatte. Er bezog also einen Posten im Hinterhalt und beschloß, die Sache vorsichtiger anzupacken.

Doch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Er hatte Christine durch seine grobe Annäherung verletzt. Es war ein Zwiespalt in ihrem Gefühl für Polivka; sein Bild war ihr etwas Weihevolles und Teures; wenn sie an ihn dachte, wurde ihr die Brust weit und die Seele warm; seine persönliche Nähe aber erschreckte und enttäuschte sie, und sie suchte dann den andern Polivka, von dem sie träumte. Ihrem Kalixtus die Treue zu brechen, das kam ihr bei alledem gar nicht in den Sinn. An diesen Mann hielt sie sich für gebunden, so lange, bis er selber sie von sich stieß. Sie wußte, daß er seinerseits es mit der Treue nicht genau nahm, aber sie richtete nicht darüber, sie maßte sich nicht an, darüber zu richten, sie betrachtete sich als sein Eigentum, über welches er verfügen konnte nach seinem Willen, ja, nach seiner Laune.

Indessen kam die Zeit, wo der Kaiser, wie Kalixtus Zoff es gesagt, seine Soldaten brauchte. Der Erzherzog-Thronfolger war ermordet worden, und die Serben forderten das Reich heraus, forderten die Welt heraus. Und der Russe machte mobil, der Engländer stand drohend auf, und alles Land, das solange den Frieden beherbergt hatte, schauderte in der Ahnung millionenfachen Todes.

Da mußte denn endlich auch ein Polivka begreifen, was der Soldat ist, und wozu er frommt. Denn alle andern begriffen es gleichfalls, ihr ganzes Vertrauen wandte sich dem Verteidiger ihres Gutes zu, der nun selber seiner Bestimmung inne wurde und, nach altüberlieferter Weise, den Krieg als ein fröhliches Abenteuer zu nehmen sich anschickte. Daß dies Äußerste sich ereignen könne, war ihm freilich nie in den Sinn gekommen, und den Ernst der Dinge faßte er noch nicht. Am bangsten war den Frauen zumute; um ihre Herzen dunkelten schon die Schatten der Zukunft. Ein schmerzliches Erstaunen war in ihrer Seele, und unbewußt sonderten sie ihr Tun von dem der Männer, das ihnen geheimnisvoll und frevelhaft dünkte.

Es wurde mancher zum Helden, der sich einer solchen Wendung nicht versehen hatte, und manche Liebe wurde wieder neu, die von der Gewohnheit ausgetilgt schien. In einer Nacht, die Christine ohne zu schlafen verbrachte, flickte sie die Wäschestücke, die Kalixtus Zoff mit ins Feld nahm. Er hatte Eile, denn das Regiment sollte schon am folgenden Tag auf die Bahn marschieren. Sie hätte viel mehr für ihn tun mögen, und wenn liebender Vorsatz Fäden fester knüpfen könnte, wären die Hemden und Taschentücher unzerreißbar geworden. Ja, ihr war bang zumut, und ihr Herz war umdunkelt; doch gedachte sie mit Rührung des Mannes, an dessen Schicksal einzig das ihre hing, und der nun auszog, vielleicht auf Nimmerwiederkehr.

Auch sie hatte in seinem Berufe niemals die Gefahr vermutet, im entferntesten nicht. Ein so leichtes Leben, so sorglos, so spaziergängerisch; und das ihre daneben, wie hart, voller Plage, voller Gram. Sie hatte es ihm übelgenommen, daß er so in die Welt hineinlachte und nicht säen und sich mühen wollte; und jetzt sollte es ihm vergolten werden; von einem Tag auf den andern konnte es aus sein mit ihm, die Kugel war schon gegossen, die ihn treffen konnte, und traf sie ihn, wie gut dann und gerecht, daß ihm kein Kummer das Dasein geschwärzt hatte.

Sie sagte sich wohl zehnmal vor: ich will ihm die Treue halten. Warum nur? Sie hatte keinen bösen Gedanken dabei, sie fürchtete sich nicht. Sie gab sich selbst die Versicherung, ihm die Beruhigung. Ihre Sehnsucht war weit weg von ihr; in den entlegensten Träumen nur lockte Karl Moor. Sie war so trocken, so ruhig; vor dem Ungeheuren der Welterschütterung verwundert-andächtig. Und doch, seltsame Menschennatur, umfaßt du, umfaßt dich schon alles, was unerlitten in dir keimt?

Früh am Morgen fand Kalixtus Zoff eine halbe Stunde Zeit, um mit ihr den Knaben zu besuchen. Das jetzt vierjährige Kind hatte eine fahle Gesichtsfarbe, und als ihm sein Vater ein Stückchen Schokolade gab, das er mitgebracht, leuchteten seine Augen gierig. Frau Tomasek, die Pflegemutter, sagte, es sei nicht zu sättigen, dazu lachte Kalixtus Zoff, aber Christine verspürte Zweifel bei dieser Rede, das verlassene Geschöpf tat ihr leid, das Wort Mutter klang an seinem Mund so fremd, und sie überlegte, wie sie es anstellen sollte, um das Kind zu sich zu nehmen.

Um Mittag ging sie auf den Bahnhof, und der Friseur begleitete sie. Mit ängstlich gefalteter Stirn studierte er die Aufgebotsplakate an den Mauern. »Halt dich wacker, Zoff«, sagte er beim Abschied zu Kalixtus.

»Servus, Polivka, alter Schaumschlager«, erwiderte der Korporal munter, und zu Christine sich wendend, sagte er mit aufgerissenen Augen und strengem Ton: »Lebwohl, Tinerl, und daß du mir treu bleibst.«

»Und du, daß du gesund bleibst,« stammelte sie, schaute ihn an, schaute wieder weg, und ihr Blick verlor sich im Gewühl der Soldaten.

*

Polivka, als ein Wann, der auf Profit bedacht war, strebte danach, den Platz, den Kalixtus Zoff leer gelassen, wenigstens insofern auszufüllen, als er sich des Zuflusses von Naturalien versicherte, den der Korporal aus der Küche des Warenhausbesitzers genossen hatte. Jeden Abend kam er zu der Stunde ans Haustor, in der Christine zum Greißler ging, und um sein Ziel zu erreichen, beschritt er künstlich gewundene Wege der Beredsamkeit, der scherzhaften und elegischen Anspielung, wie wenn sein Magen der Wächter seiner Sympathie und der Schutzengel des Abwesenden wäre.

Dessen bedurfte es bei Christine nicht; der Heimlichkeit nicht und der List nicht. Die Eßwaren, die sie Kalixtus gegeben, hatte sie von dem, was ihr zugemessen war, erübrigt; zu keiner Zeit hatte sie das Vertrauen ihrer Herrschaft mißbraucht und sich auf Raub und Diebstahl verlegt. Sie war bedürfnislos auch im Essen, jetzt mehr noch als früher. Wer selber kocht, wird bald satt. Doch hätte sie nicht gewagt, dem Friseur anzubieten, was der Korporal solange genossen hatte; er schien ihr zu hochstehend, zu stolz hierzu, und als er selbst das erste Wort sprach, war sie zwar überrascht, erfüllte aber gern seinen Wunsch.

Polivka war ein Feinschmecker. Fleisch durfte nicht zu fett sein, zu mager auch nicht; von Mehlspeisen schätzte er nur Torten und mürbes Gebäck; Wurst und Käse war unter seiner Würde.

Eines Tages ersuchte er Christine um ein Darlehen von vierzig Kronen. Infolge des Krieges war sein Geschäft zurückgegangen, die Einnahmen flossen von Woche zu Woche dürftiger.

Daß sich Christine etwa fünfhundert Kronen erspart hatte, wußte er von Kalixtus Zoff. Aber er wusste auch, daß der Korporal, so leichtsinnig er sonst war, es sich zum strengen Grundsatz gemacht hatte, von diesem schwerverdienten Geld die Finger zu lassen, Polivka dachte minder ehrenhaft; nach jeder Gelegenheit pirschend, die ihm einen Genuß versprach, war er noch viel gieriger und zäher, wenn er sich in Not befand.

Christine war zu gutmütig und mißtraute ihm zu wenig, um seinem nach Kavaliersart vorgebrachten Verlangen ein Bedenken oder gar eine Weigerung entgegenzusetzen. Als sie ihm das Geld einhändigte, zerknüllte er die beiden Scheine, steckte sie in seine Westentasche und machte ein Gesicht, wie wenn ihm eine alte Rechnung bezahlt worden wäre.

Die Frist, nach welcher er das Geld hatte zurückgeben wollen, verstrich, und statt sein Wort zu halten, forderte er neuerdings eine Summe von zwanzig Kronen. Aus den sechzig Kronen wurden hundert, aus den hundert zweihundert, dann dreihundert, dann vierhundert, und so ging es bis zur Neige. Fünfzehn Jahre hatte es gedauert, bis das Geld beisammen gewesen war; vier Monate dauerte es bloß, und es war dahin, Polivka führte bald diesen, bald jenen Umstand an, der ihn ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen zwang; die Steuer war fällig, der Wirt hatte keine Geduld mehr, der Schneider wollte pfänden. Im Anfang hatte er das Geld wirklich benutzt, um seiner bedrängten Lage aufzuhelfen; als er es aber so leicht fand, in den Besitz von Christines Ersparnissen zu kommen, bildete er sich ein, die Quelle sei unerschöpflich, und vergeudete, was sie ihm gab, in Gesellschaft lustiger Kumpane.

Er gehörte zu den Gewohnheitsspielern bei der Lotto-Kollektur und sprach von einem demnächst zu erwartenden Haupttreffer mit der Sicherheit, mit der man auf ein Bankguthaben hinweist. Auch erzählte er von einem reichen, aber geizigen Onkel, der irgendwo in Böhmen auf einem großen Anwesen saß, mehrere Säcke voll Gold im Keller vergraben hatte und dessen Tod täglich zu erhoffen sei. Er schwärmte von dem großartigen Leben, das er dann führen wolle, und eines Sonntags besichtigte er sogar mit Christine eine Villa in Hietzing und sagte, mit der Zunge schnalzend, auf das Häuserl verspüre er schon lange Lust, sobald der böhmische Onkel abgekratzt sei, werde er sich's kaufen.

*

Christine glaubte alles; das heißt, sie glaubte, wie man glaubt, wenn man sich vor der Wahrheit fürchtet. Als sie Polivka den größten Teil ihrer Habe ausgeliefert hatte, wußte sie ungefähr, was für eine Bewandtnis es mit seinen Versprechungen und seinen Schwüren hatte. Sie sah, daß er nichts arbeitete, und daß es mit ihm bergab ging. Die Nächte brachte er in Kneipen zu, und den Tag über lag er in den Federn. Als sie Mutter geworden war, hatte Christine erst angefangen, sich ihres Spargroschens zu freuen; es war ihr liebster Gedanke, daß das Geld einstens dem Joseph nützen, seine ersten Schritte auf der harten Lebensbahn erleichtern würde; wie sollte sie dem Kind gegenübertreten, wenn es Kleider und Wäsche und Schuhe verlangte und Bücher zum Lernen, und sie hatte nichts, war bettelarm wie als blutjunges Ding? Was sollte sie ihm sagen, was sollte der Knabe von ihr denken, und wie würde es ihm ergehen?

Sie zürnte Polivka nicht. Er war noch immer der Gegenstand ihrer tiefen Verehrung. Er war es durch ein Gesetz ihrer Natur, kraft einer geheimnisvollen Beharrlichkeit ihrer Seele, die das einzige Bild höherer Menschenart, welches sie in einer Stunde des Glücks empfangen hatte, nicht mehr zu lassen vermochte. Dawider hatte auch der Verlust des Geldes keine Macht, so grausam er sie berührte. Sie wiegte sich in den Wahn, Kalixtus werde ihr das Geld wieder verschaffen, wenn er zurückkehrte; sie meinte, Polivka werde dann den Mut zu Ausreden nicht finden und alles ersetzen.

Indessen bereitete es ihr doch Sorge, daß sie seit seinem Auszug nichts von Kalixtus gehört hatte. Er hatte ihr versprochen, regelmäßig zu schreiben, und noch keine Zeile hatte sie von ihm erhalten. Ihre eigenen Briefe blieben unbeantwortet. Man sah schon viele Verwundete auf den Straßen; sie blickten alle so ernst und müde drein; oft trieb es sie, einen zu fragen, aber sie hatte Angst davor. Die Leute raunten sich beunruhigende Nachrichten zu, in den abendlichen Versammlungen beim Greißler wurde unverhohlen geäußert, es stehe schlecht draußen, und wenn sie sich an Polivka wandte, machte er ein Gesicht, als bekäme er jeden Morgen die wichtigsten Depeschen vom Generalstab, und sagte mit einer österreichischen Freude am eigenen Unglück, die Sache werde ein böses Ende nehmen.

Ihr banger Blick irrte weit fort, und in der Nacht betete sie für das Leben von Kalixtus. Ihr Herz schlug matter, wenn sie seiner gedachte, als gäbe sie ihn schon halb verloren. Rauschte dann das Blut wieder auf, so schoß ihr wild und heiß der Gedanke an ihren Joseph in den Sinn, und sie warf die Arbeit beiseite und lief zu Frau Tomasek, um das Kind zu sehen. Da sah sie nicht ein rachitisches Knäblein, ein blasses, verschüchtertes, sondern etwas verheißungsvoll Emporblühendes, ein Wesen, das ihr unbestritten und uneingeschränkt zu eigen war und das sie plötzlich liebte über alles Maß.

Sie faßte nun den Vorsatz, des Geldes wegen noch einmal mit Polivka zu sprechen. Es war ein Nachmittag im Dezember, als sie hinging, grauer, triefender Nebel hing in den Straßen. Polivkas Laden war geschlossen, sie ging zum nächsten Tor; der Friseur wohnte dort in einem erdgeschössigen Zimmer.

Sie trat ein. Polivka lag angekleidet auf dem Bett und rauchte. Die Wände waren mit Photographien von Schauspielern und Schauspielerinnen bedeckt. Auf dem Tisch standen leere Bierflaschen, Kaffeegeschirr, eine Lampe mit zerbrochenem Sturz und ein paar schmutzige Stiefel.

Polivka erhob neugierig den Kopf und fragte, was sie wolle. Da verlor Christine den Mut, ihn zur Rede zu stellen.

Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte gegen die Zimmerdecke. »Der Kalixtus ist tot«, sagte er ganz unvermittelt.

Christine war es, als rinne ihr alles Blut aus dem Hirn.

Er habe es von Frau Grieshacker erfahren, fuhr Polivka fort, und dieser sei es von einem Zugführer berichtet worden, der beim selben Regiment gewesen. Er seufzte und schloß die Augen.

Christine rührte sich nicht. Nach einer Weile drehte sie sich um und verließ lautlos das Zimmer, Polivka sprang vom Bett empor, riß die Tür auf und rief sie beim Namen.

Sie kehrte zurück und stand mit herabhängenden Armen vor ihm.

»Jetzt g'hörst mein«, sagte er.

Sie antwortete nicht und ging fort.

Grieshackers waren umgezogen, sie wohnten jetzt in Meidling. Am Abend fuhr Christine hinaus. Die Frau empfing sie freundlich. Auch ihr Mann war im Feld, und sie war seit langem ohne Nachricht von ihm. Was Kalixtus betraf, so konnte sie nur wiederholen, was sie von dem Zugführer wußte. Sie setzte sich an den Tisch, drückte die Schürze vor das Gesicht und weinte.

Dann erkundigte sie sich, wo das Kind sei und wie es ihm gehe. Da Christine traurig vor sich hin sah, sagte sie, sie möge ihr doch den Buben bringen. Christine versprach es.

*

Um diese Zeit lag Kalixtus Zoff auf einem Schlachtfeld in Polen. Ein Granatsplitter hatte ihm den rechten Arm weggerissen. Der Notverband, den ihm ein verwundeter Kamerad angelegt, hatte die Blutung nicht zu stillen vermocht. Von brennenden Schmerzen gequält, lag er in einer nassen Mulde und wartete, daß man ihn auffinden und ins Feldspital tragen würde.

Die Geschütze waren verstummt; von überall her, von nah und fern drang Stöhnen und Wimmern an sein Ohr.

Er dachte an Wien, wo er ein so lustiges und sorgloses Leben geführt, an Christine und die Spaziergänge mit ihr, und an seinen kleinen Sohn mit dem großen Kopf und den furchtsamen Augen. Doch der Gedanke an Christine verdrängte alle andern Vorstellungen. Er sah sie so genau und so deutlich, als hätte er erst vor einer Stunde mit ihr gesprochen. In den sechs Monaten, die seit seinem Abschied verflossen waren, war sie ihm kein einzigesmal so gegenwärtig gewesen wie jetzt, wo er auf der schlammigen Erde lag und sich nicht rühren konnte.

Sie schaute ihn mit einem vorwurfsvollen Blick an, der ihn erschreckte. Es schien ihm, daß er schlecht gegen sie gehandelt hatte, aber worin diese Schlechtigkeit bestand, vermochte er nicht zu ergründen.

Als es Nacht wurde, hob er den Kopf und gewahrte dunkle Gestalten, die sich vor dem bewölkten Himmel bewegten. Es waren Sanitätsleute. Er wollte rufen und konnte nicht. Sie gingen vorüber. Seine Stirn bedeckte sich mit kaltem Schweiß.

Die Wunde fing an, immer ärger zu brennen. Er tastete mit der linken Hand hin, die Finger fühlten sich naß von Blut an. Was wird mit mir geschehen? dachte er; und was wird mit ihr geschehen? Sein Herz war plötzlich voll ungekannter Zärtlichkeit für Christine.

Mit Anstrengung hob er von neuem den Kopf. Das Feld war öde. Über dem Fluß schimmerte fahler Mondschein zwischen dem schweren Gewölk. Da kroch an der Erde ein unförmlicher Klumpen daher, ein Klumpen, der stark atmete, laut schnüffelte, heiser und gierig grunzte.

Es war ein schwarzes Schwein, groß wie ein Bär, mit hängender Wampe, kotstarrenden Borsten und wildfunkelnden Augen. Wahrscheinlich hatte es im Kober lange gehungert und war ausgebrochen, um sich auf dem Schlachtfeld Nahrung zu suchen.

Keuchend wälzte sich der Klumpen heran. Kalixtus Zoff spürte einen heißen Hauch im Gesicht. Das Schnüffeln klang freudig und ungeduldig; der Geruch des frischen Blutes wirkte berauschend auf das Tier. Von Entsetzen gelähmt, überlegte Kalixtus, wie er sich des Angriffs erwehren sollte. Keine von den Schlachten, in denen er gekämpft, hatte solchen Schrecken und Schauder in ihm erweckt.

Wie geht denn das zu? fuhr es ihm durch den Kopf; warum muß ich denn da liegen und wie ein Stück Vieh krepieren? Warum ist denn mein Arm weggerissen? Ich bin ein Krüppel, für ewig ein Krüppel. Warum darf denn das sein, dieses ganze fürchterliche Elend, das auf einmal in der Welt herrscht?

Er machte eine Bewegung mit der Schulter; das Schwein stutzte. Dann näherte es sich abermals, mit vermehrtem Ungestüm. Er wiederholte die Bewegung, es grunzte zornig und stieß den Rüssel in sein Gesicht. Hierauf begann es mit einem gräßlichen Geräusch am Blut zu lecken; noch eine Weile, und es würde die Hauer ins Fleisch wühlen. Ekel und Verzweiflung flößten Kalixtus letzte Kräfte ein. er fuhr mit der Linken an seinem Leib entlang, ergriff den Patagan, zog ihn aus der Scheide und bohrte die blanke Waffe tief in den Bauch des Schweins.

Das Tier stieß einen markerschütternden Schrei aus. Es war ein Schrei, der die schweigende Nacht, das ganze Himmelsgewölbe erfüllte und wie ein rasendes Aufbrüllen des Dämons klang, der die Menschheit in seinen Klauen hielt. Kalixtus Zoff schwanden die Sinne, aber durch den Schrei des Schweines waren die Ärzte und ihre Gehilfen aufmerksam geworden; sie kamen alsbald von der andern Seite des Flüßchens herüber, gewahrten das im Todeskrampf tanzende Tier und fanden den leblosen Körper des verwundeten Mannes.

*

Christine hielt ihr Versprechen und brachte Joseph zu Frau Grieshacker, bei der er auch blieb. Frau Tomesek war sehr erbost hierüber und verlangte plötzlich Entschädigung für allerlei Auslagen, die sie gehabt haben wollte. Christine mußte lange streiten, bis jene sich endlich mit einem Teil der ungerechten Forderung zufrieden gab, und da sie für ihren Pflegebefohlenen eine echte Anhänglichkeit zu empfinden schien, erbat sich Christine von Frau Grieshacker die Erlaubnis, daß die Tomasek an Sonntagen das Kind besuchen dürfe.

Frau Grieshacker übernahm den Knaben gern, und sie sagte, er sähe Kalixtus ähnlich. Es wohnte noch eine Schwester bei ihr, Frau Wandl mit Namen, eine hagere, schweigsame Person, die sich viel mit dem Knaben beschäftigte, aber dabei so tat, als möge sie ihn nicht leiden.

Wenn die vier Frauen beisammensaßen, hielten sie während des Gesprächs die Blicke, jede mit anderm Gefühl, auf den zu ihren Füßen spielenden Joseph gerichtet. Bisweilen kam auch Polivka, aber er war nicht mehr der anregende Spaßmacher von ehedem, sondern brütete finster vor sich hin oder griff zu Herrn Grieshackers Ziehharmonika und gab seiner üblen Laune und seinem Pessimismus musikalischen Ausdruck. Dann drängte er Christine, sie solle mit ihm ins Wirtshaus gehen, und auf ihre Weigerung ging er zornig seines Wegs allein.

Einmal folgte sie ihm und redete ihm zu, nicht ins Wirtshaus zu gehen. Höhnisch erwiderte er, was er denn vom Leben habe ohne das Wirtshaus. Wenn er ihr zuliebe etwas unterlassen solle, müsse sie auch ihm zuliebe etwas tun. Davon möge er nicht wieder anfangen, sagte Christine, da werde ihr ganz elend ums Herz, er solle doch an den armen Kalixtus denken. Ei was, versetzte er, tot sei tot, und wen die Erde verschlungen habe, den gebe sie nimmer heraus. Sperre sie sich noch länger, so müsse er eben saufen.

Christine war des Schwatzens müde und fragte sich im Innern, warum sie soviel Aufhebens von einer unbedeutenden Sache mache, wem zu Dank? Durfte sie sich kostbar machen und zieren, wenn der verzweifelte Mensch gerade daran sein Verlangen hing?

Ihre Sinnesänderung witternd, ergriff Polivka ihren Arm, und seine Stimme schmeichelte. Aber in seinen Worten lag die zynische Gleichgültigkeit des Verkommenen, der kein Ziel und keinen Glauben mehr hat, und dem das allgemeine Leiden der Menschheit nur den Vorwand gibt, im Revier niedriger Genüsse zu wildern.

Christine ging mit ihm in sein unaufgeräumtes Zimmer, und sie legten sich in das schmutzige Bett. Sie gab sich ihm hin, wie man ein Opfer vollzieht, und ihre Traurigkeit war groß, denn das Bild der Sehnsucht, das er einst in ihr erweckt hatte, verblaßte und versank mit dieser Stunde.

Und als sie von dem Manne wegging, fühlte sie sich von einer nagenden Unruhe um ihren Joseph ergriffen. Ihr war, als habe sie dem Kind einen unheilbaren Seelenschaden zugefügt, ihre Gedanken verwirrten sich, und sie hatte keinen Schlaf und keine Ruhe mehr. Dabei traute sie sich nicht in das Haus, wo der Knabe war; jeden Tag lief sie hin, und wenn sie in der Nähe war, kehrte sie wieder um. Sie fürchtete seinen Anblick; sie fürchtete, auf seinem Gesicht alle die Leiden und Entbehrungen zu lesen, die sie sich einbildete; sie verlor die Lust an der Arbeit, und es kam so weit, daß die geduldige Frau Laubeseder ihr den Dienst aufkündigte, und in dieser Zeit entdeckte sie außerdem zu ihrem Schrecken, daß sie schwanger war.

Einen Tag, bevor die Kündigungsfrist abgelaufen war, sagte Frau Laubeseder, die Mitleid mit ihr hatte, sie könne, bis sie eine neue Stelle gefunden habe, getrost bleiben. Christine antwortete aber, sie gehe überhaupt nicht mehr in Stellung, sondern sie werde jetzt ihren Joseph zu sich nehmen und mit ihm leben. Wie sie solches bewerkstelligen wollte, ohne zu dienen, das sagte sie nicht, das wußte sie auch wahrscheinlich nicht.

Am andern Morgen packte sie ihre Habseligkeiten in den hölzernen Koffer, die Kleider, Schürzen, Hemden und Strümpfe; die Bilder an der Wand, den wächsernen Pfirsich, den rotseidenen Behälter mit dem Fingerhut, den Porzellanzwerg, das Gebetbuch und die Glasperlenkette. Dann ließ sie sich ihren Lohn auszahlen, verabschiedete sich von der Herrschaft, die so gut gegen sie gewesen war, und rief den Sohn der Hausmeisterin, damit er ihr den Koffer tragen helfe. Er fragte sie, wohin es gehe, und sie antwortete, zum Friseur Polivka gehe es.

Polivka bereitete ihr keinen unfreundlichen Empfang, da sie Geld mitbrachte sowie auch einige Gegenstände von Wert, die man verpfänden konnte.

Er gab scharf acht auf ihre Reden, da er entschlossen war, sich weder Ermahnungen, noch Vorwürfe gefallen zu lassen.

Als sie sich daran machte, in das wüste Durcheinander der Stube ein wenig Ordnung zu bringen, sah er ihr mit mißbilligenden Blicken zu.

Am Abend teilte ihm Christine mit, daß sie ihren Joseph von Frau Grieshacker abholen werde. Er brauste auf und erklärte, der Bankert käme ihm nicht ins Haus. Christine erbleichte und antwortete ruhig, dann müsse sie eben mit dem Joseph anderswohin gehen. Da verstummte Polivka, und erst nach einer Weile fragte er, wieviel sie noch an barem Geld besitze. Christine erwiderte, es seien fünfunddreißig Kronen und etliche Heller. Er schien bestürzt und erkundigte sich noch einmal, ob das alles sei. Sie nickte. Nun, so könne sie ihm jedenfalls noch das Geld für den Zins borgen, meinte er. Sie war dazu bereit.

»Verflucht, verflucht, wie wird's uns nachher gehn!« murmelte der Friseur.

O diese Nacht, Leib an Leib, Not an Not! Diese frostige, nasse, dumpfe, endlose Nacht!

»Verflucht, verflucht!« murmelte Polivka wieder, ehe er einschlief, und kratzte seinen lockigen Kopf. Christine aber schaute ihre roten Hände an und dachte an die viele Arbeit, die sie schon bewältigt hatten und die sie noch bewältigen konnten. Da war ihr nicht mehr so sehr angst.

Um sechs Uhr erhob sie sich leise, aber Polivka hatte sie gehört, packte sie rauh am Arm und sagte, sie solle doch in des Teufels Namen den Bankert lassen, wo er sei. Christine blickte sich um und antwortete mit leidenschaftlichem Ernst, eher wolle sie hin werden, als daß sie ihr Kind noch einen Tag länger unter fremden Leuten lasse.

Sie wusch sich und kleidete sich an, und als sie fertig war, sagte sie, ihr ganzes Leben hindurch habe sie sich geschunden für fremde Leute, nun wolle sie einmal verspüren, wie es tue, wenn man sich für eigenes Fleisch und Blut schinde. Dabei nahmen ihre Züge einen Ausdruck feuriger Zärtlichkeit an.

Jedoch Polivka schlief schon wieder.

Es war acht Uhr, als sie in Frau Grieshackers Stube trat. Aufgeregt kam ihr diese mit der Kunde entgegen, Kalixtus sei unvermuteterweise zurückgekehrt. Und wie damals, da sie die falsche Todesnachricht hatte bestätigen müssen, setzte sie sich an den Tisch und weinte in ihre Schürze hinein.

Diese Tränen flossen nicht aus dem Übermaß der Freude. Die Miene der Frau verriet noch etwas anderes als Freude über die Heimkehr des Bruders.

Nachdem sie sich gefaßt hatte, erzählte sie, gestern abend gegen sieben Uhr habe es geläutet, und da sei er auf einmal dagestanden. Er habe gleich gefragt, was mit Christine sei, denn ein Kamerad, den er zu Laubeseders geschickt, habe ihm gesagt, daß sie dort nicht mehr im Dienst stehe. Er wolle nun selber hingehen, vielleicht könne ihm der Hausmeister sagen, wo sie wäre.

Christine, die bisher wie eine Bildsäule gestanden war, fing an zu zittern und mußte sich an der Wand festhalten.

Fünf Monate sei er in einem Spital an der Grenze gelegen, erzählte Frau Grieshacker weiter. Einen andern schreiben lassen, das habe er nicht gewollt, und selber schreiben habe er nicht gekonnt. Sie seufzte. Es war ein Seufzer von einer schlimmen Art.

Plötzlich rief Christine: »Joseph!« Und wieder: »Joseph!«

Der Knabe mit dem abnorm dicken Kopf zeigte sich auf der Schwelle. Der Blick, mit dem er seine Mutter betrachtete, war stupid.

Christine kniete hin und umschlang ihn. Sie hob ihn auf ihre Arme, schaute wild um sich, und ehe Frau Grieshacker fragen oder ihr in den Weg treten konnte, war sie mit dem Knaben aus dem Zimmer und aus dem Haus geeilt.

Nur fort, schoß es ihr siedendheiß durch das Hirn, nur fort aus diesem Leben, fort aus dieser Welt.

Als sie zu Polivka zurückkam, war eben der Hausverwalter bei ihm gewesen. Er hatte den Zins bezahlt, denn Christine hatte ihm am Abend noch das Geld gegeben. Er saß in Unterhosen am Tisch, hatte die Zeitung vor sich und überlas wieder und wieder das neueste Heeresaufgebot, durch welches auch er zur Musterung gerufen wurde.

Seit Wochen hatte er sich davor gefürchtet. Nun war es soweit; und er dachte an das langweilige und anstrengende Leben in der Kaserne; er dachte an das grausame Geschick, gegen das es keinen Einspruch gab: auf das Schlachtfeld transportiert und totgeschossen zu werden.

Er hatte einen alten, verrosteten Revolver aus einer Lade genommen und neben die Zeitung gelegt.

Finster blickte er Christine an, die mit dem Knaben auf dem Arm hastig eintrat. Er wollte schelten, weil sie fortgegangen war, ohne für sein Frühstück zu sorgen, da stieß sie schon mit heiserer Stimme die Worte hervor, die ihn fahl und stumm machten. Eine Weile stierte er in die Luft, dann behauptete er, es sei erlogenes Zeug, er habe über Kalixtus' Tod verläßliche Meldung. Christine umklammerte mit ihrer freien Hand seine Schulter und berichtete schnellatmend, was sie von Frau Grieshacker erfahren hatte. Ihre Erregung, ihre Beklommenheit, ihre sichtbare Qual wirkten mehr als die Worte. Die Rache des Korporals war zu fürchten. Äußerst zu fürchten war dieser Mensch, der nun Blut genug hatte fließen sehen, um leichterdings noch einen Totschlag aufs Gewissen zu nehmen.

»Du mußt dich zusammenreißen, daß wir weg können«, sagte Christine mit flackernden Blicken. Sie fügte hinzu, Kalixtus könne jeden Moment zur Türe hereintreten, da ja der Hausmeister bei Laubeseders wisse, zu wem sie gegangen sei.

Während sich Polivka fertigmachte, griff Christine nach dem Revolver und steckte ihn in die Tasche ihres Kleides.

Bald waren sie auf der Straße. Christine trug noch immer den Knaben, obwohl ihr Arm schon lahm war. Polivka kaufte bei einem Greißler Brot und Speck und verzehrte beides im Gehen.

An der Stadtgrenze konnte Christine mit ihrer Last nicht mehr weiter, sie ließ Joseph neben sich laufen und führte ihn an der Hand, Polivka fragte unwirsch, warum sie es so eilig habe, sie gab ihm keine Antwort.

 

Sie irrten auf der Schmelz herum, kamen dann ins Liebhartstal und auf den Galitzinberg. Polivka fragte, wohin sie eigentlich wolle, sie gab ihm keine Antwort. Er folgte ihr, weil er nicht wußte, was er ohne sie hätte anfangen sollen, und weil ihr stärkerer Wille seine Feigheit und Ratlosigkeit bezwang. Er haßte sie, aber ihr zuwiderzuhandeln wagte er nicht. Er sagte, sie habe ihm das Leben verleidet und ihn zugrunde gerichtet, doch als sie eine noch schnellere Gangart anschlug, beschleunigte er gleichfalls seinen Schritt.

Auf einer Wiese in der Nähe des Steinhofs sank Christine erschöpft hin. Es wurde Abend, vom grauen Märzhimmel fiel Regen. Joseph weinte eine Zeitlang vor sich hin, dann schlief er ein. Polivka legte sich in der Nähe unter einen Holzstoß.

Die Verzweiflung in Christines Gemüt war wie Sturm und Brand. Sie schaute in das Gesicht des Knaben und schauderte vor dem Leben darin. Alles Gewesene stieg noch einmal vor ihr empor, und sie schauderte vor der schwarzen Hoffnungslosigkeit, die davon ausströmte. Ihr war, als öffne sich ein gefräßiges Maul über dem Haupt des Knaben, und diese Vorstellung war so deutlich, daß sie laut schrie. Sie nahm den Revolver aus der Tasche, probierte an ihm herum, spannte den Hahn, und plötzlich krachte ein Schuß.

Sie selbst war getroffen. Von ihrem linken Ohr träufelte Blut. Polivka war aufgesprungen. Von wahnsinniger Angst erfaßt, daß sie vielleicht sterben würde, ohne ihrem Kind den letzten Liebesdienst erwiesen zu haben, wiederholte sie den Handgriff, der ihr vorhin gelungen. Ehe Polivka herangekommen war, richtete sie den Lauf der Waffe gegen die Schläfe des Knaben, und ein zweiter Schuß krachte.

Polivka riß ihr den Revolver aus der Hand. Sie breitete die Arme über den Körper des Knaben und wurde ohnmächtig. Seltsamerweise spürte sie während ihrer Ohnmacht, daß Joseph tot war. Als sie die Augen aufschlug, sah sie trotz der Dunkelheit das bleiche Kind neben sich. Polivka stand vor ihr und weinte. Sie sagte: »Wir müssen das Kind begraben.« Polivka blickte sie furchtsam an und erwiderte, er wolle nichts damit zu schaffen haben, er gehe in die Stadt zurück und werde sie anzeigen.

Aber es erwies sich, daß er noch immer wie durch Zauberei an sie gefesselt war. Er sagte, er sei unschuldig, und sie müsse es beschwören. Sie jedoch grub mit einem Stück Holz ein Loch in den feuchten Waldboden. Sie legte den Knaben hinein und deckte ihn mit Erde und Laub zu. Hierauf betete sie kniend mit gefalteten Händen, und als sie aufstand, wunderte sie sich, daß sie noch lebte.

Sie verließen den Wald und kamen zu einem Brunnen. Dort wusch Christine ihre blutige Wange mit Wasser.

Der Gedanke an den Mord trieb sie beide zu den Menschen zurück. Ums Morgengrauen gelangten sie in die innere Stadt, traten in ein kleines Kaffeehaus und labten sich. Dann brachen sie wieder auf, gingen ins Franz-Josephs-Land und durchstreiften planlos die Praterauen. Sie wußten nicht, was sie tun sollten, kein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt.

Sie kauften sich Brot und Käse, Christine wollte nichts essen. Die Nacht verbrachten sie im Freien, und am Morgen begann wieder das furchtbare Wandern. So machten sie es fünf Tage und fünf Nächte. In der fünften Nacht flüchteten sie vor dem Regen in eine Scheune, der Hund schlug an, der Bauer entdeckte sie, wollte den Gendarmen holen, da eilten sie hinweg, so schnell die Füße konnten.

Christine stürzte zu Boden. Sie spürte sogleich, daß die Frucht in ihrem Leibe getroffen war, und nun wußte sie auch, was sie seit dem Tod ihres Josephs noch am Leben gehalten hatte. Sie vermochte nicht aufzustehen, Polivka betrachtete sie und rührte sich nicht.

»Was bist denn du für einer!« ächzte sie. Da entlud sich in ihm eine sinnlose Wut gegen das Weib, und er schlug mit Fäusten auf sie ein. Sie schrie und schrie, endlich ließ er ab und half ihr auf die Beine. Als sie die Stadt erreicht hatten, führte er Christine zu einer Ladentreppe und befahl ihr, sich niederzusetzen und auf ihn zu warten. Er ging fort und kehrte nicht mehr zurück.

Christine fühlte große Schmerzen. Ein alter Arbeiter blieb stehen und fragte, was ihr fehle. Sie bat ihn, er möge sie zur Straßenbahn begleiten. Er half ihr und führte sie hin und erzählte, daß ihm zwei Söhne im Feld gefallen seien.

Mit unsäglicher Mühe kam sie in das Grieshackersche Haus. Da war es aber mit ihrer Kraft vorbei.

Im Fieber wurde sie nach dem Kind gefragt; im Fieber bekannte sie, was mit dem Kind geschehen war.

Frau Grieshacker benachrichtigte die Polizei.

Warum hier nicht enden? Spannt sich aus solcher verlorenen Finsternis noch ein Bogen in die Hoffnung? Es weilen keine Genien bei diesem Schicksal, die Gestirne wandeln fremd und kalt über ihm. Und doch ist sein Ausgang umleuchtet von einem Glanz, dem wenig Irdisches mehr anhaftet, und vor dem die Gespenster und Dämonen erschrocken entweichen, als ob das enthüllte Antlitz der Gerechtigkeit Flammen gegen sie speie.

Als Christine im Inquisitenspital lag und nach Tagen todähnlicher Bewußtlosigkeit die Augen öffnete, sah sie an ihrem Bette einen Mann in Uniform sitzen, der nur einen Arm hatte. Sie erkannte in ihm Kalixtus Zoff.

Sein Gesicht hatte einen Ernst, den es in früherer Zeit niemals besessen. Die Wangen waren nicht mehr fett, das Kinn nicht mehr glänzend und rund, der Schnurrbart war nicht mehr in die Höhe gedreht. Er war ziemlich bleich, und sein Blick hatte etwas dunkel Erstauntes, als herrsche zwischen dem Kalixtus Zoff von einst und dem von jetzt ein unergründliches Geheimnis.

Christine langte scheu nach seiner Hand. Ihre Lippen bebten, sie schaute ihn an wie den Richter beim letzten Gericht.

»Sei still,« sagte Kalixtus Zoff, »ich weiß schon alles.«

Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht; sie sah aus wie das Kissen, auf dem sie lag. Die rechte Hand erhebend, deutete sie mit dem Zeigefinger geisterhaft nach oben.

Kalixtus Zoff nickte. »Gräm dich nicht, Tinerl,« sagte er, »ich weiß schon alles.« Seine Stimme klang verändert.

Sie suchte voll Angst seinen Blick und zitterte unter den Decken.

Er beugte sich zu ihr nieder und fuhr fort: »Ich bin dir wieder gut.«

Sie zitterte noch ärger und umklammerte mit ihren Händen seine eine.

»Ich bin dir wieder gut,« sagte er, »und wenn du deine Straf abgesessen hast, nachher heirat' ich dich.«

Christines Kopf fiel zurück. Etwas heilig Heißes, heilig Süßes überströmte sie.

Es war das erste Menschenwort, das sie vernahm, die erste Menschengüte, die sie erfuhr, das erste reine Glück, das sie genoß. Um dessentwillen verlohnte es sich, so gelebt und so gelitten zu haben, wie sie gelebt und gelitten hatte. Jetzt begann ein neues Sein.

Da sie aber fühlte, daß sie sterben mußte, zog sie das Amulett, das sie so viele Jahre am Hals getragen, unter dem Hemde hervor und reichte Kalixtus die Münze samt dem Kettchen mit einer Gebärde dankbarer Zärtlichkeit und mit dem Lächeln eines Weibes, das, wenn auch erst in der Todesstunde, endlich vom Strahl der Liebe berührt worden ist.


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