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August Stievkärzler und seine Mutter

Von Oskar Loerke

Durch überschwengliche Liebe zur Mutter und außergewöhnliche Ungeschicklichkeit zeichnete sich August Stievkärzler seit seinen frühesten Tagen aus. Sein erstes größeres Schicksal, erlitten im zweiten Lebensjahre, vereinigte schon diese beiden Merkmale seines Wesens und machte sie im kleinen Kirchdorfe allbekannt.

Seiner Mutter Hütte besaß zwei Zugänge zum Boden, einen vom Flur und einen von der Schlafstube her. Die Luke des zweiten war für gewöhnlich durch einen Deckel geschlossen und der Stubendecke angeähnlicht. Als die Weihnacht nahe war, stahl der Nachtwächter einen Tannenstrunk und brachte ihn der Witwe. Die hörte sogleich auf, in den roten Federbeutel zu greifen und Pfülmen von den Posen zu rupfen und stieg, den weihnachtlichen Engel-, Schaum- und Kettenstaat zu holen, auf den Boden. Damit August nichts merke und in der Wohnstube bleibe, gab sie ihm ein paar lange Federkiele in die Hand, wollte die Flurtreppe hinansteigen, den Flitterkram über die andere Treppe leise in die Schlafstube tragen und diesen Weg wieder zurücktun, als komme sie von draußen herein. Das Lukenbrett konnte sie nicht in seine Leisten legen, solange ihr Arm beladen war. Sie setzte daher den umfangreichen Karton sacht auf ihr Bett und wollte gerade das Loch schließen, als plötzlich August darin auftauchte und mit großem Geklapper und Geschrei herunterholperte. Zwischen ihm und der Mutter webte unzerreißbar immer etwas wie ein feines Mariengarn, auch durch Mauern und Fernen hin. Das Kind hatte sich die Flurtreppe mühsam hinaufgearbeitet, war blindlings über den Boden gerannt und in das Loch gestürzt. Er schlug sich auf den dreiundzwanzig Stufen blutig und wurde krank und verschwollen ins Bett gelegt. Er hätte auch wohl sterben können, und es war daher kein Wunder, wenn seine Mutter, die eben erst ihren Mann verloren, während der nächsten Tage sehr unglücklich schwieg und seine minder beteiligte Tante den Vorfall im Dorfe geschäftig verbreitete.

Damit war der Grund von Augusts Stellung zu seiner Welt gelegt: die Mutter wie einen Engel anzusehen, die Tante zu hassen, von beiden diese Gefühle erwidert zu finden und im Munde der Dorfleute ein Gespött und Gelächter zu sein.

Für das letzte schien ihn das Schicksal durch seine Mißgestalt bestimmt zu haben. Er hatte einen Wasserkopf, der ihm zwar mit Glück ausgepumpt worden war, so daß er vernünftig wie die anderen Kinder sich entwickelte, aber von roher oder versteckter Grausamkeit gegen schuldlose Verunstaltung sind die wenigsten Menschen frei, und kann man sagen, daß diese Grausamkeit stets ein Unrecht sei und nicht vielleicht ein Bewußtwerden eigener Kraft und Gesundheit? Freilich wird da auch die Zärtlichkeit Angehöriger zärtlicher. Und die Liebe der Mutter Augusts hatte nichts Demütigendes. Frau Stievkärzler war indessen arm und geriet mit ihrer Schwester, die bei ihr im engen Hause wohnte und etwas Vermögen besaß, oft in Zwist, wenn es sich um Geldausgaben handelte, zumal für August. Die Witwe wurde dadurch zu schroff gegen ihre Schwester und fast hätschelig gegen ihren Sohn. August lernte gegen die Tante Unbehaglichkeit fühlen in dem Maße, wie sie ihm unbarmherzig vorkam und ihn verklatschte.

Ungeschickt war der Wasserkopf wirklich. Er war ein Linkser, und weil er verschlossenen Mundes seinen Weg ging, wurde er bald der dumme August des Dorfes. Daß er im Heuschober versank und am Hosenboden hervorgezogen werden mußte, daß der Schwamm seiner Schiefertafel an einem zu langen Bindfaden pendelte und ihn zu Fall brachte, mußte er überhart büßen. Die kleinen Gehässigkeiten der Leute quälten ihn nachträglich sehr, und im weichen, von der Mutter liebevoll aufgeschüttelten Bett lag er oft wie auf einem großen Nesselkissen. Wie er viel auf die Erde, seine Kameraden viel auf den Himmel sahen, – ihre Gesinnungen waren verschieden wie die Farben des Himmels und der Erde.

Der mißgeschickte Knabe hatte unter allen Kameraden das Mißgeschick, beim Zuschauen eines Steinsprengens von einem abgesplitterten, scharfkantigen Keil getroffen zu werden und das rechte Auge zu verlieren. Die ungeschickte rechte Hand und die geschicktere linke streichelten die Kinnspitze der Frau Stievkärzler. Sie fuhr dafür mit ihrer Hand durch die rötlich-blonden Haare des Wasserkopfes und schätzte sich selig, wie einen so weiten Weg die Finger zu krauen hätten.

Die Schule war für August eine Qual. Zur Erholung lernte er im zwölften Lebensjahre bei der Mutter schnitzen, schlichte Holzgegenstände, bestimmt, auf dem Jahrmarkt feilgeboten zu werden und im dunkelsten Winkel der Küche oder unter den Tischen wilder Kinderstuben traurig zu verschwinden. Sein verstorbener Vater, ein dürftiger Kätner und Gelegenheitsarbeiter, hatte solchen Kram einst mit der Mutter herzustellen begonnen. Seine Bude hatte ihren regelmäßigen Platz vor der Kutscherkneipe am Marktplatz der Nachbarstadt erhalten, wo Frau Stievkärzler sie noch immer aufschlug. Es erquickte August, mit dem geliebtesten Wesen bei einer Beschäftigung zu sitzen, die zwischen ihnen beiden blieb, und solch wunderschöne Dinge zu fertigen. Die unbekannten Leute, die sie kauften, spotteten nicht wie die Dörfler; oft staunten sie über die Ware, und das machte ihn im stillen bescheiden stolz und froh. Und der Handel brachte einigen Gewinn, so daß der Tante das Trutzrecht ihres Beutels auf eine Weile genommen war. August zeigte sich bei der Schnitzarbeit merkwürdig geschickt. Die Hände waren in jenen Stunden seine Seele, und die Mutter wußte das. Sie freute sich, wie das Holz von Augusts Liebe zu ihr erzählte: Es entstanden Quirle mit den regelmäßigsten Zacken, ohne Tadel gerundete Stampfkeulen, wohlausgehöhlte Holzlöffel in allen Größen, wie ein so hoher Grad der Vollendung von nur mit dem Messer bearbeiteten Gegenständen irgend verlangt werden konnte. Für die Kleinen unter den Kindern wurden steife Pferde aus weichem Holz modelliert und Schafe, die sich von ihnen nur durch einen Drusel aufgeklebter Wolle unterschieden, sowie Puppen, die auch den Tuschkasten zu fühlen bekamen in Blutflecken auf der Backe und beulenblauen Augen. – Alles war Anhänglichkeit an die Mutter.

Das erwies sich deutlich genug, als August, weil er in Holz mit Glück zu arbeiten verstand, zum benachbarten Tischler in die Lehre gegeben wurde. Verdarb er nicht allzuviel, so lag er seinem Handwerk mit Trägheit ob. Der Meister machte kein Hehl daraus und schalt.

Einmal hatte August ein Sargbrett um ein Haarbreit zu kurz geschnitten, ein paar Wochen später den Leim in einer Sargecke so stark aufgetragen, daß er breiig hervorquoll; beide Male nahm August mit seiner Mutter sowie der Meister am Begräbnis teil; beide Male erfuhr die Trauergesellschaft (beim Heimgange vom Friedhof) aus behaglichen Bemerkungen des Tischlers, was der Lehrling verfehlt. Dieser fühlte sich beladen, als hätte er den Toten selbst geschändet. Die Mutter faßte ihn fester an der Hand. Daheim sagte Frau Stievkärzler:

»August, wenn ich sterbe, für mich machst du nicht den Sarg, wenn du es ihnen nicht gut genug schaffst. – Sie sollen dich nicht kränken und mich in der Erde.«

»Nein, Mutter. – Ich kann nicht in Holz arbeiten.«

»Ach, du kannst schon.«

»Aber es ist nicht unser liebes Holz.«

»August – wenn es für mich wäre?«

»Du wirst ja nicht sterben.«

»Mein Einaug.«

»Mein Zweiaug.«

Das war schon im Winter. Zu Weihnachten schenkte Frau Stievkärzler dem Sohne ein paar Kropfstiefel. Vier sorgfältig gewölbte Lederringe trennten die Schäfte von den eigentlichen Schuhen, und die Schäfte waren auf das sauberste abgesteppt, geschweift beschnitten und am Rande mit hellblauen Linien bemalt. August stellte die Stiefel auf den Heiligabendtisch und streichelte bald sie, bald die Mutter. Die Feiertage zerstörten sein Glück.

Da August in der Kirche ganz vorn unter den Konfirmanden saß und die Stimme des Pfarrers unabgeschwächt hörte, konnte er während der Andacht zwar die Gedanken an seinen stolzen Besitz unterdrücken, aber sobald das letzte Amen verklungen war, dachte er: In was für gutem Leder stecken meine Füße doch! Er bekam Selbstgefühl und wartete nicht, bis die Mutter aus dem Gedränge zu ihm stieß. Er blieb mehrmals auf der Straße stehen und musterte seine Stiefel, stampfte deutliche Spuren in den Schnee, um ihre gewichtigen Formen rückwärts zu betrachten, und die schmutzigsten Schneeklumpen nahm er mit den Fingern sorgsam von den Sohlen, wenn sie sich allzu schwer dort angedrückt hatten. Halbwüchsige Burschen lachten ihn aus, bis die Mutter zu ihm drang und ihn fortzog.

Die Freude an den neuen Stiefeln war vergällt. Frau Stievkärzler bescherte August zum Geburtstage ein Schnitzmesser, das krumm war wie ein Entenhals. August wollte es vorläufig nicht benutzen, trug es aber immer bei sich und zog höchst plötzlich mitten im Dorfe das Futteral aus der Tasche und wurde dabei wiederum beluchst. August setzte sich zu Hause hart nieder an den Tisch und spielte wie abwesend geräuschvoll mit dem Messer. Die Mutter fragte nach seinem Kummer.

»Ich bin eben der dumme August«, entgegnete er herb.

Sie stellte sich nur hinter ihn. Sie empfanden beide eine auszehrende Schwüle, die zu schweigen zwang.

Und sie blieben in diesem kümmerlichen Leben, bis die Mutter sich krank niederlegte und fühlte, daß es zum Tode war. Sie hatte den Sohn oft am Bett, wenn er aus der Arbeit kam, der trostlosen Schreinerarbeit, und weil ein Tischler einmal Särge bauen muß, wendeten sich der beiden Gedanken ohne Scheu wieder dahin. Sorge um den Sohn und Groll gegen die verbitternden Menschen spülten der Mutter noch einmal jenes Wort von der Lippe:

»Wenn ich sterbe, für mich machst du nicht den Sarg.« Auch ihr war die grobe Tischlerei ein Sinnbild der groben Welt im Gegensatz zur traulichen Hausarbeit geworden, wo weiße Späne die Seelen der kleinen Gerate umschlüpften und versteckten.

»Nein, Mutter.«

Ein langes Schweigen verlieh der Rede und Gegenrede einen bitteren Nachdruck.

»Aber wirst du sterben, Mutter?«

Sie ging darauf nicht ein.

»Man würde es wohl auch sowieso nicht von dir verlangen,« sagte sie, »aber du würdest es gern machen?«

Er nickte schwer mit seinem Wasserkopf.

»Ich mache dir lieber aus unserm Holz –«. Er brach ab, wie von Grauen gefaßt.

Er sah scheu zu ihr hin. Sie wandte den Blick in den gelben Abend und lächelte. Er schaute nun an ihr vorbei ins Ofenfeuer und lächelte auch.

 

August war völlig verlassen. Daß die Mutter abgeschieden sei, begriff er in den ersten Stunden nach dem Unglück nicht; er selbst kam sich vor wie in ein fremdes Dorf in fremdem Land entrückt. Er saß am Bett der Mutter und streichelte ihr wie im Leben die Kinnspitze. Nur wenn die Tante ab- und zuging, zuckte seine Hand vom mütterlichen Gesicht zurück, und daß sie zurückzucken mußte, füllte ihn mit Haß gegen die fremde Verwandte. Der breite Gang, die drollig verzerrte Schmerzensmiene ärgerten ihn.

»Gehst du nicht zum Tischler?« fragte die Tante.

»Nein«, antwortete er.

»Das brauchst du auch nicht«, sagte sie milde und ging hinaus.

Er dachte darüber nicht nach, sondern begann die Mutter wieder zu streicheln. Er hörte die Tante nebenan mit dem Tischler reden, und nach einer Weile traten beide zu ihm herein.

»Na, jetzt brauchst du bis zum Begräbnis nicht zu arbeiten«, sagte der Tischler, schwieg ein wenig, betete, zog dann lautlos einen Zollstock aus der Rocktasche, nahm der Frau Stievkärzler das Maß zum Sarge und entfernte sich.

»Mutter, sollst du wirklich in einen Sarg?« dachte August, »und fremde Leute sollen ihn dir machen? Bloß wir verstehen ja zu schnitzen. Das Werk ihrer fremden Hände wird dich zudecken ganz und gar, daß nichts zu sehen bleibt? Das Werk ihrer Hände wird dich mir wegnehmen? Wo ich dir selbst die Bretter sägen könnte?«

»Aber die Leut' zum Begräbnis einladen mußt du«, unterbrach die Tante seine Betrachtungen. »Donnerstag vormittag ist es.«

Wie, er sollte die fremden Leute holen, damit sie ihm die Mutter wegnähmen im Sarg aus fremdem Holz von feindlicher Hand? Er schüttelte bestimmt den Kopf.

»August,« fuhr die Tante fort, »soll ich vielleicht im Dorfe umherrennen, und der junge Lümmel sitzt zu Hause?«

August schwieg.

Als sie in der Tür war, schluchzte ihr August mit röchelnder Stimme nach:

»Muß sie denn in einen Sarg?«

»Was denn sonst?«

»Muß denn einer aufs Begräbnis kommen?«

Die Tante erwiderte: »Du bist doch wohl nicht recht gescheit. Werden wir sie denn verscharren wie einen krepierten Hund?«

»Warum müssen sie denn dabei sein?« fragte August.

»Mich möchtest du wohl am liebsten auch hier lassen und ganz allein folgen? – Laß doch uns andere gehen und bleib' du hier, dann bist du uns ja los.«

Mit diesen Worten war sie hinaus.

August blieb zurück, er überließ sich stundenlang seiner Trauer. Sie war zerreißend und doch dumpf, voll wühlender Gedanken und doch gedankenmüde. Schließlich erschien die Tante und rief ziemlich gütig:

»Essen!«

Er folgte nicht.

Sie brachte ihm die Schüssel herein, setzte sie neben ihn auf einen Stuhl und sagte beinahe bittend: »Iß!«

Da ergriff er den Löffel und führte ihn zum Munde, aber jeder Blick gehörte der Mutter. Verschüttete Suppe netzte das Bett der Toten.

Die Tante trug die leere Schüssel hinaus und kam mit einem rotbunten Bett wieder, das sie an Stelle des weißen über die Tote breitete. August sah ihr starr zu und meinte dann leise und flehend: »Warum trägst du ihr das Feiertagsbett hinaus?«

»Warum hast du es beschmutzt?«

»Sie nimmt es doch ganz gewiß nicht übel, Tante.«

»Nein, wenn sie tot ist – wie soll sie wohl.« Sie seufzte.

»Laß es doch da«, sagte er gebrochen und breitete ihr hilflos die Arme nach.

»Aber, August, sieh doch, wie es aussieht«, tröstete sie und war hinaus.

»Aber ich habe es ihr doch bezogen, Tante, ich habe es –«

Sie horchte flüchtig zurück. »Was?«

»Laß es ihr doch.«

Sie murmelte etwas von: erst trocknen.

Der Knabe senkte seinen dicken Kopf in das rotbunte Bett und verharrte in quäligem Hinbrüten, bis die Tante ihn aufstörte:

»Nun geh zu den Nachbarn.«

Er war still.

»Es ist doch Zeit.«

»Warum sollen sie mir die Mutter wegnehmen?« Dabei klang ein winselndes, tierhaftes Weinen hinter seinen geschlossenen Zähnen hervor.

»Um Gottes willen, August!« wimmerte die Tante, ihn rüttelnd.

Er sah sie heiß an.

Sie strich ihm nun nach der Weise der Mutter durch das Haar, redete viele Worte, woraus er nichts behielt, brachte ihm schließlich die Schirmmütze und die Kropfstiefel, schärfte ihm nochmals ein, was er auszurichten hätte, und schob ihn schließlich sanft zur Tür hinaus. Beim nächsten Hause drehte er um und fragte:

» Was soll ich sagen?«

Dann verschwand er richtig in der Tür eines Nachbarhauses.

Er vollbrachte den Rundgang. Als er zurückkam, war er zerbrochen von Gefühlen tiefer Demütigung. So war er denn von Tür zu Tür gewandert wie einer, der zum Betteln gezwungen wird. Wie er innerlich die rings vernommenen, nur halb gehörten und schon halb vergessenen Worte blutig untereinander rührte! Nur die eine Äußerung, daß man sich werde beeilen müssen, um vom Jahrmarkte rechtzeitig zum Begräbnis heim zu sein, hatte ihn mehr als andere gequält. Als erwiese man seiner Mutter eine Gnade, wenn man die Würfelbuden des Marktes einmal versäumte! Er aber, er hatte mit diesem Gange seine Mutter im Stich gelassen: jede Einladung war eine neue Kränkung für sie. Aus beiden Augen, dem sehenden wie dem blinden, fielen Tränen, als er wieder an den Leichnam trat.

Die Mutter war in seiner Abwesenheit gewaschen und aufgebahrt worden. Sie erschien ihm heiliger. Etwas wie Furcht zog sein Herz einen Augenblick zusammen. Das ist die Berührung mit den anderen! ging es ihm durchs Hirn. Er rührte mit drei Fingern leise an die Häkelei des Sterbekleides, kniete nieder und betete. Dann saßt er auf allen Stühlen der Stube herum, ging hin und wieder, wiegte seinen großen Kopf in schmerzlichen Gedanken und streichelte der Mutter die Kinnspitze, manchmal fast reibend.

Als er sich spät nachts niederlegte, begriff er nicht mehr, wie er die fremden Leute hatte einladen können, ihm seine Mutter wegzunehmen.

Am anderen Morgen brachte er einen Armvoll Holz vom Boden, suchte sein neues Schnitzmesser hervor, rückte einen Schemel an die Bahre und formte einen Holzlöffel. Die Tante erkundigte sich staunend nach dem Zwecke dieses Beginnens. Er müsse doch etwas tun. Aber jetzt? fragte die Tante weiter. Nun ja, es sei ihm gerade eingefallen. Sie sammelte Holz und Spähne zusammen und wollte sie hinausnehmen. Nein, sie müsse ihn lassen. – Warum nur? –

»Übermorgen ist Jahrmarkt«, presste er gewaltsam hervor.

»Du willst doch nicht etwa am Begräbnistage deiner Mutter auf den Jahrmarkt?«

Nein, daran hatte er ernstlich nicht gedacht, nur die Arbeit, die eine verschämte Vermittlerin seiner schönsten Gefühle gewesen war, noch einmal an der Seite der ihm Entrissenen verrichten wollen, doch hatte ihm der Markt unbestimmt vorgeschwebt die ganze schlaflose Nacht hindurch, so daß er sich seiner zur Ausflucht bediente. Allein die Frage der Tante erschien ihm als rohe und unverantwortliche Vergewaltigung seines Innern, und wie eine Abwehr der ganzen Welt, deren Betastung er sich nicht entringen konnte, entfuhr ihm die Antwort:

»Jawohl, ich werde hin!«

»Pfui! – so etwas nur zu reden«, warf ihm die Tante von der Seite ins Gesicht und sammelte den Rest des Holzes heftig ein.

August stieß ihr die Bürde aus dem Arm und stand breitbeinig, mit gefalteten Händen und fratzenschneidendem Munde vor ihr.

Sie rief verhalten: »Warte!« und schlug die Tür zu. Sie fürchtete sich aber.

Er schichtete das Holz auf den Schemel und schob den Riegel der Tür ins Schloss. Als die Tante aufmachen wollte, verhielt er sich still. Er tat die Zeit über nichts, sondern lauschte, ängstete sich und trieb in beklemmendem Zwange eine traurige Herde stumpfer Blicke über das Gesicht der Mutter. Auch einem zweiten Rütteln an der Tür öffnete er nicht. Gegen Abend vernahm er nochmals Schritte, und wie er an den Stimmen erkannte, stand nun die Tante mit dem Tischler draußen. Sie probierten den Drücker, August stürzte an die Bahre der Mutter und schrie laut vor Zorn. Die beiden im Flur flüsterten und brummten, bevor sie sich entfernten. Sie wußten wohl mit dem Knaben und seinem Gemütszustande nichts zu beginnen.

August war beruhigt. Er legte sich seine Arbeit bequem auf den Schoß, nachdem er die Lampe angesteckt hatte, schnitt den halbfertigen Löffel zu Ende und bettete ihn weich auf die Brust der Mutter. Andere Klöbchen schienen ihm zu Quirlen geeignet, und beim Schlage zehn lagen fünf Stück sauber neben dem Löffel und bedeckten die Mutter bis an den Hals. Noch ein schon beinahe vollendetes Eckbrett für die Küche, das zum Einstecken von mancherlei Gerätstielen durchlöchert war, beschnipselte er hier und dort und senkte auch dieses flüchtig lächelnd der Mutter ans Herz. Da es jedoch einen ziemlichen Eindruck in das Totentuch machte, überlegte er sich, die Dinge allesamt seien zu schwer, und packte sie behutsam auf den Erdboden in die Nähe des Ofens. Nur einen kleinen Löffel nestelte er der Toten unter die Füße.

Er hoffte, ohne es sich deutlich zu Bewußtsein zu führen, die Tante werde seine Arbeit am nächsten Morgen verbrennen, ihm damit zwar einen kleinen Schmerz bereiten, jedoch auch vom Fortmühen und der unseligen Qual der Marktgedanken erlösen. Er blieb lange im Bett, ihr Zeit zu lassen. Als er aus seiner Kammer hervorkam, lag noch alles wie verlassen, das vollendete, das Material und Werkzeug, die Späne.

Die Schauer des Gedankens, daß die große Gruppe der ihm Feindlichen mit ihrem Holze zu Grabe zog und er mit dem seinen zu Markte, gewannen im Laufe des Tages eine magische Gewalt über ihn. Nahmen sie den Leib der Mutter mit, so begleitete ihn ihre Seele. So klügelte er es sich, wenn auch nicht deutlich, heraus, und erdachte sich Märchen von Leib und Seele, wie er diese Begriffe: »Leib« und »Seele« in der Schule aufgefaßt hatte.

Die folgende Nacht war noch wirrer als die jüngstvergangene. Die Träume waren schrecklich: seine Mutter, eine Riesin, würgte ihn, und er schlug sie.

Gegen Morgengrauen stand er leise auf, zog den Karren aus dem Schuppen, belud ihn, machte sich reisefertig, warf der einzigen Kuh eine neue Streu unter, lief zwischenein zur Mutter, horchte auf der schlafenden Tante Atemzüge und wußte bei allem nur halb, daß es seine Füße waren, welche die Erde traten, und seine Hände, welche die Türen aufmachten. Es war noch kaum grau draußen, so war er vorgefahren, trat nochmals schnell zur Mutter, gab ihr einen Kuß auf die Stirn und ging dann.

Er schlug in der Stadt sein Zelt auf. Die Budenbesitzer wunderten sich über den Knaben, der bedachtsam, ohne aufzuschauen, die Stangen zusammensetzte und sie an den Stellen, wo ihm die Mutter Kerben gezeigt hatte, untereinander mit Stricken befestigte. Er kam zustande und setzte sich drinnen im Zelt auf seinen Küchenstuhl. Langsam stieg das Sonnenlicht herab auf das graue Steinpflaster innerhalb seiner Leinewand. Die Quirle waren über seinem Kopfe angebracht, leuchteten mattweiß und waren wie Sterne am Weihnachtsbaum. Aber die Milchbretter hatte er hinter sich strahlenförmig vereinigt: sie waren lang und groß und wie eine Sonne, die aus dem Kalender in die Wirklichkeit gesetzt ist. August sah unter seine Jahre jung aus, wie er zwischen seinen Waren schweigend auf die Käufer wartete, schon stundenlang. Je länger sie ausblieben, desto schlimmer litt er vor Ungeduld. Und die innere Qual verharrte wie ein totes Meer.

Auf dem Tonbankbrett vor ihm standen in ausgerichteter Reihe, eins dicht neben dem andern, zehn jener steifen Pferdchen. Auf ihnen ritten begehrlich die Blicke vorbeiwandernder Knaben und Mädchen. August bemerkte es wohl. Er beugte sich schließlich mit einmal über die Schranke, faßte ein rotjäckiges, schwarzäugiges Kind im Alter von etwa vier Jahren und gab ihm ein Pferd mit der Bemerkung: das schenke ich dir. Das klang wie ein zugerauntes, verklärtes Geheimnis. Sie nahm das Pferdböckchen zögernd, stand still, sah ihn ein Weilchen an und knixte dann tief. Aus einer Entfernung von fünf Schritten, mitten auf die Straße wie gebannt, musterte sie ihn dann noch lange, während der Menschenschub an ihr vorüberdrängelte. August empfand durch das weggegebene Geschenk eine süße Beschwerung seiner Seele. Das würde die Mutter loben, und er faßte plötzlich nicht, wie sie heute nicht neben ihm stehen könnte, dicht neben ihm, hier auf dem Steinpflaster, im dunkelbraunen Rock und blauen Schal. Er ließ nach und nach Knaben und Mädchen auch die übrigen Pferde entgeltlos mitnehmen.

Lange Zeit fand er keinen Käufer. Man nahm wohl an, der Knabe sei nur zur Aufsicht zurückgelassen, derweil sich die Krämerfrau entfernt hatte, wie er ja auch unaufmerksam mit niedergeschlagenem Blicke und bisweilen bewegten Lippen dasaß und mit gefalteten Händen wie ein jugendlicher Mönch in seiner Einsiedelei.

Er bedachte, daß die Mutter leblos in der Stube ruhe und die Begräbnisleute sich versammelten.

Die Mutter erwachte mit einmal und rief ihn. Die Leute entsetzten sich. Sie achtete des nicht, sondern sah sich nur nach ihm um, und weil er nicht da war, legte sie sich wieder in den Sarg und zog selber den Deckel auf sich nieder. Man ordnete sich, als wäre nichts geschehen, und zog wirklich zum Kirchhof. – Waren die Glocken aus dem Dorf nicht zu hören? – Ihm wurde bange. Er schloß die Augen und wünschte, alles möchte doch nicht wahr sein, und öffnete die Lider, da trotteten die Menschen in ihren Mänteln wie vorher, und viele sahen zu ihm herein.

Einer forderte endlich ein Küchenbrett. Als August das Geld einsteckte, schneuzte er sich die Nase und weinte. Die Käufer sahen's und meinten, er weine, weil er nichts los werde. Ein Andrang entstand vor seinem Zelte. Man nahm ihm viel ab und legte sogar öfter einige Pfennige über den Preis hin. Er reichte verwirrt und hastig mehrfach verkehrte Dinge, schluchzte aus Beklommenheit vor der Fülle zudrängender Menschen auf und hörte schon Vermutungen über sich unter den Umstehenden tun. Er bemeisterte den Schmerz nicht mehr. Eilig! eilig! drängte es in ihm. Wäre er die Dinge los! Könnte er heim! Was brauchte er überhaupt weiter zu verkaufen! Wozu die Fordernden befriedigen! Nur schnell fort!

Gingen nicht die Glocken? – Ja, man läutete.

Er lispelte beim Verkaufen ratlos: »Jetzt bommeln sie schon!«

Was ihm sei, fragten mehrere Stimmen.

»Ich muß nach Hause«, schluchzte er rauh, die Nase schneuzend. »Sie bommeln ja schon so laut.«

»Nun ja, es ist doch Donnerstagsandacht.«

Es entstand ein Fragen durcheinander. Ein alter Mann verlangte noch einen Quirl. »Nein, nein,« wehrte er entschieden ab, »ich muß nach Hause.« Eine Frau suchte ihn rührselig zu trösten, mußte aber in ein Lachen hinausprusten.

Er begann eilig sein Zelt abzubrechen. Er wickelte das Segeltuch, die Sparren und die übriggebliebenen Waren wild durcheinander, wollte nur davonkommen. Vorher mußte er einem Polizisten lang und breit Rede stehen; das beschwichtigte ihn ein wenig. Doch dann faßte er den Handwagen am Deichselkreuz. – Er mußte noch einmal abladen, weil die Pfähle quer lagen und das Gefährt so unmöglich durch die dichtgefüllten Straßen zu steuern war, aber auf der Chaussee trabte er, daß ihm der Atem aussetzte und er einen Stichschmerz im Unterleibe bekam.

Dennoch, als er im Dorfe ankam, war von einem Begräbnis nichts mehr zu sehen, nur klatschte noch der Totengräber auf dem Kirchhof den frischen Hügel zurecht. August ging im Schritt, aus angenommenem Stolz gegen die Leute, aber es wurde ein Siebenmeilenschritt, denn er schämte sich vor allen Fenstern und schrak auf, wenn sein Wagen über einen Stein rasselte. Dann glaubte er, jemand hielte ihn an und wollte ihn prügeln; – er hätte es zugelassen, weil er es verdient glaubte.

Zu Hause war die Stube leer. Er sah Kasten und Kisten an, als wäre die Mutter dort hineingeschlossen und versunken. Ein fader Geruch kam bisweilen auf. Die beiden Stühle, auf denen der Sarg geruht hatte, standen noch mitten in der Stube. August legte sich zwischen ihnen auf die Erde und stöhnte.

Die Tante tat den Mund nicht auf, wanderte mit ihrer drolligen Trauermiene hin und schien das krampfvolle Kinn immer höher zu ziehen – bald schnappte die überstehende Oberlippe zu und schluckte es in den Mund. August hatte das Bedürfnis, sich irgendwie vor ihr zu rechtfertigen. Wie aber? Unbewußt tat er es, indem er sich abends ihr gegenüber vor die Lampe setzte und ihr sein hellbeschienenes Gesicht darbot. Er starrte unablässig, fieberhaft ins Licht, Gleich auf den Kirchhof zu gehen, brachte er nicht fertig. Er erwartete erst noch den Pfarrer, der ihm Vorhaltungen machen würde, den Lehrer, den Tischler, soviele andere, und dann würde auch die Tante zu reden beginnen, und er würde nicht einen Versuch machen, sich zu verteidigen. Und dann!

Niemand kam, nur die Mutter, ein farbiges Windgebilde, schwebte hinter ihm.

Er ging zu Bett, noch als überall im Dorf das Licht brannte.

Endlich hörte er die Tante in ihre Kammer gehen.

Kaum war die Tür ins Schloß geschnappt, so sprang er auf. Wie geistesabwesend riß er die Stiefel hinter der Spindkrone hervor, herunter, und zog sie über die Füße. Es waren die Kropfstiefel. Die anderen, die er tags an den Füßen gehabt, standen unter dem Bett. Er hatte sich gar nicht anzukleiden beabsichtigt, sondern nur das Schnitzmesser aus dem Spinde herausgreifen wollen, aber in Gedanken an das zweite Geschenk der Mutter das erste gepackt. Doch besann er sich, zog das Messer aus dem Futteral, schritt zitternd ans Fenster, hob den linken Arm, machte eine zurückgestemmte Faust und suchte nach der Pulsader. Das Messer war völlig schwarz in der sternlosen Nacht.

August stand und stand. Die Stiefel hatten ihn erweckt; sie ließen ihn sorgen, beim Gehen nicht zu poltern – eine nahe, irdische Sorge. Und das Messer rettete ihn vom Tode. Der Mutter Gaben brachten ihm lindernde Szenen des Lebens zurück, und allgemach verbreitete sich in ihm eine süße Wehmut. Er tastete sich auf Zehenspitzen bis zum Bett, setzte sich auf den Rand und spielte mit dem Futteral des Messers. Beim Erwachen am nächsten Morgen lagen Stiefel und Messer vor ihm in der Sonne – zum zweitenmal Geschenke seiner Mutter.

Viele Jahre hindurch arbeitete er nun weiter, an groben Tischen und Särgen wie am Kleinzeug, und die Weihnachtsfichte betrachtete er mit dem Gedanken, daß ihre Seele beides berge. Sein innerer Zwiespalt im Weltempfinden hat sich immer mehr zugetan, so daß er einmal wirklich den scherzhaften Versuch machte, einen Sarg und einen Löffel aus demselben Stamme zu schaffen und solchermaßen das hölzerne Grabgut der Mutter zu vereinigen.

Schließlich erzählten die Leute von einer frohen und tapferen Gewohnheit des alten Schreinermeisters August Stievkärzler: Jeder Sarg seiner Arbeit mußte ihm ein paar Abfälle für Kinderspielzeug ausliefern, und von jeder Wiege verwahrte er die Hobel- und Sägespäne, um sie ins Kopfkissen eines Totenschreines zu schütten. Mild, nah und schön wie inniges Spiel lagen Lebens Anfang und Ende vor seinen Augen.


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